# taz.de -- Heuschnupfen ist wie Rücken: Männer, die bei Pollen weinen | |
> Es ist jedes Jahr das gleiche Leid. Monatelang. Drei Berichte von einem | |
> Untoten, einem Alleingelassenen und einem Geheilten aus den | |
> allergiebedingten Feuchtgebieten. | |
Bild: Wankender Körper, tumber Geist: Der Heuschnupfen verklebt das eigene Sei… | |
Das Leben als Untoter | |
Mein Leben als Zombie beginnt mit einem Stechen. Als schwebten Millionen | |
mikroskopisch winziger Glassplitter in der Luft. Wenn ich nach | |
durchschlafener Nacht die Augen aufschlage oder vielmehr aufreiße, weil mir | |
ein klebrig-harter Film die Wimpern zusammengeschweißt hat, und sich des | |
Tages erster Atemzug die Nasenwände hinaufbrennt bis zum Vorderhirn, dann | |
weiß ich: Meine Verwandlung steht unmittelbar bevor. | |
Die folgende Zeit – manchmal Minuten, manchmal Stunden – sind kostbar. Ich | |
probiere wenig Selbstmitleid, schmecke dem letzten Hauch der Hoffnung nach, | |
es möge mich dieses Jahr nicht erwischen, und bade ein wenig in der Schuld | |
verpasster Therapien. Kontakt zu mir selbst, es wird für zwei, drei Monate | |
der letzte sein. Bald werde ich nichts mehr spüren. | |
Denn eine weiche, warme Masse flutet meinen Kopf, anfangs fühlt es sich | |
noch wie Zuckerwatte an, sie verflüssigt sich aber schnell zu einer | |
dicklich-trägen Masse. Mag der englische Poet John Donne auch festgestellt | |
haben, der Mensch sei keine Insel – mein Hirn ist eine. Fett und rund | |
schwebt es in in klebriger Melasse. | |
So beginnt das Leben als Untoter. Man läuft, man sieht die anderen, spürt | |
die Sonne auf der Haut, und doch könnte das alles auch nicht da sein, so | |
weit weg fühlt es sich an. Es ist Schlafen, Essen, Sex in einer Welt, die | |
stets gepolstert ist – mal mit Wolle, mal mit Gelatine. Man dringt | |
jedenfalls nicht hinaus zu denen da draußen. | |
Es ist der Limbus, die Zwischenwelt, die Vorhölle: Man weiß, es gibt weit | |
größere Qualen – aber dahin, wo es wirklich schön ist, kommt man auch | |
nicht. Und ringsumher das Paradies, der Frühling. Dort ist alles mit | |
Erwachen beschäftigt, und man selbst sinkt in einen unruhigen Schlaf. Man | |
ist nicht krank, aber auch auf keinen Fall gesund. Der Körper wankt, der | |
Geist verharrt tumb. Es ist kein Sterben, aber Leben will man diesen | |
Zustand auch nicht nennen. | |
Zum Glück wird einem auch das egal, so wie vieles einfach an Bedeutung | |
verliert, je länger die Zombiezeit dauert. Es gibt Momente, in denen zuckt | |
das Hirn wahnhaft neurotisch, Schlafstörungen wahrscheinlich. Die anderen – | |
so schwant mir –, das sind Pollenträger, sie bringen das Böse zu dir nach | |
Hause, darum Quarantänezone im Flur einrichten, alle Sachen von draußen | |
ausziehen und duschen, bevor wir überhaupt ans Reden denken können und dann | |
… | |
Weckt mich, wenn es vorbei ist! Daniel Schulz | |
Selbst schuld | |
Heuschnupfen ist wie Rücken. Wer Rücken hat, bekommt Mitleid nur von denen, | |
die auch Rücken haben. Die anderen schütteln den Kopf: Rücken ist doch | |
keine Krankheit. Beim Heuschnupfen ist es ähnlich. Allergiker gelten oft | |
als Hypochonder, als wäre Heuschnupfen eine Schwäche und keine Krankheit. | |
Vielen Allergikern fällt es schwer, sich zu ihrer Krankheit zu bekennen. Zu | |
oft hören sie ein stolzes „ich nicht“, wenn sie doch einmal zugeben, dass | |
sie Heuschnupfen haben, als wäre es eine Leistung, keinen Heuschnupfen zu | |
haben. | |
„Das hat es bei uns nicht gegeben“, sagt der gesunde Ostdeutsche, der | |
gelesen hat, dass Allergien in der DDR nicht so verbreitet waren, wie sie | |
es in der Bundesrepublik sind, und sagt damit nicht nur, dass nicht alles | |
schlecht war seinerzeit, sondern irgendwie auch etwas gegen Wessis. „Dusch | |
dich doch einfach ab“, sagt die Gattin dauernd zu ihrem niesenden Mann, so | |
als ließe sich die Allergie zusammen mit den paar Pollen, die sich im Haar | |
verfangen haben, einfach abspülen. | |
„Da musst du dich nicht wundern“, sagt das Gegenüber beim Kneipenabend, als | |
würden die Augen zu tränen aufhören, wenn man das bestellte Bier durch ein | |
Glas Karottensaft ersetzen würde. „Selber schuld!“ – so direkt sagt das | |
zwar keiner, aber jeder Allergiker versteht, was viele Gesunde auch sagen, | |
wenn sie vermeintlich gut gemeinte Ratschläge geben. | |
Und am Ende ist der Allergiker ziemlich allein, wenn er die Ratschläge | |
befolgt, die er jedes Jahr wieder in der Apothekenrundschau liest, die er | |
mitnimmt, wenn er seine Medikamente abholt. Es ist in Wahrheit nur ein Rat: | |
„Halten Sie sich von Pollen fern!“ Das macht einsam. Wer verbringt schon | |
gerne einen lauen Frühsommerabend beim Allergiker auf dem | |
hausstaubmilbenabweisenden Kunststoffledersofa bei geschlossenen Fenstern, | |
statt mit normalen Menschen in den Biergarten zu gehen? | |
Und wer geht bitte sehr bei 30 Grad im Schatten zusammen mit dem | |
Allergikerfreund in ein fensterloses Kellertheater, um zusammen mit drei | |
anderen Zuschauern einem ambitionierten Off-Stück beizuwohnen, dessen | |
Schauspielern man anmerkt, dass sie diesen Sommerabend selbst viel lieber | |
irgendwo draußen verbringen würden? Und dass niemand mitkommt auf ein | |
pollenarmes Bierchen im U-Bahn-Tiefgeschoss oder zum Picknick auf der | |
asphaltierten Verkehrsinsel einer Stadtautobahn, das wundert Allergiker | |
nicht. Sie machen es selbst nicht gerne. Andreas Rüttenauer | |
Geheilt! | |
„Die Hygiene-These besagt, dass die arbeitslosen Abwehrkörper sich neue | |
Feinde schaffen.“ So weit, so geil, so Wikipedia: Was ist das für eine | |
geniale Formulierung! Was einem da alles zu einfällt. Der Verfassungsschutz | |
zum Beispiel, der ganze Sicherheitswahn. Aber wollen wir nicht mit dem | |
Thema anfangen? Ich bin geheilt. Ich habe keinen Heuschnupfen mehr. Seit | |
vier Jahren. | |
Als damals die Bäume grünten und die Akazienpollen lustig durch die Gassen | |
tollten, ging ich zu meiner Ärztin. Ich sah mich schon als reichen Mann. | |
Irgendein besonderes Gen musste ich doch haben, dass ich jetzt plötzlich | |
gesund war. Mein Ärztin würde es mir abzapfen, daraus würde ein Medikament | |
„generiert“ und dann: endlich ein wenig Luxus in meinem Leben! | |
Weit gefehlt. Dass jenseits der vierzig die Pflanzenallergie verschwinde, | |
sei so normal wie Erektionsstörungen. Sagte mein Ärztin. Und sah mich über | |
den Rand ihrer Lesebrille kopfschüttelnd an. | |
Also blieb ich einfach nur geheilt. Und das ist ja nun nicht wenig. Der | |
Heuschnupfen hat mir zumindest eine Liebesbeziehung – und weiß Gott nicht | |
die unwichtigste – kaputt gemacht. Denn wenn zwischen März und Juli morgens | |
um sieben erst mal zwanzig Mal geniest wird, dann ist das Ehebett kein Ort | |
der Lüste oder wenigstens der Freundlichkeiten mehr, sondern ein Pfühl des | |
Hasses. Mir ist ein Fall bekannt, wo die Niesattacke einen | |
Bandscheibenvorfall auslöste, der zu monatelangem | |
Nicht-die-Wasserkästen-Hochtragenkönnen führte; und das überleben moderne | |
Ehen nur ganz selten. | |
Aber um mit Qualtingers „Der Herr Karl“ zu sprechen: „Es hat auch schöne | |
Momente gegeben.“ In Italien betrat ich einst eine Farmacia, schilderte | |
mein Problem und bekam ein gelbes Schächtelchen. Lecker – vor allem | |
zusammen mit einer Flasche Brunello. Irgendwo zwischen Benzedrin und | |
Rüganer Bio-Grass; eben ganz eigenartige Wirkung (als Nebeneffekt ging auch | |
der Heuschnupfen weg). In Deutschland trabte ich mit der Packung für | |
Nachschub in die Apotheke. Der Medizinmann musterte mich wie ein | |
bayerischer Polizist einen schwarzafrikanischen Drogendealer. Nein, ich | |
hatte kein Rezept; und bekam auch keines. | |
Und nun? Ist es schon so weit gekommen, dass ich gar nicht mehr richtig | |
mitleiden kann, wenn jemand sich beklagt und sich nicht am Frühling freut. | |
Wenn ich mich dann zu FDP-mäßig fühle im Verhältnis zu den | |
Heuschnupfenopfern, gehe ich zu Freunden. Die haben zwei Katzen: echte | |
Drecksviecher! Ambros Waibel | |
22 Apr 2012 | |
## AUTOREN | |
A. Rüttenauer | |
D. Schulz | |
A. Waibel | |
## TAGS | |
Kolumne Starke Gefühle | |
Pflanzen | |
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