# taz.de -- Nachruf Carlos Fuentes: Der Pathologe der Macht | |
> Seine Werke waren brutal nah an der Realität: Er sezierte Macht, er war | |
> stetiger Anwärter auf den Literaturnobelpreis. Ein Nachruf auf den | |
> mexikanischen Autor Carlos Fuentes. | |
Bild: Beißend polemisch, aber nie verbittert: Carlos Fuentes. | |
„Ständige Arbeit hält mich jung“, sagte Carlos Fuentes in seinem letzten | |
Interview. „Ich habe gerade ein Buch abgeschlossen und schon das nächste im | |
Kopf. Am Montag fange ich mit dem Schreiben an.“ Das Gespräch erschien am | |
14. Mai in der spanischen Tageszeitung „El País“. Einen Tag später ist | |
Fuentes nach einer plötzlich aufgetretenen inneren Blutung in Mexiko-Stadt | |
im Alter von 83 Jahren gestorben. | |
Das eben abgegebene Manuskript trägt den Titel „Federico en su balcón“ | |
(„Friedrich auf seinem Balkon“), ein imaginärer Dialog mit Nietzsche. Das | |
geplante sollte „El Baile del Centenario“ heißen („Der Tanz des | |
Jahrhunderts“); eine Geschichte, mit der er das Jahrhundert zwischen der | |
Unabhängigkeit Mexikos 1810 und der 1910 beginnenden Revolution erzählen | |
wollte. Beides sind Themen, die Fuentes sein Leben lang in Romanen, Essays | |
und politischen Kommentaren beschäftigt haben: Die Verkommenheit der Macht | |
und die große und gleichzeitig verkorkste Geschichte seines Landes. | |
Mindestens in den beiden vergangenen Jahrzehnten war Fuentes stetiger | |
Anwärter auf den Literaturnobelpreis. Doch anders als Gabriel García | |
Márquez und Mario Vargas Llosa, die beiden anderen Protagonisten des „El | |
Boom“ genannten Aufschwungs der lateinamerikanischen Literatur in den | |
1950er- und 60er-Jahren, hat er ihn nie bekommen. Sein Werk ist | |
international einfach nicht so leicht zu vermarkten. | |
## Seine Liebe zu Mexiko - mehr als nationale Literatur | |
Dabei war Fuentes der lebendigste der drei. Vargas Llosa, einst | |
rebellischer Schriftsteller aus Peru, wurde erst zum neoliberalen | |
Präsidentschaftskandidaten der Oberschicht seiner Heimat, hat dann | |
Lateinamerika den Rücken gekehrt und die spanische Staatsbürgerschaft | |
angenommen und sucht heute seine Themen auf der ganzen Welt. García Márquez | |
hat 1996 mit der Großreportage „Nachricht von einer Entführung“ zum letzt… | |
Mal ein bedeutendes Buch vorgelegt und bespiegelt sich seither nur noch | |
selbst. | |
Fuentes dagegen produzierte einen Roman nach dem anderen, immer hart an der | |
Realität, und fast alle seine Bücher sind gut (die letzten leider noch | |
nicht auf deutsch erschienen). Sie handeln immer von Mexiko und sind doch | |
viel mehr als nationale Literatur. Seine zweite große Passion - die | |
Sezierung der Macht - macht sie zu Werken mit symbolhafter Ausstrahlung | |
weit über Mexiko und Lateinamerika hinaus. | |
Geboren wurde er am 28. November 1928 in Panamá-Stadt als Sohn eines | |
Diplomaten. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er in den Hauptstädten des | |
amerikanischen Kontinents, von Washington im Norden bis Buenos Aires und | |
Santiago de Chile im Süden. Erst mit 16 kam er nach Mexiko-Stadt. | |
## Die Autorinnen seiner Bücher | |
Dort waren es seine beiden Großmütter, die ihn mit ihren Geschichten von | |
Banditen und Revolutionen, von Liebe und Verrat für das Wesen seines Landes | |
begeisterten. Diese beiden Frauen, sagte er 2006 in einem Interview, „sind | |
die eigentlichen Autorinnen meiner Bücher“. Er lebte später in Paris, in | |
London, in Venedig und lehrte immer wieder in den USA. | |
Er war ein Weltbürger mit ganz tiefen Wurzeln zu Hause. Den Durchbruch | |
schaffte er als 30-Jähriger mit dem Roman „Landschaft in klarem Licht“ | |
(1958), dem ersten literarischen Bild des modernen Molochs von Mexiko | |
Stadt. Schon da unterschied ihn seine brutale Nähe zur Realität vom | |
süßlich-ländlichen magischen Realismus eines García Márquez. | |
Seine nachfolgenden großen Erfolge wie „Der Tod des Artemio Cruz“ (1962) | |
oder „Der alte Gringo“ (1985) behandeln Glanz, Leid und Niedergang der | |
mexikanischen Revolution. Sein genialer Briefwechsel-Roman „La Silla del | |
Águila“ (2003) nimmt beispielhaft und ironisch die korrupte Wirtschafts- | |
und Politikerelite Mexikos auseinander. „La Voluntad y la Fortuna“ (2008) | |
ist eine literarische Aufarbeitung des Drogenkriegs aus der Sicht eines | |
geköpften Opfers. | |
## Der politische Mitmischer | |
Fuentes glaubte zwar, dass er als Romancier am meisten zu sagen habe, | |
mischte sich aber auch als Kommentator direkt ins politische Geschehen ein. | |
Sein größter Wurf auf diesem Feld ist das Essay „Der vergrabene Spiegel“ | |
(1992), eine kulturhistorische Erörterung Lateinamerikas von der spanischen | |
Eroberung bis in die Gegenwart. Lange vor der bolivarischen Vision eines | |
Hugo Chávez entwirft er darin am Ende voll Optimismus die Möglichkeit eines | |
eigenständigen und wirklich unabhängigen Hispanoamerikas. Für den | |
linkspopulistischen Präsidenten Venezuelas hatte er später nur grimmige | |
Worte übrig: Er nannte ihn einen „tropischen Mussolini“. | |
Dabei verstand sich Fuentes immer als politisch links. Parteien jedoch | |
interessierten ihn nie. In Mexiko gehörte er zu den schärfsten Kritikern | |
der sieben Jahrzehnte lang herrschenden Staatspartei PRI und ihrer | |
korrupten und repressiven Klientelwirtschaft. Er unterstützte zunächst | |
Fidel Castro, kritisierte ihn aber später scharf wegen autoritärer Allüren. | |
Er lobte die Sandinisten in Nicaragua und verachtete später deren | |
selbstherrlichen Chef Daniel Ortega. Er mischte sich in die Debatte um die | |
Legalisierung der Drogen ein - für ihn der vielleicht einzige Weg, das | |
Gemetzel zu beenden, das heute Mexiko paralysiert. | |
Zuletzt äußerte er sich zur Wahl um die mexikanische Präsidentschaft am 1. | |
Juli, bei der allen Umfragen zu Folge die PRI an die Macht zurückkehren | |
wird. Ihr Kandidat Enrique Peña Nieto, sagte Fuentes, sei „sehr klein im | |
Vergleich zu den enormen Problemen Mexikos“. Der nicht eben intellektuelle | |
Politiker, der in einem Interview den Fuentes-Roman „La Silla del Águila“ | |
einem anderen Autor zugeschrieben hatte, habe zwar „das Recht, meine Bücher | |
nicht zu lesen“, aber „nicht das Recht, Präsident zu sein“. Leider seien | |
auch die anderen Kandidaten „medioker“ und „denkbar uninteressant“. | |
So beißend polemisch Carlos Fuentes sein konnte, er wirkte selbst bei | |
solchen Spitzen freundlich und gut gelaunt, immer elegant und nie | |
verbittert. Die Arbeit hat ihn bis zu seinem Tod jung gehalten, nichts | |
konnte seinen Optimismus brechen. Am Tag, als er starb, erschien in der | |
linksliberalen mexikanischen Tageszeitung „La Jornada“ sein letztes | |
politisches Essay: über die Hoffnung, die er aus dem Regierungswechsel in | |
Frankreich schöpfte. | |
17 May 2012 | |
## AUTOREN | |
Toni Keppeler | |
## TAGS | |
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Nicaragua | |
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