# taz.de -- Regisseur Bertrand Bonello: „20 mal am Tag Geschlechtsverkehr“ | |
> „Haus der Sünde“-Regisseur Bertrand Bonello über das Bordell im Paris d… | |
> Fin de Siècle, Realität und Fantasie sowie Tränen aus Sperma. | |
Bild: „Die Mischung aus einem Realitätsrest und einem Traumbild hat mir sehr… | |
taz: Herr Bonello, Ihr Film spielt fast ausschließlich in einem großen | |
Haus, einem Bordell namens Apollonide. Wie sind Sie vorgegangen, um diesen | |
Raum zu gestalten? | |
Bertrand Bonello: Die Frage, wie ich mit dem Raum umgehen würde, war ein | |
wesentlicher Antrieb, diesen Film zu drehen. Als ich mir das Bordell | |
vorstellte, hatte ich die Intuition, dass ich den Raum wie ein Gehirn | |
anlegen könnte. Das heißt: Eine Bewegung von einem Zimmer in ein anderes | |
ist physisch und mental zugleich, Es gibt ja keine Fenster, oder besser: | |
Die Vorhänge sind immer zugezogen. Für mich und meine Wünsche ans Kino war | |
das eine fantastische Gelegenheit. | |
Es gibt nur zwei Sequenzen, die nicht in den Mauern des Bordells spielen. | |
Dienen sie dazu, das Hermetische des Orts zu unterstreichen? | |
Im Grunde ja. Die Sequenz in der Mitte des Films, die Landpartie, wurzelt | |
in meinen Recherchen; ich fand heraus, dass eine Bordellbetreiberin einmal | |
im Monat mit den Prostituierten aufs Land fuhr, damit sie ein bisschen | |
frische Luft schnappen konnten. Ich habe mir den Film ja als Gefängnisfilm | |
vorgestellt, und wenn man nach einem kurzen Ausflug zurückkehrt, wird umso | |
klarer, wie wenig Luft zum Atmen man drinnen hat. Und die Szene am Ende … | |
… eine Prostituierte geht auf dem Straßenstrich im heutigen Paris auf und | |
ab … | |
Mir ging’s dabei nicht um einen Vergleich zwischen gestern und heute. Der | |
zweite Teil des Films hat ja etwas von einem Traum, etwas Hypnotisches. Wie | |
aber kommt man da wieder raus? Indem man sich wieder der Wirklichkeit | |
zuwendet. Deswegen diese Szene aus der Gegenwart, mit Video gedreht. | |
Wenn man ein solches Gestern filmisch rekonstruiert, geht es ja nicht nur | |
um Inneneinrichtung und Kostüme, sondern auch um Gedankenwelten, Fantasien | |
und Geisteszustände. Wie haben Sie das Immaterielle rekonstruiert? | |
Was ich nicht getan habe, war, sechs Monate zu recherchieren und dann die | |
Geschichte zu schreiben. Ich habe beides gleichzeitig gemacht, denn es war | |
mir wichtig, dass sich die Wirklichkeit von der Vorstellung nährt und | |
umgekehrt die Vorstellung von der Wirklichkeit. Also habe ich morgens am | |
Buch geschrieben und nachmittags recherchiert. Die affektive Ebene des | |
Films und die Traumsequenzen gehen Hand in Hand mit konkreten Informationen | |
– um welche Zeit essen die Frauen? Was essen sie? Wo und wie waschen sie | |
sich? | |
Die Lichtsetzung war Ihnen sehr wichtig, nicht wahr? | |
Normalerweise kommt das Licht ja durch die Fenster, aber weil die Vorhänge | |
immer zugezogen sind, mussten wir selbst erfinden, woher das Licht kommt | |
und woher nicht. Das ist künstlicher, aber auch schöner. Die Kamerafrau | |
Josée Deshaies hatte diese Idee, dass das Licht aus den Frauen kommen | |
sollte. Das war natürlich nicht möglich, aber sie erfand eine Konstruktion | |
von vielen kleinen Lichtquellen an der Decke, die sie an einem Mischpult | |
steuern konnte, so dass sich das Licht bewegte, und das gab manchen Szenen | |
etwas Unwirkliches. | |
In einer Szene agiert eine Prostituierte auf Wunsch des Freiers wie eine | |
Puppe. Das ist etwas, was tief in den Imaginationen des 19. Jahrhunderts | |
wurzelt – diese Faszination für Puppen, diese Unsicherheit: Steckt nicht | |
vielleicht doch Leben darin? | |
Eine Puppe ist sehr schön, aber sie flößt auch Angst ein. Deswegen sieht | |
man sie so oft in Horrorfilmen. Was ich an dieser Sequenz mag, ist, dass | |
sie so viel über das Verhältnis von Freier und Prostituierter aussagt – | |
viel mehr als eine Fake-Sexszene unter der Bettdecke. Denn die Frau ist | |
hier ein Objekt, aber zugleich kann man überhaupt nicht wissen, was in ihr | |
vorgeht. | |
Ihr stierer Blick während des Geschlechtsverkehrs ist frappierend. | |
Adèle Haenel, die Darstellerin, bekam deswegen die Rolle. Beim Casting | |
fielen mir ihre Augen auf; ich bemerkte, dass sie zwei Minuten starren | |
konnte, ohne ein einziges Mal zu blinzeln. Da wusste ich: Sie ist die | |
Richtige. | |
Es gibt noch etwas in Ihrem Film, was tief in der Gedankenwelt des 19. | |
Jahrhunderts wurzelt – das Buch, in dem Schädelumfang und Wesen der | |
Prostituierten zueinander in Bezug gesetzt werden, ein Beleg für das | |
positivistische Denken der Zeit. | |
Damit hat man heute ja auch wieder zu tun. Während meiner Recherchen bin | |
ich auf das Buch gestoßen, es war schockierend und faszinierend – wie die | |
Wissenschaft daherkommt und behauptet, etwas erklären zu können, womit die | |
Gesellschaft nicht zurechtkommt. Und heute sagt unser Präsident, man könne | |
einem Anderthalbjährigen ansehen, ob er mal ein böser Kerl wird oder nicht. | |
Das macht doch Angst! | |
Sie verwenden viel Mühe darauf, darzustellen, wie elaboriert die sexuelle | |
Kultur in diesem Bordell ist, hatten Sie nicht Sorge, das zu idealisieren? | |
Das ist eine Frage der Perspektive, des Kamerastandpunkts, der Montage – | |
die Idee war, so dicht wie möglich an die Frauen heranzukommen, sich ihrer | |
Perspektive zu verschreiben, und das bedeutet: Es gibt nichts zu | |
idealisieren. | |
Dementsprechend machen Sie recht viel von den zerstörerischen Effekten der | |
Prostitution anschaulich. | |
Das habe ich zumindest versucht. Als ich den Film vorbereitete, las ich | |
Briefe und Tagebücher, und das half. Nicht unbedingt in dem Sinne, dass ich | |
Prostitution verstehen würde – dazu ist die Sache einfach zu kompliziert, | |
und wenn die einen sagen, Prostitution sei fantastisch, und die anderen, | |
sie sei schrecklich, dann ist das zu simpel. Vom Wesen der Prostituierten | |
geht ja eine große Faszination aus; so viele Gemälde porträtieren | |
Prostituierte; das Kino gibt es seit 1895, fünf Jahre später hat man den | |
ersten Film mit einer Prostituierten; sie ist eine starke Figur für | |
Fiktionen. Man kann sich ihr sehr nahe fühlen, man bezahlt, sie ist da, | |
aber zugleich gibt es dieses Geheimnis: Wie geht das? Was geht in ihrem | |
Kopf vor sich? | |
Die Briefe und Tagebücher stammten von Frauen, die um 1900 herum als | |
Prostituierte arbeiteten? | |
Ja, und die drei Briefe, die im Film vorkommen, hätte ich mir niemals | |
ausdenken können. Weder den von dem Mädchen, das schreibt: „Hallo, ich bin | |
15 1/2, ich möchte mich Ihnen anschließen, anbei finden Sie einen Brief | |
meiner Eltern“, noch den von der Bordellbetreiberin, die schreibt: „Herr | |
Polizeipräsident, wie soll ich meine Kinder erziehen, wenn ich mein Haus | |
schließen muss?“ Ich wäre nie darauf gekommen, dass eine Bordellbetreiberin | |
zwei kleine Kinder großziehen könnte, aber als ich diesen Brief fand, wurde | |
mir klar: Die ist ja nicht mehr 16, sondern 45, und natürlich hat sie | |
Kinder. All das geht auf Recherchen zurück, auch der Brief, den im Film | |
Jacques Nolot an die Frau schreibt, die an Syphilis stirbt – er stammte von | |
einem Freier. | |
Da Sie Jacques Nolot erwähnen – er ist ja nicht der einzige Schauspieler in | |
Ihrem Film, der auch Regisseur ist … | |
Es gibt insgesamt sieben, und der Off-Kommentar wird von Pascale Ferran | |
eingesprochen. | |
Das ist doch kein Zufall, oder? | |
Am Anfang war es Zufall, am Ende eine Entscheidung. Als ich Noémi Lvovsky | |
und Xavier Beauvois fragte, tat ich das, weil sie mir als Schauspieler | |
gefallen. Aber dann habe ich versucht, die Sache weiterzutreiben, um zu | |
sehen, ob sie etwas zu sagen hat. Und vielleicht sagt sie etwas über das | |
Kino, über das Verhältnis von Regisseuren und Schauspielern, das dem von | |
Freiern und Prostituierten gleicht. | |
Weil die Frauen die Fantasien eines anderen nachspielen und das den Freier | |
in die Rolle eines Filmemachers bringt, der andere in seiner Mise en Scène | |
agieren lässt? | |
Es ist nah dran am Theater. Immer wenn die Schauspielerinnen nicht | |
weiterwussten, habe ich vom Theater gesprochen, das dem Bordell ähnelt, mit | |
der Hinterbühne, der Bühne, der Bordellbetreiberin als derjenigen, die die | |
Mise en Scène besorgt, und den Freiern als Publikum. | |
In einem Traum weint Madeleine, eine der Prostituierten. Aus ihren Augen | |
rinnt Sperma. Wie sind Sie darauf gekommen? | |
Ich schrieb zuerst die Szene, in der sie von dem Traum erzählt, zunächst | |
also brauchte ich das Bild noch gar nicht. Dann erst schrieb ich die Szene, | |
in der man die Spermatränen sieht. Was ich daran mag, ist, dass es ein | |
symbolisches, fast heiliges Bild ist, in dem aber zugleich viel | |
Wirklichkeit steckt. Denn wenn man fünfzehn-, zwanzigmal am Tag | |
Geschlechtsverkehr hat, will man doch irgendwann weinen. Aber was? Man hat | |
keine Tränen mehr. Was hat man in sich drin? Sperma. Die Mischung aus einem | |
Realitätsrest und einem Traumbild hat mir sehr gefallen. | |
19 Apr 2012 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
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