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# taz.de -- Debatte Ökonomie: Der Fetisch Wachstum
> Es ist fatal: Die Mehrheit der Wirtschaftswissenschaftler setzt auf
> Wachstum als Schlüsselbegriff. Tatsächlich blockiert das aber die
> Politik.
Bild: Die Zukunft Europas ist ungewiss.
„Wachstum ist das Gleiche wie Entwicklung“. Professor Karl-Heinz Paqué
fasst in einem Satz zusammen, woran die Enquetekommission „Wachstum,
Wohlstand, Lebensqualität“ seit geraumer Zeit verzweifelt: an der
Unbelehrbarkeit einiger Wirtschaftsprofessoren. Sie vereiteln dadurch eine
der wenigen Gelegenheiten, die gegenwärtigen Krisen aus einer langfristigen
Perspektive heraus zu betrachten.
Zahlungsunfähige Banken, europäische Staatsschulden, zunehmende
Einkommensungleichheit und – fast vergessen – die fortschreitende
Umweltzerstörung: die Politik wird von der schnellen Folge der Ereignisse
getrieben. Sehr zu begrüßen war da die Einberufung einer Enquetekommission,
in der einmal mit Abstand auf die Ausrichtung unserer Wirtschaft geblickt
werden kann.
Oder könnte. Denn die Kommission hat inzwischen die Hälfte ihrer Zeit
hinter sich, und es sieht nicht besonders gut aus. Die Berichte der
Untergruppen verzögern sich; eine Gruppe hat sich grundsätzlich
zerstritten. Zugegeben: Die Aufgabenstellung der Kommission ist nicht
einfach. In fünf Arbeitsgruppen wird untersucht, welche Rolle Wachstum in
unserem Wirtschaftssystem spielt und wie die Wirtschaft in Zukunft
gerechter und ökologischer gestaltet werden kann. Eine Mammutaufgabe. Die
Ergebnisse müssen dann auch noch alle Parteien im Konsens beschließen.
## Diskussion verweigert
Es sind aber nicht vorrangig die Abgeordneten der Parteien, die sich nicht
einigen können, sondern einige Wirtschaftsprofessoren, die sich auf
bestimmte Fragen partout nicht einlassen möchten. Der entscheidende Punkt
ist, wie man auf die niedrigen Wachstumsraten der letzten Jahre und
Jahrzehnte reagieren sollte. Es sind sich alle einig, dass die
Wachstumsraten in Zukunft – wie in der jüngeren Vergangenheit – tendenziell
niedrig sein werden. Während der Großteil der Mitglieder diese Frage
bearbeiten möchte, beharren jedoch einige darauf, dass eine Steigerung des
Wachstums das primäre Ziel der zukünftigen Wirtschaftspolitik sein sollte.
Professor Paqué ist Wortführer dieser zweiten Gruppe. Seiner Meinung nach
brauche die Wirtschaft hohes Wachstum, um Schulden bedienen zu können,
Sozialsysteme zu finanzieren und international wettbewerbsfähig zu bleiben.
Daher solle die Politik versuchen, durch die richtigen Maßnahmen „noch ein
bisschen mehr rauszuholen“.
Die Mehrheit der Kommissionsmitglieder legt den Schwerpunkt hingegen auf
die Frage, wie unsere Gesellschaft angepasst werden kann, um mit niedrigen
Wachstumsraten gut zu funktionieren. Diese Frage ist Teil des
Arbeitsauftrags der Kommission. Dabei geht es um eine Vielzahl
gesellschaftlicher Bereiche, angefangen bei den öffentlichen Schulden und
den Sozialsystemen bis hin zu Strategien zum Umgang mit Arbeitslosigkeit.
Ziemlich unterbelichtet bleibt eine dritte Position: eine grundsätzliche
Kritik an weiterem Wachstum in den reichen Industrienationen, sei es wegen
des Klimawandels oder weil weiterer materieller Reichtum nicht den
menschlichen Bedürfnissen entspricht.
Unabhängig davon, welche Meinung man vertritt, eine Offenheit für
verschiedene Konzepte ist intellektuell sinnvoll und politisch notwendig.
Prof. Paqué und andere Wirtschaftswissenschaftler weigern sich jedoch,
Lösungsansätze verschiedener Couleur zu denken. Die tieferen Gründe hierfür
sind in der Konstitution der Wirtschaftswissenschaften zu finden.
## Konsum statt Glück
Erstens beschränken sich fast alle grundlegenden volkswirtschaftlichen
Theorien und Modelle auf die materiellen Aspekte des Lebens. Nutzen (oder
Glück) wird am Konsum von Gütern gemessen und nicht an Arbeitsbedingungen,
der Qualität der Umwelt oder dem sozialen Zusammenhalt. Diese Faktoren sind
kaum in das ökonomische Denkmuster integrierbar. Zentrale Argumente der
WachstumskritikerInnen verhallen deswegen ungehört.
Zweitens sind volkswirtschaftliche Theorien verhältnismäßig homogen. Die
einflussreichen Theorien weisen alle sehr ähnliche Argumentationsmuster
auf. Wachstum wird durch Humankapital und Forschung bestimmt. Andere
Faktoren wie die Verfügbarkeit von Ressourcen oder eine Sättigung der
Nachfrage spielen kaum eine Rolle. Theorien, die geringere Wachstumsraten
prognostizieren, werden nicht ernst genommen, weil sie nicht in das
herrschende Theoriegerüst passen.
## Finanzen umlenken
Wie kann dieses Problem angegangen werden? Optimal wäre es, wenn Ökonomen
selbst außerhalb ihrer üblichen „Box“ denken und sich neuen
Herangehensweisen öffnen würden. Hoffnungsvolle Ansätze in dieser Richtung
kommen von kritischen Studierendengruppen, die gängige Dogmen hinterfragen
und nach „Real World Economics“ verlangen. Im März forderte eine Reihe
engagierter ProfessorInnen im „Memorandum besorgter Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler“ einen Wandel der Ökonomik.
Um die Wissenschaft nachhaltig zu verändern, bedarf es allerdings einer
verstärkten Intervention von außen, da sonst die derzeitigen ProfessorInnen
ähnlich denkende NachwuchswissenschaftlerInnen rekrutieren. Einen
wirklichen Unterschied kann nur eine Umlenkung finanzieller Mittel auf die
Erforschung neuer Methoden und Ideen machen. Nur so können kritische
Perspektiven langfristig erarbeitet und von der Politik aufgegriffen
werden.
Neben Medien und Wissenschaft haben Lobbygruppen einen großen Einfluss auf
die Politik. Hier bedarf es einer Zunahme alternativer Stimmen (Thinktanks,
Bürgerinitiativen, NGOs etc.), die den traditionellen Lobbygruppen etwas
entgegenstellen können.
Diese Maßnahmen brauchen Zeit und kommen für die Arbeit der
Enquetekommission zu spät. Sie sind aber wohl noch wichtiger als die
kurzfristigen Ergebnisse der Kommission, deren Abschlussbericht in einem
Jahr abgeheftet wird und deren Mitglieder sich einer anderen Kommission
zuwenden werden.
14 May 2012
## AUTOREN
Steffen Lange
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