# taz.de -- Debatte Sozialsystem: Abschied von Bismarck | |
> Das deutsche Sozialsystem gleicht einem Flickenteppich. Ökonomisch und | |
> sozial vernünftig wäre aber eine Kasse für alles und alle. | |
Bild: Bismarck sollte nichts mehr zu sagen haben. | |
Wer blickt da eigentlich noch durch? Selbstständig Beschäftigte sollen nach | |
den Plänen von Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen zur | |
„obligatorischen Altersvorsorge“ verpflichtet werden. Hinzu kommen Beiträge | |
zu einer verpflichtenden Erwerbsminderungsrente. Die FDP will noch eine | |
private Pflegepflichtzusatzversicherung einführen, obwohl es eine | |
gesetzliche schon seit 1994 gibt. | |
Selbstständige können bereits heute privat in die Rürup-Rente einzahlen und | |
abhängig Beschäftigte in die Riester-Rente. Für freiberufliche Künstler und | |
Journalisten ist gesetzlich die Künstlersozialkasse zuständig. Zur | |
Absicherung von Arbeitsunfällen kommt noch die Berufsgenossenschaft hinzu. | |
Eine Arbeitslosenversicherung für Selbstständige kann unter bestimmten | |
Bedingungen auch freiwillig abgeschlossen werden. | |
Noch verwirrender wird es, wenn jemand einem Teilzeitjob nachgeht und | |
nebenbei freiberuflich als Künstler Geld verdient. Dann muss geprüft | |
werden, was die Haupt- und was die Nebentätigkeit ist. Während die eine | |
voll beitragspflichtig ist, müssen für die zweite nur Rentenbeiträge | |
gezahlt werden. Beim Finanzamt wird am Ende aber beides voll versteuert. | |
Es gibt Versicherungsleistungen und steuerfinanzierte Leistungen, | |
Pflichtbestimmungen und Kann-Regelungen im Sozialrecht. Wer von der Agentur | |
für Arbeit kein Geld erhält, muss sich ans Jobcenter wenden. Liegt die | |
Rente unter dem Existenzminimum, wird zusätzliche Hilfe durch die | |
Grundsicherung im Alter fällig. Die Behandlung des Arztes zahlt die | |
Krankenversicherung und die Pflege zu Hause die Pflegeversicherung, obwohl | |
beide unter einem Dach verwaltet werden. | |
## Konkurs anmelden | |
Spätestens wenn der Patient stationär in einem Heim gepflegt werden muss, | |
kann man das gesamte System aber ohnehin knicken. Dann muss aus der eigenen | |
Tasche gezahlt werden. Wenn dies immer noch nicht reicht, müssen die Kinder | |
der pflegebedürftigen Eltern mehrere tausend Euro monatlich zusätzlich | |
berappen und am besten Konkurs anmelden. Für die viel beschworene | |
Eigenverantwortung und private Vorsorge bleibt dann nichts über. | |
Wer wann in welche Versicherung wie viel einzahlen muss und welche | |
Leistungen ihm unter welchen Bedingungen von welcher Institution zustehen, | |
ist kaum noch durchschaubar. Selbst Beratungsstellen sind überfordert und | |
die Sozialgerichte mit der Auslegung der spitzfindigen Kriterien, vor allem | |
bei Hartz IV, überlastet. Welcher Bürger verfügt schon über eine | |
vollständige und aktuelle Checkliste? | |
Das System erstickt an seiner politisch geschaffenen Komplexität. Es führt | |
zu bizarren Auswüchsen: Die Krankenversicherungen zum Beispiel | |
erwirtschaften 20 Milliarden Euro Überschuss, aber die Rente reicht für | |
immer mehr Senioren kaum noch zum Leben aus oder es werden Beitragssätze | |
gesenkt und zugleich private Zusatzversicherungen vom Steuerzahler | |
subventioniert. | |
## Erbe der Bismarck-Reformen | |
Das System der lohnabhängigen Spartenversicherungen hat Reichskanzler Otto | |
von Bismarck 1883 initiiert, um das Proletariat mit Minimalabsicherungen | |
vom Aufstand abzuhalten. Was damals ein sozialreformerischer Meilenstein | |
war, erweist sich heute als protestantische Kleinkrämerei. | |
Für jedes soziale Detailrisiko wurde nach und nach ein eigenes | |
Versicherungsmonster geschaffen. Die zwölf Sozialgesetzbücher umfassen | |
inzwischen rund 1.500 Seiten mit endlos verketteten Paragrafen. In denen | |
werden unter anderem die Voraussetzungen für die Zuständigkeit des einen | |
Kostenträgers mit der Nichtzuständigkeit des anderen verknüpft; es wird | |
definiert, welcher Anteil des Einkommens beitragspflichtig ist und welcher | |
nicht, was selbstständige und was unselbstständige Arbeit sein soll. Wozu | |
dieser unnütze Aufwand? | |
Er entspricht einem veralteten Standesdenken, einer Zeit, in der zwischen | |
Arbeitern und Angestellten, Selbstständigen und abhängig Beschäftigten noch | |
klar unterschieden werden konnte, in der Berufsbiografien planbar und die | |
Rente kalkulierbar erschienen. Da dem längst nicht mehr so ist, die | |
Übergänge fließend und die Arbeitsformen flexibel geworden sind, fallen | |
immer mehr Menschen bis weit in die Mittelschicht hinein durch die Löcher | |
des sozialen Flickenteppichs hindurch. | |
Eine Reform folgt der anderen, abwechselnd mit Beitragsentlastungen und | |
neuen Zusatzversicherungen. Rechte Tasche – linke Tasche. Aus | |
volkswirtschaftlicher Sicht werden sämtliche Sozialausgaben ohnehin aus der | |
Masse des gesamten Bruttoinlandsproduktes finanziert. Ihr Anteil, die | |
Sozialleistungsquote, hat sich trotz endloser Reformen seit 1975 kaum | |
verändert und pendelt seitdem eng um die 30-Prozent-Marke. | |
Was spricht dagegen, das gesamte Paket zu einer Sozialversicherung für alle | |
Bürger zusammenzufassen? Je- der, der Geld verdient, zahlt entsprechend | |
seiner Einkünfte Beiträge ein, gleich, ob es sich um Arbeitslöhne, | |
Mieteinnahmen oder Börsengewinne handelt. | |
## Gewollter Privatvorsorge-Wahn | |
Das ohnehin schon durchlöcherte paritätische System aus Arbeitgeber- und | |
Arbeitnehmeranteilen wäre durch eine Wertschöpfungsabgabe für alle | |
Unternehmen zu ersetzen. Denn durch die bisherige Koppelung der Beiträge an | |
die relativ niedrigen Löhne der abhängig Beschäftigten werden die | |
steigenden Gewinne nicht erfasst. Bosse, die durch Entlassungen Löhne | |
einsparen und somit Versicherungskosten verursachen, werden noch zusätzlich | |
durch den Wegfall der Beiträge für die Entlassenen belohnt. Hier zeigt sich | |
der Nonsens des alten Bismarck’schen Systems. | |
Eine Sozialversicherung für alle Bürger und alle Risiken, die ein | |
Mindesteinkommen über den Hartz-IV-Sätzen sichert, hieße Abschied zu nehmen | |
vom typisch deutschen Standes- und Neiddenken. Aber in einem Land, in dem | |
ein politisch gesteuerter Privatvorsorgewahn herrscht, der trügerische | |
Glaube, jeder müsse am besten für sich selber sorgen, ist das wohl noch ein | |
weiter Weg. Ihn trotzdem zu gehen, ist eine Frage der wirtschaftlichen und | |
sozialen Vernunft. | |
2 Apr 2012 | |
## AUTOREN | |
Rainer Kreuzer | |
## TAGS | |
Politisches Buch | |
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