# taz.de -- Ausstellung in Potsdam: Schluss mit der Randexistenz | |
> 2012 jährt sich zum 200. Mal die Berliner Unterzeichnung des sogenannten | |
> Judenedikts durch Friedrich Wilhelm III. Damit wurden Juden zu | |
> "preußischen Staatsbürgern". | |
Bild: Die Emanzipation der Juden in Preußen zeigt die Potsdamer Ausstellung. | |
Wie sähe wohl eine Ausstellung in Washington oder London aus über die | |
amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776, das Kommunistische | |
Manifest aus dem Jahr 1848 oder die UN-Menschenrechtscharta? Müssten die | |
Besucher die textlastigen Niederschriften im hintersten Museumswinkel | |
suchen und gar mit Kopien dieser die Welt bewegenden Dokumente | |
vorliebnehmen? Wohl kaum. | |
Es ist fast schon Ironie, dass eines der wichtigsten Ereignisse auf dem Weg | |
zu einem demokratischen deutschen Rechtsstaat heute eine Leerstelle in | |
unserer Gedenkkultur bildet. Und als wollte man die Unbekannte noch | |
steigern, müssen die Besucher im Haus der Brandenburgisch-Preußischen | |
Geschichte (HBPG) über Leitern bis hinauf in den Dachstuhl des Kutschstalls | |
in Potsdam klettern, um das „Emanzipationsedikt“ in der Schau „Das Jahr | |
1812. Ein Meilenstein auf dem Weg zur Gleichstellung der Juden in Preußen“ | |
aufzustöbern. | |
Die Schau im Versteck ist vielleicht der einzige Vorwurf, den man der | |
Präsentation machen kann. Denn die Ausstellung über das sogenannte | |
Judenedikt von 1812 holt ein Datum samt Dokument von historischer Bedeutung | |
in die Erinnerung, dessen Rolle durch den Schatten der Pogrome und des | |
Holocaust verschüttet wurde: 2012 jährt sich zum 200. Mal die Berliner | |
Unterzeichnung von Friedrich Wilhelm III. Der königliche Erlass „Das Edikt | |
betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in den Preußischen | |
Staate“ samt 39 Paragrafen erhob 1812 die Juden in Berlin und Brandenburg | |
zu „Einländern“ und „Preußischen Staatsbürgern“. Damit endete formal… | |
Randexistenz in Preußen. | |
Auf großen Bild- und Texttafeln zeichnet die Ausstellung den | |
Emanzipationsprozess der Juden nach. Waren diese seit den Zeiten des Großen | |
Kurfürsten ab 1671 in Brandenburg zwar geduldete, mit prekären | |
„Schutzbriefen“ oder Generalprivilegien ausgestattete Mitbürger zweiter | |
Klasse, „machte das neue Gesetz sie zu Gleichberechtigten“, wie die | |
Kuratorin Irene Diekmann im Katalog herausstreicht. | |
## Grenzen bei der Verteilung exklusiver Berufe | |
Ab dem 11. März 1812 galten für die Juden in Preußen die gleichen Rechte | |
und Pflichten wie für ihre christlichen Nachbarn: Sie waren Staatsbürger, | |
Niederlassungsrechte wurden ihnen ebenso wie die Handels- und | |
Gewerbefreiheit gewährt, sie erhielten in großen Schnörkeln gemalte | |
Reisepässe, konnten ohne Zustimmung der Behörden heiraten, wurden zu den | |
Bildungseinrichtungen zugelassen, alle Sondersteuern fielen weg. | |
Allerdings, so Diekmann weiter, gab es auch Grenzen bei exklusiven Jobs: | |
Richter oder Offiziere durften Juden damals nicht werden. „Das Edikt war | |
ein Kompromiss.“ | |
„Für die Unterthanen“ bedeutete das Reformgesetz „Beförderung von deren | |
Wohl und Glückseligkeit“, wie Karl August von Hardenberg, damals | |
Staatskanzler in Berlin, betonte. Im Unterschied dazu empfanden viele | |
Mitglieder der jüdischen Gemeinde das neue Recht zwar als Emanzipations-, | |
aber auch Gnadenakt, der mühsam dem preußischen Adel abgetrotzt werden | |
musste. | |
Denn Preußen spielte keineswegs eine Vorreiterrolle beim „Judenedikt“. Nach | |
der Französischen Revolution waren in Frankreich und in vielen deutschen | |
Kleinstaaten ab 1791 die Juden gleichgestellt. Für die preußischen Reformer | |
Freiherr vom Stein und von Hardenberg war die bürgerliche Gleichstellung | |
der Juden eine späte, aber zugleich rationale Entscheidung, die für den | |
Aufbau des neuen Staates unabdingbar schien. Nach den Kriegen gegen | |
Napoleon benötigte das sozial und ökonomisch ausgeblutete Preußen den | |
wirtschaftlichen und intellektuellen Input der jüdischen Mitbürger. Die | |
Händler, ihre Manufakturen, Dienstleistungen und Finanzen waren zwischen | |
Berlin und Breslau von hohem Wert, Toleranz bedeutete darum Staatsraison. | |
Die Ausstellung mit den Exponaten königlicher Erlasse und Briefe kreuzen | |
die Kuratoren mit der exemplarischen Geschichte der jüdischen Familie | |
Lewin/Lesser. Damit stellen sie das Edikt gewissermaßen vom Kopf auf die | |
Beine. Dies ist ein kluger Schachzug, bedeutete doch das Edikt noch lange | |
nicht, dass ab 1812 Willkür, Ressentiments und Antisemitismus aus dem | |
jüdischen Leben verschwanden. Zwar profitierten die Nachfahren des ab 1691 | |
im märkischen Rathenow ansässigen Friseurs Lewin (einer von acht | |
„Schutzjuden“) vom Emanzipationserlass. Jakob Lesser siedelte nach 1812 | |
nach Berlin über und avancierte zu einem angesehenen Bürger, Banker sowie | |
Gründer der jüdischen Reformgemeinde. Stolz posiert Lesser in der Schau für | |
ein Porträt (1869) von Oskar Begas. Daneben hängen der Staatsbürgerbrief | |
vom 1. Dezember 1812 und ein Reisepass für die Familie Lesser. Man war frei | |
und gleich. Zu den weiteren Protagonisten der jüdischen Familie zählten | |
auch Journalisten und Buchhändler, die sich im Reich aber beständig um | |
Anerkennung bemühen mussten. Ludwig Lesser (1869–1957) schließlich war | |
einer der bekanntesten Gartenarchitekten Berlins. Er plante Volksparks und | |
Gartenstädte in Staaken, Frohnau und in Bad Saarow. 1935 machte das | |
„Reichsbürgergesetz“ der Nazis die Juden nach 123 Jahren wieder rechtlos. | |
1939 floh die Familie Lesser ins schwedische Exil, wo Ludwig 1955 starb. | |
Mit dem Lebensweg der Lessers deutet die Schau an, wie fragil das Edikt in | |
der Realität von 1812 und danach war. Dem progressiven Erlass stand der | |
alltägliche Antisemitismus gegenüber. Der Historiker Tobias Schenk hat auf | |
einer parallel zur Ausstellungseröffnung stattfinden Tagung die Folgen von | |
1812 erörtert und an die lange Kette der Diskriminierung der Juden bis zum | |
totalen „Zivilisationsbruch“ 1933 erinnert. Deren Fremdsein in Preußen | |
konnte das Stück Papier niemals gänzlich überwinden. | |
Als 1912 im Kaiserreich die deutschen Mitbürger mosaischen Glaubens den | |
100. Jahrestag des Emanzipationsedikts feierten, beklagten die jüdischen | |
Zeitungen die Tragweite des alltäglichen Rassismus und Judenhasses. | |
Zugleich hofften sie, bis zum 200. Jubiläum im Jahr 2012 „die volle | |
gesellschaftliche Anerkennung“ zu erlangen. Dieser Anspruch besteht noch | |
immer. | |
23 Mar 2012 | |
## AUTOREN | |
Rolf Lautenschläger | |
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