# taz.de -- Kolumne Bitches in Baku #4: Das Wacken der Schwuppen | |
> ESC-Fans sind die Links zu einem bekennenden Europäertum: In das | |
> Raumschiff ESC dürfen alle einsteigen, egal wie schlecht ihre Stimme ist | |
> oder ihre Frisuren sind. | |
Bild: Könnte popästhetischer Müll sein. Darf aber trotzdem mit ins Raumschif… | |
Das muss auch in Baku bemerkt werden: Dass die Fans des Eurovision Song | |
Contest eine eigene, man könnte sagen, selbstbestimmte zum Ereignis selbst | |
einnehmen. Viel wird allgemein in der heterosexuellen Öffentlichkeit – und | |
bei einigen homosexuellen Selbsthassern -, dass die Lieder des ESC Abfall | |
des Pop, ja, Sondermüll des zeitgenössischen Musikalischen sind. Dass | |
niemand diese Lieder hört, außer den Fans. Nur gemacht, um in einem | |
Wettbewerb verklappt zu werden. Motto: Wird schon reichen, um nicht Letzter | |
zu werden. | |
Eine heterosexuelle Freundin bemerkte mal, das sei das Festival der | |
Schwulen, und die würden doch Trash lieben. Es war, als spräche eine | |
gutmeinende, gleichwohl subtilst fies-mütterlich einwirkende Tante auf mich | |
ein. Etwa, als sagte sie: Du bist ja sonderbar, mein Kind, aber Gott hat | |
auch Dich lieb, ich vor allem. | |
Unter den Fans des Grand Prix Eurovision läuft niemand herum, egal aus | |
welchem der 45 Ländern, aus denen sie kommen, der von sich behauptet, | |
ästhetischen Dreck zu bevorzugen. In Wahrheit scheint es ihnen eher so, als | |
genössen sie das Spektakel der Eurovision – immerhin ist es die einzige | |
nichtsubventionierte Kulturveranstaltung in Europa, die auch Geschmäcker | |
vorstellt, welche sich dem allgemeinen, auch independenten Pop entziehen. | |
## Allen den Hof machen | |
Man hält allgemein hier Abba für das größere Popgeschenk als das die | |
Beatles abgaben; auch kann man unter Fans mehr mit Lady Gaga oder Madonna | |
anfangen als mit Männergeheul wie Jack Johnson oder Gruppen wie Kettcar, | |
von unsäglich selbstbesoffenen Gruppen wie Kettcar zu schweigen. Eurovision | |
Song Contest, das ist das Wacken der Schwuppen, könnte man sagen. Und sie | |
machen allen den Hof, allen Acts, die beim ESC auftreten. | |
Egal, aus welchem Land: Wenn Fans, die als Journalisten arbeiten, allen | |
Künstlern für die tolle Show danken, darauf insistieren, es müsse doch vom | |
isländischen Lied auch eine kroatische Fassung geben, der | |
Völkerverständigung wegen, außerdem sei diese oder jene Sängerin besonders | |
prima – geben sie buchstäblich allen Künstlern das Gefühl, wenigstens für | |
eine Viertelstunde, etwas ganz Besondereres auch über die eigene | |
Landesgrenze hinweg zu sein. | |
Sagt die Albanerin, dass ihr peinsames Lied vom Schmerz handele, der sie | |
jedes Mal wieder auf der Bühne überkomme, weint das mitstenografierende | |
Auditorium beinahe mit; sagt die Schwedin Loreen, sie fühle sich gut bis | |
perfekt, dann kriegt sie Applaus. Es ist wie neulich bei einer | |
Pressekonferenz von Madonna: Da wussten die Medienmenschen auch nur Fragen | |
zu haspeln – eher wollten sie einer Séance beiwohnen. | |
## Jenseits der Einflussspähren | |
Das ist eben das, was alle Künstler, auch Roman Lob, der gestern in Baku | |
eintraf und morgen die erste Probe absolvieren muss, genießen können: | |
Aufmerksamkeit auch jenseits der üblichen Einflusssphären ihres Pop. | |
Insofern darf man die These wagen, dass ESC-Fans die Links zu einem | |
bekennenden Europärtum sind. Sie kommen miteinander aus, das ist dem | |
Korpsgeist des ESC geschuldet: Alle sind willkommen. | |
Wobei in diesem Jahr in Baku tatsächlich weniger angereist sind als voriges | |
Jahr in Düsseldorf oder in Oslo 2010. Irre und Wirre gibt es natürlich | |
auch, aber gibt es die beim Fußball nicht erst recht? | |
Könnte dieser ESC nicht trotzdem Müll sein – popästhetisch? Ach Gottchen, | |
könnte sein. Etwa pseudopolitische Acts aus Montenegro oder die Iren von | |
Jedward, die immer noch glauben, gezuckert-steife Frisuren könnten | |
dauerhaft vom mangelnden Gesang ablenken. Aber wer wollte das bestimmen. | |
Das Raumschiff ESC mit seinen Fans und Funktionären genießt Baku. Sie sind | |
alle bitchig genug, die allgemeinen Auffassungen von Coolness im Pop | |
missachten zu können. | |
18 May 2012 | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
Jan Feddersen | |
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Schwerpunkt Eurovision Song Contest | |
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