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# taz.de -- Piratenfraktion in Berlin: Öffentlich bis in die Küche
> Die Piraten setzen auf Transparenz. Auch Konflikte werden öffentlich
> ausgetragen. Perfekt sind die Newcomer dabei nicht - trotzdem sollten
> sich andere Parteien ein Vorbild nehmen.
Bild: Auch Konflikte werden bei den Piraten gern öffentlich ausgetragen: Der e…
Die Küche sieht noch nicht aus wie eine Küche. Eher wie ein
durchschnittlicher Konferenzraum – lange Tischreihe, Sitzecke, zwei
Schränke, dunkler Teppich mit kleinen Karos. Selbst das Licht ist hier,
ganz hinten im vierten Stock des Abgeordnetenhauses, ein Provisorium.
Martin Delius, Parlamentarischer Geschäftsführer der Piraten probiert alle
Schalter durch und bekommt nur eine einsame Deckenlampe zum Leuchten.
„Macht nichts“, sagt er und zeigt auf die rechte Seite des Raums: „Da kom…
die Küche hin.“
Montagabend im Abgeordnetenhaus. Während auf den meisten Fluren die
Mitarbeiter ihre Büros abschließen, sammelt sich in Raum 4.39 eine Handvoll
Piraten. Hochkarätig, wenn es nach den Posten geht, denn hier trifft sich
der Fraktionsvorstand. Einmal die Woche, es kommen alle, die Zeit haben,
kein Zwang. Heute sind vier von fünf Vorstandsmitgliedern dabei, dazu ein
paar Gäste. Das Treffen ist offen für Besucher, auch für solche, die kein
Parteimitglied sind: Jeder kann vorbeikommen, auf einem der Stühle Platz
nehmen und zuhören. Dazu passt der Name: „Vorstandsküchentisch“ nennen sie
das Treffen – weil es mehr von einer informellen Runde haben soll als von
einer Konferenz. Fehlt eben nur noch die Küche.
Der Vorstandsküchentisch ist ein guter Ort, um zu erfahren, was die Piraten
eigentlich anders machen als die anderen Parteien. Denn während bei denen
die Türen immer dann verschlossen werden, wenn es interessant wird, wollen
die Piraten transparent arbeiten. Das hatten sie sich schon im Wahlprogramm
verordnet: Das gesamte zweite Kapitel widmeten sie der Transparenz, vom
freien Zugang zu Verwaltungsakten bis hin zu Open-Source-Software. Für sie
selbst heißt das: Die Türen sollen offen sein. Auch wenn es interessant und
damit die Offenheit möglicherweise unbequem wird.
Fabio Reinhardt stellt eine kleine Schatztruhe auf den Tisch. Sie ist mit
Süßigkeiten gefüllt, ein Geschenk einer Grünen-Abgeordneten, und Reinhardt
witzelt nun, dass er den Inhalt aus Gründen von Transparenz und
Vorteilsnahme und so nicht in seinem Büro essen könne und deshalb unter die
Anwesenden bringen müsse. Typisch: Das Transparenz-Thema haben die Piraten
immer im Hinterkopf, ob es nun um etwas geht oder nicht.
Die Stimmung am Tisch ist locker, man versteht sich. Im Unterschied zu der
ebenfalls öffentlichen Fraktionssitzung, auf der die 15 unterschiedlichen
Persönlichkeiten der Fraktion aufeinanderprallen und der Ton regelmäßig rau
wird, sitzen hier nur Leute, die auch privat gern miteinander Kaffee
trinken gehen. Gerade deshalb lässt die Sitzung tief blicken: Man
diskutiert nicht nur über eine Pressekonferenz, sondern damit verbunden
über grundsätzliche Fragen: Wie werden die Piraten in der Öffentlichkeit
wahrgenommen? Wäre es peinlich, sich zu groß zu inszenieren? Und was wäre
zu groß?
Solche Fragen würden andere im stillen Kämmerlein diskutieren. Denn hier
geht es um das Herz einer Partei. Um die Frage, wie man sich in der
Öffentlichkeit präsentiert. Um Unsicherheiten und Selbstzweifel. Und
letzten Endes um Konflikte.
Konflikte sind der Punkt, an dem sich die Türen zuerst schließen. Zum
Beispiel bei den Grünen: Obwohl die Fraktionsspitze betont, dass die
Fraktionssitzungen natürlich öffentlich seien, sind sie genauso natürlich
nicht öffentlich, sobald der linke Flügel unzufrieden mit dem Vorstand ist,
beispielsweise. Sobald strittige Fragen diskutiert werden, es um spannende
Kandidaturen geht. Man müsse auch mal unter sich reden können, heißt es
dazu bei den Grünen. Solche Fälle als Ausnahme zu bewerten und zu betonen,
dass man grundsätzlich öffentlich tage, ist dabei genau das Gegenteil von
Öffentlichkeit: Wer vom interessierten Bürger verlangt, vor jeder Sitzung
anzurufen, wenn er nicht vor verschlossenen Türen stehen will, hat das
Prinzip nicht verstanden. Und muss hinterher nicht beklagen, dass sich
niemand für Politik interessiere.
Auch in den Reihen der Piratenfraktion gab es zu Anfang der
Legislaturperiode Stimmen, die einen „geschützten Bereich“ forderten. Man
brauche „einfach mal den Raum, um relativ offen miteinander sprechen zu
können“, sagte etwa Christopher Lauer damals. Doch spätestens die sehr
schnell und sehr heftig eintreffenden Erinnerungen von Basis und Wählern,
sich doch bitte an die Wahlversprechen zu halten, zwangen die junge
Fraktion zur Umkehr. Und nachdem sich der Wind der ersten Sitzungen gelegt
hatte, in denen weit mehr Gäste als Abgeordnete im Raum waren, bekamen die
Besprechungen langsam ein Anflug von Arbeitsatmosphäre.
Dabei wirkt die Öffentlichkeit von Konflikten nicht nur nach innen, sondern
auch nach außen: Das gilt zum Beispiel im Hinblick auf die Presse.
Journalisten sind die ersten, die auf innerparteiliche Konflikte lauern,
auf Fehler, um sie zum Skandal hochzuschreiben. Das liegt mit daran, dass
Konflikte bei allen anderen Parteien hinter verschlossenen Türen verhandelt
werden: Wenn dann doch mal eine Meinungsverschiedenheit bekannt wird, muss
diese schon sehr profund sein. Aber das ist nicht alles. Denn dahinter
steckt die Frage, wie viel Konflikt der Wähler aushält. Ist es für ihn ein
Zeichen von Reife und einem gesunden Demokratieverständnis, wenn eine
Partei sich uneins ist? Oder von Zerstrittenheit und Ziellosigkeit?
## Was soll’s, ist doch normal
Die Entwicklung seit dem Einzug der Piraten ins Abgeordnetenhaus zeigt: Es
geht auch mit Konflikten – die übrigens bei den Piraten traditionell hart
und sehr schnell auf persönlicher Ebene ausgetragen werden. Die Zeiten sind
vorbei, da die Entscheidung, dass ein Parteimitglied die Kosten für eine
Reise mit einigen Mitgliedern der Fraktion nicht erstattet bekommt, zum
Beinaheskandal wurde. Zwei Piraten sind unterschiedlicher Meinung, was die
Diäten angeht? Eine außerordentlichen Fraktionssitzung? Die Frage der
Unterkunft für das Klausurwochenende? Was soll’s, ist doch normal.
Diese Gewöhnung an Konfliktsituationen, die die Piraten hier vorgemacht
haben, sollte anderen Parteien Hoffnung geben. Denn der Konflikt als
Skandal ist nicht in Stein gemeißelt. Vielmehr sollte es ähnlich sein wie –
beispielsweise – bei der Veröffentlichung vormals streng geheim gehaltener
Verträge. Während der Geheimhaltung wird jeder Absatz, der nach außen
dringt, begierig aufgenommen. Ist erst einmal alles öffentlich, gehen die
weniger wichtigen Informationen unter, die wichtigen bleiben oben. Der
Demokratie kann das nur guttun: Wenn auf Entscheidungen nicht mehr der
Konsensdruck lastet, können Debatten offener geführt werden. In einer
Partei, in einer Fraktion, in einem Parlament, in der Regierung. Manchmal
entsteht Öffentlichkeit so unverhofft, dass klar wird: Hier muss jemand am
Werk gewesen sein, der das Prinzip verinnerlicht hat. Keiner, der eine
Liste abhakt von Protokollen, die veröffentlicht werden, und Sitzungen, die
per Videostream ins Netz übertragen werden müssen. Etwa im Hauptausschuss
des Abgeordnetenhauses. Eigentlich eine stundenlange Veranstaltung, bei der
sich irgendwo zwischen endlosen Debatten über Themen, die nur Aktenfresser
verstehen, ein paar Perlen verbergen. Doch die drei anwesenden Piraten
schaffen es, teils mit beißender Ironie, auch dem Rest etwas abzugewinnen.
Natürlich ist Öffentlichkeit nicht immer hochpolitisch. Und es funktioniert
auch nicht alles perfekt. „Wir haben noch Verbesserungsbedarf in der
Übersichtlichkeit, die Sachen darzustellen“, sagt der Fraktionsvorsitzende
Andreas Baum. Er ist ein bisschen zu spät in die Sitzung geschlurft, Kappe
auf dem Kopf, Notebook in der Hand. Auch bei der Zusammenarbeit mit anderen
Fraktionen hakt es noch. Zum Beispiel bei der Veröffentlichung der
Nebeneinkünfte – einem Klassiker der Transparenz. Eigentlich wollte man
sich fraktionsübergreifend einigen, doch die Piraten preschten vor und
handelten sich böse Kommentare ein. Ein weiteres Manko: In den Protokollen
der Fraktionssitzung fehlen mitunter Passagen: „Geschlossener Teil“ heißt
es dann. Die Fraktion begründet das damit, dass beispielsweise Bewerbungen
aus Datenschutzgründen nicht öffentlich debattiert werden könnten. Ob es
dann auch wirklich darum geht? Darauf muss der Wähler vertrauen. Und
gegebenenfalls darauf dringen, dass es beim Einzelfall bleibt.
## Was ist noch relevant?
Wenn aber alles öffentlich wird, was ist dann noch relevant? So einfach
lässt sich das nicht beantworten. Wenn Gerwald Claus-Brunner, der Pirat mit
dem Palästinenser-Kopftuch, twittert „Baumarktschleichwerbung im
Hauptausschuß von Herrn Pfeiler … :D“, ist der direkte Informationswert f�…
den Leser gering. Aber aus der Summe der kleinen Anekdoten über Kollegen,
die sich in Ausschüssen danebenbenehmen, oder der genervten Kommentare in
nicht enden wollenden Diskussionen, entsteht Öffentlichkeit auf eine
bislang nicht da gewesene Art. Deshalb muss sich noch lange nichts ändern.
Aber es eröffnet die Möglichkeit.
„Ich glaube, wir werden von den anderen schon genau beobachtet“, sagt
Andreas Baum. Aber es sollte nicht beim Beobachten bleiben. Zwar müssen die
Piraten noch viel lernen, um sich im politischen Betrieb behaupten zu
können. Doch gerade beim Umgang mit Öffentlichkeit könnten die anderen
Parteien dazulernen. Sie wären gut beraten, sich dem nicht zu verschließen.
20 Mar 2012
## AUTOREN
Svenja Bergt
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