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# taz.de -- Theaterbesetzung in Italien: Alle haben eine Stimme
> Seit Juni 2011 wird das Teatro Valle in Rom von Künstlern besetzt –
> geduldet von der Stadtverwaltung. Die Künstler versuchen sich nun am
> Aufbau einer Stiftung.
Bild: Besetzerversammlung im Teatro Valle.
Posaunen haben der Legende nach die Mauern von Jericho zum Einsturz
gebracht. Rom wird an diesem Wochenende durch Cellos erschüttert. Über 100
Cellisten mit ihren Instrumenten hat der Musiker und Komponist Giovanni
Sollima aufgerufen, ab Freitagnachmittag 72 Stunden nonstop die Stadt und
vor allem das besetzte Teatro Valle zu bespielen.
Die Mammutaktion ist bisheriger Höhepunkt in dem fortlaufenden Experiment
der Theaterbesetzer, Kunstproduktion und den Kampf für das Gemeineigentum
und Gemeinwohl miteinander zu verbinden.
„Es ist so viel passiert in der Zwischenzeit“, staunt selbst Maddalena
Parise. Die Regisseurin und Kunstwissenschaftlerin gehörte zu dem Kreis
jener Aktivisten, die im Juni letzten Jahres kurzerhand den fast 400 Jahre
alten Theaterbau besetzten, weil der von der römischen Stadtverwaltung
zunächst geschlossen und dann an einen Privatinvestor aus dem Showgeschäft
vergeben werden sollte. Dieses Szenario ist abgewendet.
„Wir haben das Theater für die Künstler und für das Publikum offen
gehalten“, sagt Maddalena stolz. In den letzten sechs Monaten war sie wegen
wissenschaftlicher Arbeiten aber in Paris. Bei ihrer Rückkehr an den Tiber
ist sie überrascht, wie stabil und wie professionell das zu 100 Prozent
ehrenamtliche Management läuft.
„Wir sind jetzt dabei, eine Stiftung zu gründen, um auch den rechtlichen
Rahmen für den Betrieb des Theaters zu haben“, sprudelt es aus Laura
Pizzirani heraus. Sie ist von Beginn an dabei und hat ihren Schauspielerjob
für die „gewerkschaftliche Koordinierungsarbeit im Theater“, wie sie selber
sagt, an den Nagel gehängt.
## Befugte Anteilseigner
250.000 Euro Stiftungskapital müssen bis Oktober gesammelt werden.
Mindesteinlage sind 10 Euro. 70.000 Euro von 1.790 Personen sind bisher
zusammengekommen. Das Stiftungsmodell wäre ein Novum im italienischen
Kulturbetrieb. In dem ist es üblich, Intendantenpositionen wie Lehen zu
betrachten.
Im Valle soll aber das Kollektiv der Anteilseigner über die Grundprinzipien
der Arbeit mitentscheiden. Jede reale wie juristische Person verfügt dabei
– ungeachtet des eingebrachten Kapitals – über je eine Stimme. Das ist ein
Versuch direkter Demokratie in der Kunst.
In der vorläufigen Satzung wird der Hintergrund dieser Idee deutlich. „Wir
wollen Protagonisten eines Prozesses sein, der sich der Transformation des
Gemeinguts in bloße bürokratische Akte widersetzt. Das Gemeingut ist nichts
Statisches. Es manifestiert sich über das gemeinsame Handeln und ist Frucht
sozialer Beziehungen und unerschöpfliche Quelle von Neuerung und
Kreativität“, heißt es in der Präambel.
## Aus der kommerziellen Verwertung heraus
Daraus wird die Forderung abgeleitet, „das Gemeingut, beginnend beim Teatro
Valle, aus der kommerziellen Verwertung herauszunehmen“. Das klingt prima.
Und die Besetzer des Valle tun etwas, damit dieses Ziel Realität wird.
Jeden Abend treten Künstler auf. Tagsüber werden Workshops abgehalten. Und
immer wird um die Zukunft des Theaters gerungen.
„Wir sind ein Kernteam von 30 Leuten, das die Besetzung auch über Nacht
aufrecht erhält. Ungefähr 100 Personen unterstützen uns“, erzählt Laura.
Für die meisten bedeutet dies, zwei Berufe auszuüben, einen Brotjob und die
Arbeit im Valle. Dabei ergeben sich paradoxe Konstellationen. Mauro etwa,
12 Jahre lang Techniker im Valle, wurde von der Stadtverwaltung nach der
Besetzung des Theaters in ein Museum versetzt. Nach seiner Arbeit dort, und
manchmal auch in den Pausen, begibt er sich in sein altes Theater und sorgt
dafür, dass technisch alles klappt.
## Blitzinterventionen mit Cello
Die 100 Cellisten des Giovanni Sollima passen perfekt in dieses Szenario
der kollektiven Arbeit am gemeinsamen Gut. „Es geht uns auch darum,
Musiker, die gewöhnlich sehr isoliert arbeiten, zusammenzubringen. Wir
veranstalten Workshops, in denen wir uns über Techniken austauschen. Wir
richten eine Cello-Werkstatt ein, in der kleinere Reparaturen vorgenommen
werden können. Und wir wollen Forderungen artikulieren, die alle Cellisten
betreffen“, erklärt der Komponist Enrico Melozzi, der für das Valle die
Organisation des Events übernommen hat.
Die 100 Cellisten werden etwa Werke von maximal einer Minute Länge spielen,
die extra komponiert wurden. Sie besetzen in Blitz-Interventionen zentrale
Orte wie Campo dei Fiori und Engelsburg. Aufgerufen ist auch zu einem
kollektiven Episodenfilm.
## Besondere Delikatesse
Und als besondere Delikatesse hat sich der Teufelscellist Sollima, der von
Punk über John Cage und Sciarrino bis hin zur Klassik alles spielt und
allem sein spezielles Gepräge verleiht, den gemeinsamen Bau eines
Biolincello, eines Cellos aus Obst und Gemüse frisch vom Markt, einfallen
lassen.
Die Stadtverwaltung lässt die Besetzer vorerst agieren. „Denen ist es nicht
unlieb, dass wir das Theater offen halten und sie dafür kein Geld ausgeben
müssen“, meint Laura. Ob dies ein gutes Modell ist, nämlich der Beginn der
Wiederaneignung öffentlichen Gutes, oder nur eine spezielle Form von
Kulturprekariat, wird die Zukunft zeigen.
15 Mar 2012
## AUTOREN
Tom Mustroph
## TAGS
Albanien
Theater
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