# taz.de -- Demo gegen Selbstjustiz: In Emden ist nichts vorbei | |
> Mehrere hundert Menschen protestieren gegen Selbstjustiz. Der | |
> Bürgermeister erinnert an das getötete Kind – und an den Mob, der den | |
> Kopf des Tatverdächtigen forderte. | |
Bild: Im Schrecken vereint: Hand in Hand demonstrieren Menschen in Emden gegen … | |
EMDEN taz | „Das war’s dann wohl“, sagt am Freitagabend ein Journalist na… | |
der großen Kundgebung auf dem Emder Rathausplatz. Diese sollte nach dem | |
Willen der Organisatoren einen Neubeginn nach den Ereignissen der letzten | |
drei Wochen markieren. „Es war der 24. März“, beginnt Oberbürgermeister | |
Bernd Bornemann seine Rede. | |
Man kann ihr anhören, dass ein Pastor geholfen hat, den richtigen Ton zu | |
finden. „Erinnern wir uns: Es war ein schöner Tag“, sagt Bornemann, „es | |
herrschte fröhliche Stimmung“. Mit dieser ist es schlagartig vorbei, als | |
die Nachricht die Runde macht, dass ein vermisstes elfjähriges Mädchen von | |
der eigenen Mutter gefunden wurde. Vergewaltigt und getötet in einem | |
Parkhaus neben der Emder Zeitung und einem Multiplex-Kino, direkt gegenüber | |
der Polizeistation. | |
Vor derselben Wache wird drei Tage später eine Menschenmenge die Herausgabe | |
eines Tatverdächtigen fordern. Drei Tage lang wird ein 17-jähriger | |
Berufsschüler festgehalten, bis seine Unschuld erwiesen ist. Während dieser | |
Zeit veröffentlichen ihm bekannte und unbekannte Menschen im Internet seine | |
Adresse, belagern die Wohnung seiner Familie und diskutieren im Netz, wie | |
sie ihn umbringen könnten. | |
Zu diesem Zeitpunkt, sagt Bornemann auf der schwarz ausgekleideten Bühne im | |
Torbogen des alten Rathaus, habe Emden nach Lenas gewaltsamen Tod zum | |
zweiten Mal Abschied nehmen müssen „von der Illusion einer heilen | |
unbeschwerten Stadt“. „Wieder sind wir erschüttert, wir können nicht | |
glauben, dass so etwas Entsetzliches in unserer Stadt geschieht.“ | |
Der 57-Jährige spricht einfühlsam, ohne falsches Pathos. Hunderte von | |
Menschen folgen still seinen Worten. Als er sagt, er schäme sich für das | |
Geschehene und entschuldige sich bei dem zu Unrecht Verdächtigten, | |
applaudieren die Zuhörer und Zuhörerinnen zum ersten Mal. Einige von ihnen | |
werden die Einträge im Online-Gästebuch der Stadt gelesen haben, auf denen | |
die Emder dafür angegriffen werden, dass niemand versucht hat, die Leute | |
vor dem Polizeigebäude zu vertreiben. | |
„Emdener, ihr seid einfach nur widerlich“, schreibt ein anonym bleibender | |
„Chris“. Und ein „Edom Ehceped“ fordert: „In Emden sollte man sich ma… | |
den Spiegel stellen und fragen: ’Inwieweit bin ich ein Schwerverbrecher?‘“ | |
Auch ihn habe die Vorverurteilung des 17-Jährigen „persönlich sehr hart | |
getroffen“, sagt Bornemann ein paar Stunden vor der Kundgebung in seinem | |
Büro in einem Zweckbau der Stadtverwaltung. Der SPD-Politiker begründet | |
dies mit seiner jahrzehntelangen Arbeit im Justizdienst, bevor er vor einem | |
halben Jahr zum Emder Oberbürgermeister gewählt wurde. Rechtsstaatliche | |
Grundsätze wie die Unschuldsvermutung hätten ihn geprägt. | |
Warum er sich dann erst am Samstag vor zwei Wochen öffentlich zu dem Mob | |
vor der Polizei in der Nacht zum Mittwoch geäußert hat, kann er nur zum | |
Teil erklären. Am Mittwoch habe er es zu spät erfahren, am Donnerstag sei | |
keine Zeit gewesen und am Freitag wollte er sich aus Rücksicht auf die | |
Beerdigung des getöteten Kindes zurückhalten. | |
Danach habe er allen eine Stellungnahme gegeben, die diese von ihm wollten. | |
Und warum hat er dies nur auf Zuruf getan und keine Pressemitteilung | |
verschickt? – „Weil wir nicht verantwortlich waren, sondern die Polizei.“ | |
Für Bornemann ist diese Feststellung keine Anklage, sondern eine | |
Faktenbeschreibung. Die Polizei hätte die rund 50 Menschen, die zwischen 22 | |
Uhr abends und vier Uhr morgens vor der Wache standen, auffordern können, | |
zu gehen. | |
Aber warum sie dies nicht tat – das wird in dem Gespräch mit Bornemann und | |
anderen Emdern deutlich – mit dieser Frage kann man sich nur dann | |
ausführlich beschäftigen, wenn die erste Schlagzeile „Ein Kind wurde | |
ermordet“ schon wieder vergessen ist. | |
Die Vorverurteilung und der Aufruf zur Selbstjustiz hätten ihn erschüttert, | |
sagt der Pastor Manfred Meyer. „Aber der Mord steht für mich an erster | |
Stelle.“ Er begleitet die Familie Lenas und ist immer dann gefragt, wenn | |
jemand erklären muss, wie Menschen mit einer solchen Gewalttat fertig | |
werden. | |
Dass das letztlich unmöglich ist, zeigt die Kundgebung. Sie steht unter dem | |
Motto „gegen Intoleranz, Vorverurteilungen und Selbstjustiz“, ist zugleich | |
aber auch eine Gedenkfeier für das getötete Kind. Sie scheitert am Ende am | |
Anspruch, „jede Menge Gefühle unter einen Hut“ zu bringen, wie es hinterher | |
einer der Organisatoren, ein Inhaber einer Kommunikationsagentur erklärt. | |
Dazu hat er ein Adagietto von Gustav Mahler ausgewählt, das genau in dem | |
Moment aus den Lautsprecherboxen erschallt, als die Versammelten einander | |
an den Händen fassen. Eine schöne Geste, zu der der Bürgermeister sie als | |
Zeichen der Verbundenheit aufgefordert hatte. Doch die Musik macht es | |
unmöglich, sich auf die eigenen Gefühle und Gedanken zu konzentrieren. Ein | |
paar Minuten geht das so, dann ist es vorbei. Nichts ist vorbei. | |
15 Apr 2012 | |
## AUTOREN | |
Eiken Bruhn | |
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