# taz.de -- Parlamentswahlen in Algerien: Der andere Kandidat | |
> Hakim Addad träumt vom „algerischen Frühling“: Der Sozialist und Gründ… | |
> der Jugendaktionsversammlung RAJ kommt bei seinen Zuhörern gut an. | |
> Dennoch sind viele wahlmüde. | |
Bild: Engagiert sich für einen friedlichen Wandel: Hakim Addad bei einer Wahlk… | |
ALGIER taz | Er kennt sie alle. „Hier war ich sechs Stunden.“ – „Hier | |
acht.“ – „Hier fünf.“ Wer mit Hakim Addad durch Algier spaziert, bekom… | |
nicht etwa die Sehenswürdigkeiten der algerischen Hauptstadt gezeigt. Es | |
sind Polizeiwachen, auf die der 48-Jährige verweist. | |
Zum letzten Mal wurde er Ende April bei einem Sit-in vor dem | |
Gerichtsgebäude verhaftet. Junge Arbeitslose waren gekommen, um einen der | |
ihren zu unterstützen, dem wegen der Teilnahme an einer nicht genehmigten | |
Demonstration eine Verurteilung drohte. | |
Hakim Addad ist seit 1991 politisch aktiv. Der hagere, quirlige Mann ist | |
Gründer der RAJ. Die Abkürzung steht für Rassemblement d’Action Jeunesse | |
(Jugendaktionsversammlung) und klingt gleichzeitig wie das französische | |
Wort für Wut: rage. Addad hat wegen seines politischen Engagements seine | |
Arbeitsstelle bei der Post verloren, die Verlängerung des Reisepasses wird | |
ihm seit Monaten verweigert. Er kandidiert auf der Liste mit der Nummer 17 | |
der ältesten algerischen Oppositionspartei, der Front der Sozialistischen | |
Kräfte (FFS) des Befreiungskriegsveteranen Ait Ahmed, für die | |
Parlamentswahlen am Donnerstag. | |
Addad versucht einen „anderen Wahlkampf“ zu machen. „Ich will den kleinen | |
Freiraum nutzen, den er bietet, um mit den Menschen über Politik zu reden“, | |
sagt Addad. „Ich will sie mobilisieren.“ Das ist dringend nötig. Die | |
Algerier sind wahlmüde. Vor fünf Jahren nahmen gerade einmal 36 Prozent der | |
Wahlberechtigten ihr Stimmrecht wahr. In Algier waren es gar nur 18,4 | |
Prozent. Im Mai 2012 scheint das Interesse an den Wahlen eher noch | |
geringer. | |
Selbst bei den Veranstaltungen der großen Parteien bleiben die Säle leer. | |
Die ehemalige Einheitspartei FLN und deren Regierungspartner RND mussten in | |
der Provinz Versammlungen mangels Publikum absagen. Das islamistische | |
Bündnis „Allianz für eine grünes Algerien“ um die Partei Hamas, die seit | |
Ende der 1990er mitregiert und jetzt stärkste Kraft im Regierungsbündnis | |
werden will, füllt ihre Säle mit bezahlten Fußballfans. | |
## Einst Islamistenhochburg | |
Addad ist auf dem Weg nach Bab el Oued. Das westlich der Innenstadt | |
gelegene Viertel hat für ihn und für Algerien eine ganz besondere | |
Bedeutung. Hier brachen am 5. Oktober 1988 die Jugendunruhen aus, die das | |
Ende des algerischen Einparteiensystems einleiteten. „Etwa 500 Tote gab es | |
damals“, berichtet Addad. | |
Miterlebt hat er dies freilich nicht. Der Sohn eines algerischen Vaters und | |
einer französischen Mutter wuchs zwischen Algerien und Frankreich auf. Es | |
war die politische Öffnung nach den Unruhen, die Addad zurück nach Algier | |
brachte. Am 22. November 1991 traf er mit dem Schiff aus Marseille ein. | |
Schon wenige Wochen später, am 11. Januar 1992, war es vorbei mit der | |
Hoffnung auf Freiheit und ein neues Algerien. Die Islamistische Heilsfront | |
(FIS) hatte die ersten freien Parlamentswahlen gewonnen. Die Armee brach | |
den Wahlprozess ab und übernahm die Macht. | |
„Ich war für das Beste gekommen und ich bin geblieben, um das | |
Schrecklichste zu erleben, was eine Gesellschaft hervorbringen kann“, sagt | |
Addad. Das Land erlebte zehn Jahre blutiger Konflikte. 200.000 Menschen | |
verloren ihr Leben, über 10.000 Algerier verschwanden in den Gefängnissen | |
der Geheimpolizei für immer. Unter den Opfern waren auch Bekannte Addads. | |
Das Viertel Bab el Oued war eine der Hochburgen der Islamisten. Anschläge | |
und Repression bestimmten den Alltag. | |
## Erinnerung an den Anfang | |
Zusammen mit einem Freund gründete Addad 1993 die Jugendorganisation RAJ, | |
die Jugendliche unterschiedlichster Weltanschauungen zusammenführte, um für | |
ihre Interessen einzustehen. Jedes Jahr ruft die Gruppe am 5. Oktober zu | |
einer Gedenkkundgebung für die Opfer von 1988. Und jedes Jahr landet Addad | |
wieder auf einer Polizeiwache. | |
„1996 schnappten sie mich und fuhren mich über zwei Stunden ziellos umher. | |
Ich dachte, das war’s. Die lassen dich verschwinden.“ Schließlich wurde er | |
freigelassen. Ein Jahr später heiratete Addad ebenfalls an einem 5. | |
Oktober: „Mittags saß ich schon wieder auf der Wache. Ein Polizist | |
schimpfte mich aus: ’Was zum Teufel machst du hier? Schau, dass du in die | |
Flitterwochen kommst.‘“ | |
All diese Erinnerungen werden in Bab el Oued wieder wach. Addad besucht das | |
Jugendkulturzentrum SOS Bab el Oued. Die Einrichtung entstand vor zehn | |
Jahren. Ein Probenraum, Theaterworkshop, Musik- und Sprachunterricht, | |
Debatten, Filmvorführungen sollen helfen, die alltägliche Misere und die | |
dramatischen 1990er Jahre zu vergessen. | |
Zwei Dutzend junger Erwachsener warten. Ein bunter Haufen. Rocker, Rapper, | |
ordentlich gekleidete Studenten, Mädchen mit Schleier, Mädchen mit engen | |
Hosen und kurzen Tops, grell geschminkt – Bab el Oued hat sich verändert, | |
seit die Gewalt nicht mehr den Alltag bestimmt. Die Diskussion dreht sich | |
um die Jugendarbeitslosigkeit, niedrige Löhne, Wohnungsnot, den zunehmenden | |
Drogenkonsum, aber auch um den Arabischen Frühling und mangelnde Freiheiten | |
in Algerien. | |
## Wahlmüde Jugend | |
Keiner von ihnen wird wählen gehen. Auch Addad, der mit seinen politischen | |
Analysen gut ankommt bei ihnen, kann sie nicht dazu bewegen. „Niemand nimmt | |
sich der Probleme der Menschen wirklich an“, schimpft Hibab. „Viele junge | |
Menschen sind sehr gut ausgebildet, aber es gibt einfach keine | |
Zukunftsperspektive.“ Die 25-jährige Übersetzerin schlägt sich mit | |
Gelegenheitsjobs als Tontechnikerin in der Werbebranche durch. Sie gehört | |
zu den zwei Dritteln der algerischen Bevölkerung, die unter 35 Jahre alt | |
ist. | |
Ein ordentliches Einkommen, eine eigene Wohnung, eine Familie gründen ist | |
für die meisten nur ein Traum. Viele kennen deshalb bloß einen Wunsch: | |
auswandern. Doch Hibab will „erst einmal“ bleiben. „Ich werde versuchen, | |
hier mein Ding zu machen“, sagt die schmächtige Frau mit langem braunen | |
Haar. Sie spielt Violine in einer Folkrockband. | |
Auf die Revolution in Tunesien angesprochen, gerät sie ins Schwärmen. Doch | |
eine ähnliche Entwicklung für Algerien sieht Hibab nicht: „Wir hatten | |
unsere Revolution 1988, und dann kam der Albtraum.“ 1987 wurde Hibab | |
geboren, ihre Kindheit und ein Teil ihrer Jugend bestand aus einem | |
„Hochsicherheitsleben zwischen Schule und Wohnung“. „Wir konnten nicht auf | |
der Straße spielen“, berichtet die Tochter des ehemaligen Chefredakteurs | |
einer Zeitung, die eines der Organe des Einparteiensystems gewesen ist. | |
Journalisten standen ganz oben auf der Liste der Anschlagsziele der | |
Islamisten. | |
„Wir haben wenigstens eine große Wohnung, das machte es leichter“, fügt | |
Hibab hinzu. Sie ist damit die Ausnahme in Bab el Oued. Viele Familien – | |
auch kinderreiche – leben in ein oder zwei Zimmern. „Bab el Oued ist es bei | |
weitem nicht der schlechteste Stadtteil in Algier“, sagt die junge Frau. In | |
den letzten Jahren habe der Staat viel Geld in Algiers Innenstadt | |
investiert. Die Uferpromenade von Bab el Oued wurde ausgebaut, eine U-Bahn | |
eröffnet, man hat Parks angelegt. Bald schon wird auch Bab el Oued eine | |
eigene Station haben. | |
## Bezahlte Claqueure | |
Draußen in der Banlieue sieht es ganz anders aus. Hierher verirren sich | |
selbst im Wahlkampf nicht einmal Addad und seine FFS. Dar el Beida ist | |
einer der sozialen Brennpunkte. Die ehemalige Einheitspartei FLN, die seit | |
der Unabhängigkeit Algeriens vor 50 Jahren das Land regiert, hat als | |
Einzige zu einer Wahlkampfveranstaltung geladen. Der Saal ist spärlich | |
gefüllt. | |
„Ich habe 100 Dinar erhalten“, sagt Tarik. Die meisten seien wie er wegen | |
des Handgeldes von umgerechnet einem Euro da, berichtet der 35-Jährige. Dem | |
Fernsehen solle so eine Kulisse geboten werden. Tarik hat zehn Jahre in | |
Deutschland und der Schweiz gelebt. „Als meine Eltern starben, bin ich | |
zurückgekommen, um mich um die Familie zu kümmern.“ | |
Tarik ist arbeitslos, schlägt sich mit dem Verkauf von Haschisch und | |
kleinen Diebstählen durch. Zu fünft wohnen sie in einem kleinen Zimmer in | |
einem der heruntergekommenen Wohnblocks von Dar el Beida, die Straße hat | |
keinen Bürgersteig, der Asphalt fehlt fast komplett. | |
Die Reformversprechen der FLN, all die Reden vom „algerischen Frühling“, | |
der Appell an die Bürger, wählen zu gehen, sind für ihn „Geschwätz“. | |
„Lügner“ und „Gauner“ sind noch die freundlichsten Worte, die Tarik f�… | |
Bürgermeister und die örtlichen Kandidaten der FLN findet, die unter einem | |
Transparent auftreten, das dem Symbol der tunesischen Revolution, einem | |
Kreis aus Armen mit der Landesfahne, nachempfunden ist. „Wir leben wie die | |
Tiere, während sie sich am Öl- und Gasreichtum des Landes bedienen. Die | |
haben kein Herz, sondern einen Klumpen aus Metall“, schimpft Tarik und | |
warnt: „Das wird wieder in Gewalt enden.“ | |
## Unmut und zersplitterte Opposition | |
Der Unmut der Bevölkerung verschafft sich immer wieder Luft. So Ende April | |
in Dschidschal, 360 Kilometer östlich der Hauptstadt: Ein fliegender | |
Händler zündete sich aus Protest gegen seine unerträgliche Lage selbst an. | |
Daraufhin stürmten Jugendliche die Provinzverwaltung und steckten | |
staatliche Gebäude in Brand. Die algerische Presse verzeichnete seit | |
Jahresbeginn 2011 Dutzende Selbstverbrennungen. Doch anders als in Tunesien | |
sprang der Funken der Proteste nie auf das ganze Land über. | |
Die Opposition sei völlig zersplittert und deshalb nicht in der Lage, die | |
Proteste zu einen, erklärt Addad, warum auch seine FFS und andere Parteien | |
nicht von diesem Unmut profitieren: „Außerhalb des Wahlkampfs können wir | |
uns kaum versammeln und schon gar nicht legal auf die Straße gehen.“ Die | |
zaghafte Demokratiebewegung 2011 sah sich einem riesigen Polizeiaufgebot | |
gegenüber. Zwar wurde der seit 1992 geltende Ausnahmezustand aufgehoben, | |
doch werden in Algier weiterhin keine Protestmärsche genehmigt. | |
„Die Zivilgesellschaft ist nicht tot“, sagt Addad, „aber sie lebt wie unt… | |
einem schweren Deckel. Das ist gefährlich für die Zukunft des Landes.“ | |
Addad hat dabei Syrien und Libyen als Negativbeispiele vor Augen: „Wir | |
nehmen an den Wahlen teil, um für einen friedlichen Wandel einzutreten.“ | |
Addad ist auf dem Nachhauseweg. Einer Gruppe junger Bekannter ruft er im | |
Vorbeigehen zu: „Ihr wisst schon, am 10. Mai Liste 17.“ – „Lass mal gut | |
sein. Hier wählt niemand“, lautet die Antwort. „Ihr versteht es, einem so | |
richtig Mut zu machen“, entgegnet Addad müde und geht nach Hause. | |
9 May 2012 | |
## AUTOREN | |
Reiner Wandler | |
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