# taz.de -- 100 Tage Rot-Schwarz: Der Parteienforscher: "Der Regierende regiert" | |
> Der Parteienforscher Gero Neugebauer über störrischen SPD-Nachwuchs und | |
> Ansätze von Modernität bei der CDU. | |
Bild: Hat Klaus Wowereit im SPD-internen Machtgerangel vor der Wahl 2013 bundes… | |
taz: Herr Neugebauer, Ihr Eindruck nach 100 Tagen Rot-Schwarz – wird hier | |
überhaupt regiert? | |
Gero Neugebauer: Der Regierende Bürgermeister regiert. Das demonstriert | |
sein Auftreten. Er ist derjenige, der der CDU deutlich macht, dass sie | |
keineswegs auf Augenhöhe mit der SPD steht. Und der durch die Fortführung | |
wichtiger Programme aus dem Katalog der rot-roten Senatspolitik – vor allem | |
der Haushaltskonsolidierung – zeigt, dass alles andere relativ zweitrangig | |
ist. | |
Womit wir bei Finanzsenator Nußbaum wären. | |
Nußbaum ist der heimliche Herrscher. | |
Und was ist Wowereits Rolle? | |
War er nicht auf der Berlinale zu sehen? | |
Sie wollen doch jetzt nicht die alte Geschichte vom Partymeister aufwärmen. | |
(lacht) Es ist etwas schwierig, Wowereit zu beurteilen. Das liegt daran, | |
dass er selbst noch nicht in der Lage ist, über andere Perspektiven seiner | |
Zukunft zu entscheiden. Immerhin formuliert er einen Zukunftsaspekt von | |
Berlin als einer Stadt, in der Liberalität gelebt werden soll. Vielleicht | |
muss er Führungsqualitäten beweisen, wenn etwas mehr Spannung ins | |
Verhältnis von Senat und SPD-Fraktion kommt. Die hat im Ansatz gezeigt, | |
dass sie nicht bereit ist, sich so an die Kandare nehmen zu lassen wie die | |
Vorgängerfraktion. Was auch damit zu tun hat, dass der frühere | |
Fraktionsvorsitzende Michael Müller in den Senat gegangen ist. | |
Womit noch? | |
Irgendwann wird Wowereit abtreten, da begibt man sich in Position. Um nicht | |
missverstanden zu werden: Das sind keine Personen, die sich schon jetzt als | |
Wowereits Nachfolger in Stellung bringen. Aber Leute, die deutlich machen, | |
dass sie nicht alles abnicken, was vom Senat so kommt. | |
Werden Sie doch mal konkret. | |
Den Fraktionschef Raed Saleh sehe ich in dieser Rolle. Auch die Sprecher | |
einzelner Bereiche. In der Integrationspolitik oder in der Bildungspolitik | |
haben sie eigene Vorstellungen. | |
Wo soll Wowereit hin? Dass er auf bundespolitischer Ebene Verwendung | |
findet, zeichnet sich nicht ab. | |
Wissen wir, wie die Rangelei zwischen Steinmeier, Steinbrück und Gabriel | |
ausgeht? Da könnte es auch einen lachenden Vierten geben. Das ist wie bei | |
Satellitentrümmern, die vom Himmel fallen: weiß der Teufel, wen es | |
erwischt. | |
Sprechen wir über die anderen. Zum Beispiel über die SPD-Bildungs- und | |
Wissenschaftssenatorin Sandra Scheeres. | |
Frau Scheeres verwaltet einen Bereich, in dem Entscheidungen über wichtige | |
Reformen eigentlich erledigt sind, aber keineswegs alle. Da ist zum | |
Beispiel die Auseinandersetzung um das Inklusionskonzept, den gemeinsamen | |
Unterricht behinderter und nicht behinderter Kinder. | |
Worauf wollen Sie hinaus? | |
Die zentrale Frage ist: Wird die soziale Integration der Stadt | |
vorangetrieben oder die Spaltung hingenommen? Die Inklusion ist ein | |
Beispiel dafür zu sagen: Wir müssen in dieser Stadt auch Politik für | |
Minderheiten machen. So müssen jetzt Entscheidungen in den Bereichen | |
Mietenpolitik oder Wohnungsfrage für Hartz-IV-Empfänger getroffen werden. | |
Das betrifft die Leute. | |
Trauen Sie diesem Senat eine soziale Politik zu? | |
Ohne Orientierung an sozialer Gerechtigkeit wird das nichts. Anders | |
formuliert: Es bedarf einer Politik, die den sozialen Wandel als | |
Herausforderung begreift und steuert. Im Moment kann man der Regierung ja | |
nicht mal ein Halbjahreszeugnis ausstellen. Die Senatsebene müsste sich vom | |
parteipolitischen Blickwinkel lösen. Bei der Union sehe ich das nicht, wenn | |
sie ein integrationspolitisches Konzept verficht, das den | |
Integrationsbeauftragten veranlasst zurückzutreten. | |
Was würden Sie sich von der CDU wünschen? | |
Die CDU hat einerseits das Problem, dass sie es in den großen Städten nicht | |
richtig schafft, ein modern orientiertes Bürgertum als Wähler zu gewinnen. | |
Andererseits stecken wir in einer Entwicklung, in der wir mehr Zuwanderung | |
und eine intensive Integrationspolitik brauchen. Dabei kann es nicht darum | |
gehen, über Kümmernisse von verschreckten Deutschen zu reden, wie es | |
Burkard Dregger tut. | |
Beim Justizsenator Thomas Heilmann hat man das Gefühl, der traut sich was. | |
Das sehe ich auch so. Auch Czaja steckt ein bisschen die Nase nach vorn. | |
Das sind schon zwei, die deutlich machen, da ist eine modernere CDU. | |
Und Frank Henkel? | |
Henkel ist ein Umschwung. Er ist von seiner Grundgesinnung eher | |
konservativ, aber im Habitus überhaupt nicht abgehoben. Mit dem Bild der | |
Banken-, Bosse- und Grunewald-Partei, das die CDU in den 90ern verkörperte, | |
hat er weniger zu tun, kann sie aber noch nicht ignorieren. | |
Vielleicht verstellt er sich. | |
Nein, der ist authentisch. | |
8 Mar 2012 | |
## AUTOREN | |
Plutonia Plarre | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
100 Tage Rot-Schwarz: Der Finanzsenator: Chef von Wowereits Gnaden | |
Ulrich Nußbaum wirkt im Senat oft allmächtig. In Wirklichkeit hängt er vom | |
Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit ab. | |
100 Tage Rot-Schwarz: Die Analyse: Die Planlosen | |
Seit gut drei Monaten ist die Koalition aus SPD und CDU im Amt. Die meisten | |
Senatoren fallen bisher nicht auf. Und große politische Ziele fehlen. | |
100 Tage Rot-Schwarz: Das Parlament: Dresche für die Opposition | |
In der Debatte um die ersten 100 Tage von Rot-Schwarz werden nicht die | |
beiden Regierungsparteien SPD und CDU, sondern vor allem die Grünen | |
abgewatscht. | |
100 Tage Rot-Schwarz: Das Machtgefüge: Die vierte Oppositionsfraktion | |
In der vergangenen Wahlperiode muckte die SPD-Fraktion selten gegen die | |
Überfigur Wowereit auf. Unter dem neuen Vorsitzenden Raed Saleh hat sie es | |
binnen Wochen gleich dreimal getan | |
100 Tage Rot-Schwarz: Thomas Heilmann: Der Anti-Jurist | |
Der CDU-Mann und Senator für Justiz und Verbraucherschutz arbeitet so, als | |
ob er nie Jura studiert hätte: ausprobieren, die Praxis entscheiden lassen. | |
Das kommt bislang auch bei der Opposition gut an | |
100 Tage Rot-Schwarz: Dilek Kolat: Die Distanzierte | |
Berlins erste Senatorin mit Migrationshintergrund ist waschechte SPD-Frau - | |
tut sich jedoch schwer mit Integrationspolitik. |