# taz.de -- Gräbersuche in Halifax: Hotspot der "Titanic"-Touristen | |
> Am 14. April 1912 ging der Ozeanriese unter. Und mit ihm ein Abziehbild | |
> der damaligen Klassengesellschaft. Im kanadischen Halifax sind viele | |
> Opfer begraben. | |
Bild: Grabstein für das unbekannte Kind unter den Titanic-Opfern. | |
Täglich halten Doppeldeckerbusse vor dem Fairview Lawn Cemetery in Halifax. | |
Dass ein Friedhof zu einer der größten Touristenattraktionen einer Stadt | |
wird, passiert eher selten. In Halifax aber ist das der Fall. In der | |
kanadischen Hafenmetropole liegen weltweit die meisten geborgenen | |
"Titanic"-Opfer begraben. | |
Zum 100. Jahrestag der Schiffskatastrophe wird der Besucherstrom wieder | |
anschwellen. Obwohl die vielen geplanten Veranstaltungen, Workshops und | |
Ausstellungen allesamt in Halifax als eine Art große Andacht gehandelt | |
werden, wird der Jahrestag auch einen Menge Geld in die Kassen spülen. | |
Kommerz und Gedenken gehen dabei Hand in Hand. | |
Diesem Phänomen menschliche Gestalt gibt Touristenführer Glenn Taylor, der | |
mit seinen zahlenden Gästen auf dem Fairview Lawn Cemetery angekommen ist | |
und vor einer Reihe einheitlicher Grabsteine halt macht, die wie graue | |
Zähne aus dem saftig grünen Gras hervorstechen. Die Andächtigkeit gelingt | |
dem Guide ganz gut dafür, dass er seine Geschichten zu den oft zur größten | |
Schiffstragödie stilisierten Geschehnissen in der Nacht vom 14. auf den 15. | |
April 1912 schon zum x-ten Mal erzählt. | |
Auf dem Friedhof liegen die meisten der geborgenen Opfer der | |
Schiffskatastrophe begraben, 121 Ertrunkene. Noch zwei andere Friedhöfe | |
gibt es in Halifax, auf denen 29 weitere Opfer unter die Erde gebracht | |
wurden, der Mount Olivet Cemetery und der jüdische Baron de Hirsch | |
Cemetery. "Nicht in New York, dem Ziel der Jungfernfahrt, sondern in | |
Halifax endete die Reise", kommentiert einer der Touristen. | |
## Ein Engel für die dritte Klasse | |
Taylor dämpft die Stimme, faltet die Hände vor dem dicken Bauch und klingt | |
fast schon pastoral, als er immer wieder sagt: "Ich möchte Sie noch einer | |
anderen Person vorstellen." Zu Helden erklärt er etwa John Law Hume, | |
Violinist der Schiffsband, die auf der sinkenden "Titanic" noch gespielt | |
haben soll, als selbst die Lichter ausgingen. Oder William Denton Cox, | |
Steward: "Er begab sich zweimal herunter in die tief im Schiff verborgenen | |
Kabinen der dritten Klasse, um Menschen hochzuholen und in die | |
Rettungsboote zu verfrachten. Dass die Besatzung nur ihre eigene Haut | |
retten wollte, dieses Gerücht stimmt einfach nicht." | |
Nachdem die "Titanic" gegen 23.40 Uhr am 14. April 1912 einen Eisberg | |
gerammt hatte, vergingen 2 Stunden und 40 Minuten, bis sich der dunkle | |
Wasserspiegel für immer über ihr schloss. Viele der Rettungsboote blieben | |
unterbesetzt. Vielen kam erst zu spät die Erkenntnis, dass dieses | |
Prachtwerk des modernen Schiffsbaus, das als unsinkbar galt, doch | |
verletzlich sein könnte. Zudem herrschte an Bord eine ausgesprochene | |
Partystimmung. | |
"Stellen Sie sich vor: Es war eine klare Nacht, das Wasser eiskalt. Warum | |
sollte ich von einem unsinkbaren Schiff in eine kleine Nussschale von | |
Rettungsboot steigen und in das schwarze Nichts rudern?", sagt Taylor. Wohl | |
erst als sich der Bug unter der Last des eindringenden Wasser schon in die | |
eisigen Fluten senkte brach Panik aus. Taylors Zuhörer sind | |
mucksmäuschenstill und blicken aufs Gras - als ob sie beteten. | |
Nur 710 der insgesamt 2.228 Menschen an Bord des damals größten | |
Passagierschiffs der Welt überlebten und konnten später von der | |
heraneilenden "RMS Carpathia" aufgenommen werden. Und es bildeten sich in | |
100 Jahren viele Mythen rund um die "Titanic". So gehört ins Reich der | |
Legenden, dass der Kapitän der "Titanic", Edward Smith, das "Blaue Band", | |
eine Auszeichnung für die schnellste Atlantiküberquerung, ergattern wollte | |
und deshalb durch das kalte Meer pflügen ließ. Schnell fuhr die "Titanic", | |
um dem Ruf der White Star Line gerecht zu werden: Der bestand in äußerster | |
Pünktlichkeit. | |
Von einem anderen Missverständnis berichtet Taylor: "Ich wollte den beiden | |
College-Mädchen nicht noch einmal das Herz brechen und die Wahrheit | |
erzählen." Der Guide hat sich neben den Grabstein mit der Gravur "J. | |
Dawson" gestellt: "Regisseur James Cameron fand, Dawson - das klingt gut, | |
lass ihn uns Jack Dawson nennen'. Und schon hatte der Hauptdarsteller für | |
Camerons Film ,Titanic' einen Namen." Doch nicht das filmische Vorbild | |
liegt dort begraben, sondern Joseph Dawson, "und der schippt im Bauch der | |
Titanic Kohlen. Den weinenden College-Mädchen am Grabstein konnte ich das | |
unmöglich offenbaren." | |
## Letztes Geleit fürs „unbekannte Kind“ | |
Als der Blockbuster 1997 in die Kinos kam, begann für die Friedhofswärter | |
ein neuer Arbeitsalltag. Täglich mussten sie tonnenweise Plüschtiere, | |
Blumen, Spielzeug und Liebesbriefe wegkarren, um J. Dawsons Grabstein | |
wieder und wieder freizulegen. Jack Dawson, gespielt von Leonardo DiCaprio | |
- davon wurde ein Millionenpublikum auf Kinosesseln Zeuge - schied, | |
geklammert an eine Holzplanke, in eiskaltem Wasser aus dem Leben. Der | |
Fairview Lawn Cemetery wurde zur Pilgerstätte für eine Trauer unter | |
falschen Vorzeichen. | |
Doch vor 100 Jahren wurde Halifax Zeuge des "Titanic"-Leids wie keine | |
andere Stadt: "Halifax, das war der nächste Festlandhafen zur | |
Untergangsstelle, deshalb wurde alles von hier aus organisiert." Alan | |
Ruffman ist Geologe und vermisst im Hauptberuf den Meeresboden. Er war in | |
den Achtzigern an einer erfolglosen Suchaktion nach dem Wrack des einstigen | |
Luxusliners beteiligt. | |
Auf der Mayflower Curling-Eisbahn wurden viele der insgesamt 328 | |
Geborgenen, von denen 209 an Bord der "CS Mackay-Bennett" nach Halifax | |
kamen, aufgebahrt, nummeriert, fotografiert und zu Zwecken der | |
Identifikation auf Tätowierungen, Narben oder Schmuck untersucht, sagt | |
Ruffman. Andere wurden seebestattet. | |
Das Kabelschiff hatte die White Star Line für die Bergungsaktion | |
gechartert. Die Eisbahn steht heute nicht mehr, sie wurde bei einer anderen | |
Tragödie in der Geschichte der Stadt, der Halifax-Explosion, 1917 zerstört. | |
Die Kirchen, in denen Gedenkgottesdienste abgehalten wurden, können dagegen | |
noch besucht werden. In der ältesten protestantischen Kirche Kanadas, der | |
Saint Pauls Church in der Argyle Street, wurde am 21. April 1912 ein | |
Gedenkgottesdienst abgehalten, ein anderer für katholische Opfer in der | |
Saint Marys Basilica. Die vielleicht traurigste Gedenkfeier aber wurde in | |
der St. Georges Round Church veranstaltet. | |
In dem hölzernen Rundbau fand sich die Besatzung der "Mackay-Bennett" ein, | |
um dem "unknown child", dem unbekannten Kind, das letzte Geleit zu geben. | |
Die Crew hatte den Jungen, dessen Alter zunächst auf 9 bis 15 Monate | |
geschätzt wurde, als eines der wenigen Kleinkinder sechs Tage nach dem | |
Untergang ohne Rettungsweste leblos treibend aus den eisigen Fluten | |
gezogen. Erst im Jahr 2006 wurde es mittels einer DNA-Analyse letztlich als | |
Sidney Leslie Goodwin aus England identifiziert. | |
## Die Habseligkeiten der Opfer schützen | |
Die braunen Lederschuhe des damals 19 Monate alten Jungen können heute | |
hinter Glas in einer "Titanic"-Ausstellung im Maritime Museum of the | |
Atlantic in Halifax betrachtet werden, wo auch ein Liegestuhl "als größtes | |
erhaltenes Artefakt" zu sehen ist. Im Jahr 1912 nahm sie ein Polizist an | |
sich, der dabei half, die Habseligkeiten der Opfer vor Souvenirjägern zu | |
schützen. Dann verschwand das Schuhwerk über Jahre, bis es der Enkel des | |
Polizisten wieder entdeckte und 2002 dem Museum stiftete. | |
Auch der Hotelier John Jacob Astor kam bei dem Untergang ums Leben. "Er war | |
der reichste Mann der Welt", sagt Garry Shutlak. Mit Alan Ruffman sitzt der | |
Mann mit der Pfeife und den gelben Zähnen im Keller einer Studentenkneipe | |
in Halifax bei Bier und Kabeljau. Die beiden zusammen bilden so etwas wie | |
die geballte "Titanic"-Kompetenz der Stadt. Denn auch Garry befasst sich | |
seit Jahren mit dem "Titanic Desaster". Als Archivar bei den Nova Scotia | |
Archives, einer Unterabteilung des Amtes für kulturelles Erbe in Halifax, | |
stellt er erhaltenes Material der großen Rettungsaktion von 1912 online. | |
Listen der Geborgenen und Dokumente zu ihrer Identifizierung, Briefe, | |
historische Fotos, Visitenkarten. | |
"Als die Titanic unterging, wechselte die Hälfte des damaligen | |
amerikanischen Vermögens den Besitzer." An Bord waren neben Astor, fährt | |
Shutlack fort, auch andere steinreiche Unternehmer, darunter Benjamin | |
Guggenheim, Entrepreneur aus Philadelphia, oder Charles Hays, Präsident der | |
kanadischen Grand Trunk Railway. Sie alle ertranken. Nur Bruce Ismay, der | |
Direktor der White Star Line, stahl sich in eines der Rettungsboote, obwohl | |
galt "Frauen und Kinder zuerst". Er starb 1937. | |
## Streit um die ewige Schuldfrage | |
Bei der Frage, wer Schuld hatte an dem Untergang des Ozeanriesen, kommen | |
sich die beiden Experten fast in die Haare. "Wenn du jemandem die Schuld | |
geben willst, dann gib sie der Funker-Crew, sie gaben die Eiswarnungen | |
nicht an die Brücke weiter und waren nur mit den Telegrammen der Passagiere | |
beschäftigt", sagt Shutlack. Ruffman widerspricht: "Eine Meldung erreichte | |
sehr wohl den Kapitän, er hätte die Geschwindigkeit drosseln müssen." | |
Ob die Unglücksfahrt vor 100 Jahren einer einzigen Person angelastet werden | |
kann? Dass sich der Fortgang der Dinge von Menschenhand nach Belieben | |
gestalten ließe, dieser Fortschrittsglaube fand nach Ansicht von | |
Museumsführer Bob Corkum mit dem Untergang der "Titanic" ein abruptes Ende: | |
"Manche sagen: Das 20. Jahrhundert hat nicht am 1. Januar 1900 begonnen, | |
sondern am 15. April 1912." | |
7 Apr 2012 | |
## AUTOREN | |
Stefan Weissenborn | |
## TAGS | |
Reiseland Kanada | |
Titanic | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
„Titan“-Insassen für tot erklärt: Tauchboot-Trümmer entdeckt | |
Vier Tage nach dem Verschwinden der „Titan“ mit fünf Männern an Bord | |
scheint sicher: Das Tauchboot ist verunglückt, die Insassen sind tot. | |
100 Jahre Untergang der Titanic: 41° 43’ 55“ N, 49° 56’ 45“ W | |
Die Koordinaten 41° 43’ 55“ N, 49° 56’ 45“ W veränderten sein Leben:… | |
Unterwasserarchäologe Robert Ballard entdeckte in 3.700 Meter Tiefe das | |
Wrack der Titanic. |