# taz.de -- Appell an die EU-Wirtschaftsregierung: Der Weg aus der Krise | |
> Der Euro ist nicht mehr zu retten. Außer mit einer gemeinsamen | |
> Wirtschaftsregierung der EU, die demokratisch legitimiert ist. Ein Appell | |
> von Romani Prodi, Daniel Cohn-Bendit, Jaques Attali und anderen. | |
Bild: Mit einer gemeinsamen Euro-Regierung nicht mehr nötig: Euro-Rettungsschi… | |
Ein weiterer Schritt in Richtung der europäischen Integration ist jetzt | |
notwendig, um zu verhindern, dass die Länder der Eurozone in den kommenden | |
Monaten oder Jahren von einer politischen und sozialen Krise größeren | |
Ausmaßes ergriffen werden. | |
Die aktuelle Krise der Eurozone hat in Wirklichkeit nicht erst mit der | |
griechischen Krise begonnen, sondern bereits viel früher, und zwar mit der | |
Errichtung einer Währungsunion ohne Wirtschafts-, Fiskal- und | |
Haushaltsunion. Zweifelsohne ist die Staatsverschuldung innerhalb der | |
letzten 30 Jahre regelrecht explodiert, aber die Hauptursache der Probleme | |
ist anderswo zu suchen. Die aktuelle Situation ist das Resultat von | |
Ungleichgewichten zwischen den Ländern der Eurozone. | |
Auf der einen Seite steht die Gruppe der nördlichen Länder, allen voran | |
Deutschland, die ihre Volkswirtschaften auf Wettbewerbsfähigkeit und | |
Exportorientierung getrimmt haben. Auf der anderen Seite haben wir die | |
Länder der Peripherie, die ihrerseits auf niedrige Zinsen gesetzt haben, um | |
die Binnennachfrage anzukurbeln und deren Wirtschaft auf Gütern basiert, | |
die nicht in den Export gehen und somit wie die Immobilien- und | |
Bauwirtschaft der internationalen Konkurrenz weniger stark ausgesetzt sind. | |
## Strukturelle Herausforderungen | |
Der Ausbruch der griechischen Krise hat diese strukturellen | |
Herausforderungen offengelegt und damit eine Krise des Vertrauens in die | |
Nachhaltigkeit der öffentlichen Haushalte erzeugt: Die Gläubiger haben die | |
Unhaltbarkeit der Ungleichgewichte in der Eurozone wahrgenommen. Seitdem | |
erreichen die Zinssätze Höchstwerte und rufen mittlerweile sogar | |
Verstärkungseffekte hervor: Liegen sie über der Wachstumsrate des | |
Bruttoinlandsprodukts (BIP), erfährt die Entwicklung der Schulden eine sich | |
selbst erhaltende Dynamik, es sei denn, es gelingt, größere | |
Haushaltsüberschüsse freizusetzen. | |
Um diese Überschüsse zu realisieren, haben alle Länder drastische | |
Rettungspläne auf die Beine gestellt; zudem hat die Intervention der | |
Europäischen Zentralbank eine Atempause von einigen Monaten verschafft. | |
Die fehlende Koordination und der Schritt-für-Schritt-Charakter der | |
Rettungspläne erlauben es nicht, die Erfordernisse von Wachstum und | |
Sparsamkeit miteinander vereinbar zu machen. Erschwerend kommt hinzu, dass | |
die Einschnitte bei den Ausgaben, getrieben durch die Suche nach möglichst | |
schnellen Gewinnen, vorrangig auf Sozialausgaben und öffentliche | |
Investitionen abzielen; und dies alles auf Kosten der Zukunft. | |
Dieses Klima der Unsicherheit bremst die Binnennachfrage, da es die | |
Haushalte vorziehen, in Erwartung steigender Steuern zu sparen. | |
Gleichzeitig schränken die Banken die Kreditvergabe an den privaten Sektor | |
ein, um ihre Bilanzen wieder in den Griff zu bekommen. In dieser Situation | |
kann eine Wiederbelebung der Wirtschaft weder von der Binnennachfrage | |
ausgehen noch von den privaten Investitionen und ebenso wenig von den | |
öffentlichen Aufträgen. | |
## Verurteilt zu geringem Wachstum | |
Die am höchsten verschuldeten Länder sind zu einem sehr geringen Wachstum | |
verurteilt, was die Last ihrer hohen Schulden noch weiter verstärkt. Ohne | |
einen Wandel in der Denkweise wird Europa nicht aus dieser Krise | |
herauskommen. Sollte sich das aktuelle Szenario fortsetzen, wird der Euro | |
nicht in der Lage sein, sich den drohenden Fliehkräften und der Zunahme | |
populistischer Diskurse zu widersetzen. Sein Verschwinden wird nur noch | |
eine Frage der Zeit sein. | |
Ein anderer Weg ist jedoch möglich. Er besteht darin, den Lissabon-Vertrag | |
zu bearbeiten, besonders, um die bloße Koordination zwischen den | |
Mitgliedstaaten, die unzureichend geworden ist, zu überwinden. Dieser Weg | |
besteht darin, die Kosten eines Nicht-Europas klar zu benennen, sie zu | |
reduzieren und letztendlich ganz zu beseitigen. | |
Zu diesem Zweck sind zum einen die Altschulden einzudämmen, indem ein Teil | |
davon vergemeinschaftet wird, wie es unter anderem vom deutschen | |
Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage und | |
vom Institut Bruegel vorgeschlagen worden ist. Ein solcher Schritt wird in | |
den verschuldeten Ländern die Zinssätze senken und gleichzeitig | |
Handlungsspielräume zurückgeben. | |
In diesem Zusammenhang wird es erforderlich sein, die Zusammenarbeit | |
zwischen der Europäischen Kommission und den nationalen Finanzministerien | |
im Rahmen eines Europäischen Fiskalinstituts auszubauen, die Einrichtung | |
eines Europäischen Finanzministeriums im Blick, ganz nach dem Vorbild des | |
Europäischen Währungsinstituts, welches der Gründung der EZB vorausging. Es | |
würde sich um eine weitere Etappe auf dem Weg zu einer Europäischen | |
Wirtschaftsregierung mit einem föderalen Finanzminister handeln. | |
Anschließend muss es vor allem darum gehen, die Produktivität über | |
Strukturreformen vor allem im Dienstleistungssektor und über Investitionen | |
in Wachstumsprojekte wieder anzukurbeln. Derartige Projekte existieren in | |
folgenden Bereichen: in der Energieübertragung (smart grid) und der | |
Energieeffizienz, in den Bereichen der sauberen Transporte und der | |
Stadtpolitik, in der Luftfahrt, in der Nanotechnologie, in der | |
Digitalindustrie, in der Kognitionsforschung. | |
Überall arbeiten Akteure in der Industrie an Projekten von europäischer | |
Tragweite, an deren Finanzierung alle Länder beteiligt sind. Hierfür ist es | |
erforderlich, sogenannte projects bonds zu entwickeln, das heißt gute | |
Schuldverschreibungen, die ausschließlich dem Ziel dienen, Projekte zu | |
fördern, die zukünftige Einkommen generieren. Auf der Basis von Vorschlägen | |
der Europäischen Kommission wird die Europäische Investitionsbank solche | |
Projekte problemlos tragen können. | |
Investoren werden diese projects bonds nur kaufen, falls die Mittel zu | |
ihrer Rückzahlung nicht aus freiwilligen Zahlungen der Länder der Eurozone | |
stammen, da so ihre nationalen Gesamtschulden erhöht würden. Allein eine | |
wirklich europäische Steuer im Rahmen eines föderalen Budgets kann diesem | |
neuen Werkzeug zur Wachstumsförderung die erforderliche Glaubwürdigkeit | |
verleihen. | |
Zu seiner Finanzierung könnte man daran denken, einen Prozentpunkt des | |
Mehrwertsteueraufkommens abzutreten, oder an die Einführung einer CO2- oder | |
einer Finanztransaktionssteuer. Auf diesem Wege wird es möglich sein, mit | |
den projects bonds mehr als 1.000 Milliarden Euro zu generieren, um sie in | |
Zukunftsprojekte zu investieren, um wirkliches Wachstum und eine | |
stimulierende Vision von Europa zu schaffen und die Mechanismen zur | |
Auflösung der ursprünglichen Ungleichgewichte zu schaffen. | |
## Parlamentarische Dimension | |
Keine Steuer kann jedoch ohne demokratische Legitimation eingeführt werden | |
und ohne die Vertrauenskrise unter den Bürger der Europäischen Union | |
aufzulösen, indem man ihnen eine neue Zukunftsperspektive eröffnet. Dies | |
bedeutet, dass man dem Prozess eine parlamentarische Dimension geben muss: | |
der Euro wird ohne bedeutende politische Fortschritte nicht überleben | |
können. Der Föderalismus ist der einzig gangbare Weg, mit dem sich eine | |
größere Krise verhindern lässt, der eine ganze Generation zum Opfer fallen | |
würde. | |
Die Parlamentarier aus den Ländern der Eurozone müssen ab sofort | |
zusammenkommen, dabei offen sein für die Teilnahme anderer europäischer | |
Parlamentarier, die daran teilnehmen wollen, und den Weg bis zu den | |
kommenden Europawahlen abstecken: Auf Basis ihrer Beschlüsse werden diese | |
europäischen Parlamentarier Tagungen zur Zukunft Europas, ausgehend von der | |
Eurozone, organisieren, an denen sowohl Delegationen des Europaparlaments | |
als auch Mitglieder der nationalen Parlamente teilnehmen werden, so wie | |
dies bereits von François Mitterrand vor dem europäischen Parlament 1989, | |
kurz vor dem Fall der Berliner Mauer, vorgeschlagen worden ist. | |
Ein solcher notwendiger Föderalismus würde zu einem wirklich politischen | |
und sozialen Europa führen, dessen Institutionen über ein gerechtes | |
Zusammenspiel von Fiskal- und Geldpolitik, über die Stimulation der | |
wirtschaftlichen Aktivität, über Strukturreformen zur Erhöhung der | |
Wettbewerbsfähigkeit und einen stärkeren sozialen Zusammenhalt wachen | |
würden. | |
Das Überleben des Euro kann nur durch eine gemeinsame Wirtschaftsregierung | |
und ein europäisches Budget zur Förderung des Wachstums gesichert werden. | |
Nur der Föderalismus ist in der Lage, den Zusammenbruch der Eurozone mit | |
all seinen katastrophalen Folgen für unseren aktuellen Lebensstandard zu | |
verhindern. Er würde den Europäern den Weg zu einem gerechten, | |
solidarischen und demokratischen Europa ebnen, das in der Lage ist, seinen | |
Platz in der Welt einzunehmen. | |
9 May 2012 | |
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