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# taz.de -- Neue Ausstellung in Bremerhaven: Als die Grenzen offen waren
> Mehr als 15 Millionen Menschen in Deutschland haben einen
> Migrationshintergrund. Im Deutschen Auswandererhaus eröffnete jetzt ein
> Erweiterungsbau, der ihre Geschichten erzählt.
Bild: April 2011: Spatenstich zum Erweiterungsbau des Deutschen Auswandererhaus…
BREMERHAVEN taz | Von 1952 bis 2010 sind 31.840.647 Menschen nach
Deutschland eingewandert. Allein aus Italien kamen in diesem Zeitraum
4.410.747 Menschen nach Deutschland. Soweit die Fakten. Die werden Sie
vermutlich spätestens in fünf Minuten wieder vergessen haben.
Wie ist es hiermit: Silvio Olivier stammt aus einer oberitalienischen
Eismacherdynastie, die sein Großvater Valentino 1889 gründete, indem er
sein Eis in den Sommermonaten in hübsch geschmückten Wägen in
Süddeutschland verkaufte. Seine Söhne führten diese Tradition fort: Silvio
wird 1907 im baden-württembergischen Rastatt geboren, flieht mit seiner
Familie nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges nach Italien, kehrt in den
30er Jahren nach Deutschland zurück und macht im sächsischen Werdau eine
Eisdiele auf.
1953 flieht Silvio erneut, dieses Mal heimlich nach Westberlin, und
eröffnet wenige Monate später in Wolfsburg einen Eisladen – fast zehn Jahre
bevor die ersten italienischen Gastarbeiter ins Volkswagen-Werk kamen. Seit
Anfang 2012 führt sein Enkel Dino den Laden in dritter Generation.
Die Lebensgeschichte von Einwanderer Silvio werden Sie sich deutlich länger
merken können als die bloßen Zahlen. Nach diesem Prinzip funktioniert das
Deutsche Auswandererhaus in Bremerhaven, das mit seinem Sonntag eröffneten
Erweiterungsbau eigentlich Deutsches Migrationshaus heißen müsste.
Denn in dem Museum werden jetzt nicht mehr nur 18 Familiengeschichten aus
300 Jahren Auswanderung erzählt, sondern auch 15 Lebensgeschichten von
Einwanderern, die in den vergangenen 300 Jahren nach Deutschland kamen –
ein Novum in der deutschen und europäischen Museumslandschaft. Bisher gab
es keine Dauerausstellung, die sowohl der Auswanderung als auch der
Einwanderung gewidmet ist.
„Die Überlegung für diesen Erweiterungsbau kam schon 2009 auf“, sagt Simo…
Eick, Direktorin des Deutschen Auswandererhauses, auf der Eröffnungsfeier.
„Denn die spannenden Fragen ergeben sich genau an der Schnittstelle vom
alten zum neuen Leben: Wann wird aus einem Auswanderer ein Einwanderer?“
Die Antwort soweit: „Einwanderung ist fließend“, sagt Eick, und aus diesem
Grund werde hier immer die ganze Familiengeschichte bis zu den Kindern und
Urenkeln erzählt.
Dass Gehen und Ankommen zusammengehören, wird im Auswanderhaus auch
architektonisch aufgefangen – mit einer Brücke, die den binnen sieben
Monaten entstandenen Neubau mit dem alten Gebäude verbindet. Von der Brücke
aus blickt man hinaus auf den 1852 eröffneten Neuen Hafen, von dem bis 1890
knapp 1,2 Millionen Menschen von Bremerhaven aus in die Neue Welt
aufbrachen.
Die beiden Häuser treffen sich auch inhaltlich dort, wo aus Auswanderern
Einwanderer werden, denn hier wechselt der Besucher die Perspektive. Hat er
vorher einen der 18 Auswanderer auf seiner Reise begleitet, betritt er nun
das Deutschland des Jahres 1973, wie es die Einwanderer bei ihrer Ankunft
erlebten.
Auch das Auswandererhaus ist erweitert worden. Im 2005 eröffneten
Haupthaus, das 2007 mit dem Europäischen Museumspreis ausgezeichnet wurde,
sind jetzt Versatzstücke des größten – und vielleicht schönsten – Bahnh…
der Welt nachgebaut, des 1913 eröffneten Grand Central Terminal in New
York, der auch „das Tor zum amerikanischen Kontinent“ genannt wurde.
Bislang endete die Reise der Besucher mit der Ankunft der Auswanderer in
„Ellis Island“, der Insel im Hafen von New York, wo von 1892 bis 1954 nach
oftmals quälend langer Atlantiküberquerung jeder Immigrant von den
US-Behörden überprüft und untersucht wurde, bevor er an Land gehen durfte.
Jetzt werden die Geschichten ein Stück weitererzählt und die Besucher
erfahren, wie sich die Ausgewanderten in den USA eingelebt haben, wie zum
Beispiel Karl Otto Schulz, der Deutschland 1910 wegen der steigenden
Arbeitslosigkeit den Rücken kehrte, sich in den USA ein neues Leben als
Farmer aufbaute.
Über die Brücke geht es dann in den Neubau und durch eine Schwingtür mitten
hinein in den Alltag von 1973, hinein in das Jahr, in dem die
Bundesrepublik am 23. November den Anwerbestopp für ausländische
Arbeitskräfte verhängte – und damit ihre Einwanderungspolitik veränderte.
Einwandern kann seitdem nur noch, wer Familie in Deutschland hat,
Aussiedler aus Osteuropa ist oder Asyl sucht.
Und genau wie im Altbau, wo beispielsweise eine Kaianlage um 1880 oder das
düstere Zwischendeck eines Segelschiffes um 1850 detailgenau rekonstruiert
wurden, taucht der Besucher auch in der neuen Ausstellung wieder in eine
lebensechte Welt ein. Als Kulisse für die neue Ausstellung wurde eine
Einkaufspassage gewählt, weil sie ein öffentlicher Ort ist, an dem alle
Mitglieder einer Gesellschaft aufeinander treffen.
Hinter der Schwingtür wartet als erstes ein Kiosk mit Coca-Cola-Schriftzug,
Capri-Sonnen, vergilbter Langnese-Werbung und einer Bild-Zeitung, die am
24. November 1973 titelt: „Grenzen zu für Gastarbeiter!“ In den Auslagen
eines Antiquariats, eines Kaufhauses, eines Reisebüros, eines Fotogeschäfts
und einer Eisdiele sind ganz alltägliche Gegenstände wie Kaffee,
Hairstyling-Sets (ja, ein Fön mit sieben verschiedenen Aufsätzen wurde auch
1973 auf Englisch angepriesen) oder Ravioli-Dosen zu finden, aber auch
Erinnerungsstücke wie Fotos oder Kinderwägen der 15 Einwandererfamilien.
In einem der Schaufenster liegen auch eine silberne Eisschale und ein
Eisportionierer aus den 1950er Jahren – aus dem Besitz der Familie Olivier.
Ganz abgesehen davon, dass die Besucher hier wie nebenbei erfahren, was
Zuwanderer und die nachfolgenden Generationen von ihrer alten Heimat
aufheben, wie sie hier leben, arbeiten und lieben, funktioniert dieser Raum
auch hervorragend als Rückblick in die 1970er Jahre. Wussten Sie noch, dass
1973 ein Digital-Klappzahlenwecker von Braun 108 Mark und ein tragbarer
Telefunken Fernseher 598 Mark kostete?
Diese Mischung aus Lebenswelt und Fakten macht das Auswandererhaus so
lebendig – und auch wirtschaftlich erfolgreich. In sieben Jahren haben rund
1,4 Millionen Besucher die Ausstellung besucht und das Alltagsgeschäft
läuft hier ganz ohne öffentliche Zuschüsse. Auch ein Grund, wieso der 4,5
Millionen teure Erweiterungsbau mit zwei Millionen Euro vom Bund
bezuschusst wurde. Die absolute Ausnahme, denn eigentlich sind Museen
Ländersache.
23 Apr 2012
## AUTOREN
Ilka Kreutzträger
## TAGS
Einbürgerung
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