# taz.de -- Lebensqualität in Wien: Feel Good City | |
> Erst wenn keiner mehr weg will, sei die Lebensqualität in Wien gut genug, | |
> meint Maria Vassilakou, Vizebürgermeisterin der Stadt. Bis dahin muss sie | |
> noch einige Tabus knacken. | |
Bild: Alles eitel Wonne? Noch nicht ganz. | |
So wie Nordamerikas Boulevardmedien alljährlich auf das Erwachen des | |
Waldmurmeltiers lauern, um daraus Mutmaßungen über den weiteren Verlauf des | |
Winters abzuleiten, wartet der Presse- und Informationsdienst des Wiener | |
Rathauses jedes Frühjahr auf die Veröffentlichung der Mercer-Studie mit | |
ihrem Ranking der „Quality of Living“ von über 200 Metropolen. | |
Ergibt sich doch aus dieser Studie eine der Headlines für die umfangreiche | |
PR der Stadtregierung in den folgenden zwölf Monaten. Schon längere Zeit | |
über konnte sich Wien bei Mercer unter den Top 3 festsetzen, lediglich | |
übertroffen von Zürich oder Vancouver. 2009 reichte es erstmals für Platz | |
1. | |
Dass die Studie nicht von einem internationalen Sozialforschungsinstitut | |
oder einer überstaatlichen Umweltbehörde erstellt wird, sondern von einem | |
weltweit tätigen Beratungsunternehmen, das im Ausland arbeitende | |
Top-Manager befragt, ist für das traditionell sozialdemokratische Rathaus | |
wenig von Belang. | |
Ebenso wenig kümmert es der Umstand, dass manche der Beurteilungskriterien | |
von den Stadtvätern weitgehend unbeeinflusst bleiben: sei es die stabile | |
Demokratie, sei es das funktionierende Rechtssystem oder die geringe | |
Terrorgefahr in Österreich. Das Mercer-Ranking dient der Stadt, weitgehend | |
unreflektiert, als Argument dafür, dass alles eitel Wonne sei und künftig | |
höchstens besser werde. | |
Natürlich ist auch kritischen Zeitgenossen bewusst, wie gut es sich hier | |
leben lässt. Fraglich bleibt jedoch, ob die Stadtväter in den letzten drei, | |
vier Legislaturperioden wirklich Entscheidendes dazu beigetragen oder | |
mehrheitlich von den Errungenschaften früherer Jahrzehnte gezehrt haben. | |
Denn unbestritten schöpft Wien viel von seiner Qualität aus der | |
Vergangenheit. Allein der Umstand, dass die Stadt als weltweit einzige | |
Metropole heute weniger Einwohner zählt als vor 100 Jahren, ist ein | |
unschätzbarer Bestandteil ihrer Urbanität. | |
So lebt das Gros der Wiener nicht etwa in autogerechten Stadtrandsiedlungen | |
mit monofunktionalen Massenwohnbauten, sondern nach wie vor in den | |
gründerzeitlich geprägten Vierteln. Die wurden seit den 1980er Jahren mit | |
öffentlichen Mitteln nachhaltig modernisiert. Ihre Maßstäblichkeit, | |
Fußläufigkeit, Nutzungsvielfalt und Vitalität ist vom modernen Städtebau | |
nirgends auch nur annähernd erreicht worden. | |
## Wachstum als Rechtfertigung | |
Nun aber wächst Wien wieder. Um 2050 herum soll die heutige | |
1,7-Millionen-Metropole angeblich die 2 Millionen-Grenze überschreiten. | |
Zwar erwiesen sich die Bevölkerungsprognosen des Rathauses seit der | |
Ostöffnung 1989 schon mehrmals als überzogen, doch dienten sie der | |
politiknahen Bau- und Immobilienbranche als Argument für großmaßstäbliche | |
Projekte selbst an stadtplanerisch ungeeigneten Standorten. | |
Und nicht zuletzt ist Wachstum die politisch am einfachsten zu bewältigende | |
Aufgabe, rechtfertigt sie doch die Fortsetzung jahrzehntelanger | |
wachstumsorientierter Entwicklungsstrategien und lenkt von der | |
Notwendigkeit unpopulärer Kursänderungen ab. | |
Dies zeigt sich etwa am Verkehr, wo die Kommunalpolitik 1994 eine Reduktion | |
des Autoverkehrsanteils von 35 auf 25 Prozent bis 2010 angekündigt hatte. | |
2003 wurde dieses Ziel erneuert, allerdings mit dem veränderten | |
Zeithorizont 2020. Maßnahmen, um diesem Ziel zumindest um ein paar | |
Prozentpunkte näher zu kommen, blieben freilich aus – im Gegenteil: Seit | |
den 1990er Jahren wurde zwar das U-Bahn-Netz (auch zum Wohlgefallen der | |
großen Tiefbaukonzerne) erweitert, aber gleichzeitig mehrere | |
Straßenbahnlinien eingestellt und in das marode S-Bahnnetz kaum investiert. | |
Noch schwerer wiegt jedoch, dass die Politik den massiven Ausbau des | |
Autobahn- und Schnellstraßensystems in der Stadtregion forcierte und sich | |
bis dato beharrlich gegen jedwede Beschränkung des Autoverkehrs wehrte. So | |
verwundert es nicht, dass eine vom Ölkonzern Shell beauftragte Studie für | |
die Stadtregion bis 2035 einen Anstieg des Autoverkehrsanteils auf 45 | |
Prozent prognostiziert. | |
Dass Wien mit einer derart autoaffinen Stadtentwicklungs- und | |
Verkehrspolitik auch mittelfristig so lebenswert bleibt, ist zu bezweifeln. | |
Denn der Pkw-Verkehr ist mit seinen Lärm- und Abgas- und | |
Feinstaubemissionen genauso wie mit seiner Omnipräsenz im öffentlichen Raum | |
ein maßgeblicher Faktor für die beständige Abwanderung junger Familien aus | |
den dichtbebauten Vierteln in den Speckgürtel Wiens – wodurch wiederum | |
neuer Autoverkehr entsteht. | |
Genauso ist der massenhafte und vielfach subventionierte Gebrauch des Autos | |
die Ursache dafür, dass die Stadt zunehmend in monofunktionale Teile | |
zerfällt – Wohngebiete, Gewerbegebiete, Büro-Cluster oder Einkaufszentren �… | |
und die traditionell durchmischten Stadtviertel mehr und mehr veröden. | |
Die Tendenz zur Entmischung lässt sich auch städtebaulich in so gut wie | |
jedem Neubauquartier ablesen: Einzelne Gebäude haben oft die Größe ganzer | |
Baublöcke und dienen nur einer einzigen Nutzung. Tiefgarageneinfahrten | |
potenzieren die Abschottung gegenüber der Straße. Der wenig ambitionierte | |
Flächennutzungs- und Bebauungsplanung des Rathauses trägt seine Mitschuld | |
an solchen Konzepten. | |
## Die Chefin der Grünen regiert seit 2010 mit | |
Zumal sich ein so festgefahrenes System wie Wiens Melange aus etablierten | |
Politkern, dienstbeflissenen Beamten, willfährigen Planern sowie | |
politiknahen Investoren und Bautycoons selten von innen heraus erneuert, | |
ruhen die Hoffnungen auf überfällige Veränderungen auf den seit dem | |
Mehrheitsverlust der Sozialdemokraten Ende 2010 mitregierenden Grünen. | |
Deren Chefin, Maria Vassilakou, ist seither Vizebürgermeisterin und wurde | |
mit dem von der SPÖ wenig geschätzten Ressort „Stadtentwicklung, Verkehr, | |
Klimaschutz, Energieplanung und BürgerInnenbeteiligung“ betraut. | |
Im Gegensatz zu ihren Amtsvorgängern unterliegt sie weder dem | |
parteipolitischen Dogma der Unfehlbarkeit noch etwaigen Verbindlichkeiten | |
gegenüber der lokalen Immobilienszene – und hat so eine sehr realistische | |
Einschätzung, wie weit Wien in manchem noch vom selbstgesteckten Ziel einer | |
nachhaltigen Stadt entfernt ist. | |
Dementsprechend forciert sie im Sinne einer zukunftstauglichen Entwicklung | |
etwa die Nutzung innerstädtischer Brachen als Reaktion auf die ausgeprägte | |
Randwanderung des Baugeschehens in den letzten zwei Jahrzehnten. Auch die | |
vom heutigen österreichischen Bundeskanzler Werner Faymann in seiner Zeit | |
als Wiener Wohnbaustadtrat ermöglichte Umwandlung zehntausender | |
Kleingartenlauben in veritable Einfamilienhäuser – ein stadtplanerisch | |
unverantwortliches Wahlgeschenk an die eigene Klientel – will die | |
Grün-Politikerin innerhalb der nächsten zwei Jahre stoppen. | |
Durchgesetzt hat sie bereits eine Preissenkung im öffentlichen Verkehr bei | |
gleichzeitiger Verteuerung der Parkgebühren im Straßenraum – und die seit | |
Jahren überfällige Ausdehnung der Parkgebührenzonen in manche Außenbezirke | |
steht unmittelbar bevor. Einer baldigen Änderung des Verkehrsverhaltens | |
bedarf es auch, um ein anderes ihrer politischen Ziele zu realisieren, | |
nämlich Wien bis 2030 zu 50 Prozent mit erneuerbaren Energien zu versorgen | |
– zumal die Donaumetropole heute bei bescheidenen 9 Prozent hält. | |
## City-Maut | |
„Ohne Restriktionen für den Autoverkehr wird das nicht gelingen“, bricht | |
Vassilakou mit dem wohl größten Tabu der Wiener Kommunalpolitik, nämlich | |
dem Autoverkehr nicht nur Alternativen in Form von Radwegen und | |
öffentlichen Verkehrsmitteln gegenüberzustellen, sondern ihn tatsächlich | |
zurückzudrängen. „Und auch das Thema City-Maut wird trotz der Ablehnung bei | |
der Volksbefragung vor zwei Jahren wieder kommen.“ | |
In der Stadtentwicklung sollen nun endlich auch in Wien bodenpolitische | |
Maßnahmen – abseits des teuren Ankaufs von Flächen durch die kommunalen | |
Fonds – Anwendung finden, um geeignetes Bauland auch faktisch verfügbar zu | |
machen. Im Städtebau will Wien dem Beispiel anderer österreichischer | |
Kommunen folgen und über Verträge mehr Verbindlichkeit in die Umsetzung | |
seiner Pläne und Konzepte bekommen. | |
Generell soll sich die Stadtplanung den Absichten der Stadträtin zufolge | |
künftig stärker an qualitativen anstatt wie bisher an quantitativen Zielen | |
orientieren – wobei sich „Qualität“ nicht mit Kriterien à la Mercer dec… | |
muss. „Die Lebensqualität der Stadt“, so Maria Vassilakou, „wollen wir | |
daran messen, wie sehr es gelingt, die Sehnsucht nach dem Haus im Grünen zu | |
besiegen.“ | |
16 Apr 2012 | |
## AUTOREN | |
Reinhard Seiss | |
## TAGS | |
Unesco-Kulturerbe | |
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