# taz.de -- Kinofilm „Martha Marcy May Marlene“: Martha, wohin willst du? | |
> In Sean Durkins verstörendem Film „Martha Marcy May Marlene“ befreit sich | |
> eine junge Frau aus den Fängen einer Sekte. Und bleibt doch seelisch | |
> gefangen. | |
Bild: Martha (Elizabeth Olson) und ihre Schwester Lucy (Sarah Paulson). | |
Eine Landkommune mit Sektencharakter stellt man sich wohl genau so vor: | |
Junge Frauen mit ungezähmten langen Haaren in groben, altmodisch wirkenden | |
Kleidern und junge Männer in Overalls, dazu ein paar Hunde und ein paar | |
Babys. Feldarbeit, Wäscheaufhängen, Herumsitzen und dem Gitarrenspiel der | |
Leitfigur zuhören – alles in allem ein friedvolles Zusammenleben, das | |
allerdings bei aller Freizügigkeit seine Regeln hat. | |
Zum Beispiel die, dass die Frauen kochen und den Tisch decken und dann die | |
Männer zuerst essen lassen, während sie artig im Flur warten. Auch das | |
Schlafen auf gemeinsamen großen Matratzenlagern scheint | |
gewöhnungsbedürftig. Aber doch kein ausreichender Grund für die Panik, in | |
der Martha (Elizabeth Olsen) sich eines frühen Morgens aus dieser | |
Beschaulichkeit davonmacht – und mit dieser Flucht Sean Durkins mehrfach | |
preisgekröntem Film den Kick-Start versetzt. | |
Atemlos packt sie ihren Rucksack, schleicht sich hinaus und rennt | |
schließlich in den Wald. Von ihrem angstverzerrten Gesicht her zu urteilen, | |
könnte man meinen, ihr seien die Messerschwinger des neuesten | |
Torture-Porn-Movies auf den Fersen, dabei scheinen ihr lediglich eine | |
Handvoll Mädels in Nachthemden zu folgen. Und die Stimme, die ihr „Martha, | |
wohin willst du?“ nachruft, klingt eher besorgt als bedrohlich. Erst als | |
Martha ein Telefon findet und ihre Schwester anruft, wird offenbar, in | |
welchem Zustand von innerlichem Terror sie sich befindet. | |
Es ist die tiefe Verstörung, das existentielle Zittern, in dem die | |
eigentliche Wirkung des Sektenlebens auf Martha nachhallt. Und hier wird | |
schon deutlich, dass weniger die „Inhalte“, die in dieser Landkommune | |
gelebt wurden, die Erschütterung ausmachen, als vielmehr die Form: das | |
absolute Zugehörigkeitsgefühl, das sie vermitteln. Sich davon zu lösen, ist | |
mit einem Akt der Gewalt verbunden, der in der Tiefe der Psyche seine | |
Spuren hinterlässt. Den schwierigen Balanceakt einer solchen Ablösung | |
beschreibt „Martha Marcy May Marlene“ mit einer Eindringlichkeit, die | |
ihrerseits im Zuschauer lange nachhallt. | |
## Flashbacks | |
Martha findet Unterschlupf bei ihrer Schwester Lucy (Sarah Paulson), die | |
mit Ehemann, einem erfolgreichen Immobilienmakler, eine großzügige Villa an | |
einem See irgendwo in Connecticut bewohnt. Es ist ein Ort, der mit seinen | |
modernen, klaren Räumen und der großen Distanz zu nachbarlichen Anwesen | |
eine extreme Ruhe vermittelt. Die äußerliche Übersichtlichkeit bildet einen | |
harten Kontrast zu Marthas Aufgewühltheit und Anspannung – und auch zur | |
verwirrenden Unsicherheit des Zuschauers darüber, was genau in der | |
verschlossenen Figur vor sich geht. | |
Aus der Ruhe des Hauses am See schwingt der Film in wiederholten Flashbacks | |
zurück zu Marthas Zeit in der Sekte. Es sind Erinnerungen, die sie mehr | |
überfallen, als dass sie evoziert werden. Wann immer die Schwester sie | |
befragt, schweigt Martha. Oder verfällt in floskelhafte Anklageformeln. | |
Schwester und Schwager geben sich Mühe, nachsichtig zu sein, und sind doch | |
immer wieder geschockt davon, wie sehr sie sich in ihrem Sozialverhalten, | |
ihren Tischsitten und Schamgrenzen ihnen entfremdet hat. | |
Die Flashbacks erzählen von Marthas Ankunft in der von Patrick (John | |
Hawkes) geführten Sekte. Patrick gibt Martha einen neuen Namen, Marcy May, | |
und zeigt seine Gabe zum Charismatiker in der gezielten Aufmerksamkeit, die | |
er ihr als Neuankömmling zuteil werden lässt. Regisseur Durkin, der auch | |
das Drehbuch schrieb, vermeidet klug jede allzu spezifische Angabe zum | |
„Sektenglauben“. Es bleiben die Umrisse einer auf Konsumkritik, | |
Selbstversorgung und Kollektivgeist gegründeten Gemeinschaft. | |
## Hier spricht Marlene | |
Für die weiblichen Mitglieder – die sich zur Verwirrung der Außenwelt am | |
Telefon alle „Marlene“ nennen – gehört ein schmerzhafter sexueller | |
Initiationsakt mit dazu. Aus diesen schemenhaften Zeichnung entsteht eine | |
erstaunlich präzise Blaupause dessen, was diese Art von | |
Abgeschiedenheitssekte ausmacht, wie Unsicherheiten und Verletztlichkeiten | |
ausgenutzt werden und mit Pseudosicherheiten und gezielten Verletzungen | |
Gefolgschaft erzeugt wird. | |
Vieles erzählt Durkin mit den Mitteln der Suggestion, was bedeutet, dass | |
der Zuschauer oft im Unklaren gelassen wird. Sind sie ihr tatsächlich auf | |
den Fersen? War ein Überfall oder gar ein Mord Auslöser für Marthas Flucht? | |
Ist das Haus der Schwester nur ein weiteres Gefängnis? Und deren Leben im | |
Konsum auch nur Verblendung? Es kann erschreckend sein, wie sehr die | |
Wahrnehmung der Realität davon abhängt, wie wir uns im Innern fühlen. | |
„Martha Marcy May Marlene“. Regie: Sean Durkin. Mit Elizabeth Olsen, Sarah | |
Paulson, USA 2011, 101 Min. | |
12 Apr 2012 | |
## AUTOREN | |
Barbara Schweizerhof | |
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