# taz.de -- Rabbi Simon über jüdisches Leben: "Ich klaue keine Ziegen" | |
> Tobias Jona Simon fand erst mit 25 Jahren zum Judentum und wurde ein | |
> liberaler Rabbi. Trotzdem betreut er drei konservative niedersächsische | |
> Gemeinden. | |
Bild: Der Austausch mit seiner Frau ist ihm durch den Umzug in die niedersächs… | |
taz: Herr Simon, wie fromm sind Sie eigentlich? | |
Jona Simon: Was meinen Sie mit „fromm“? | |
Glauben Sie jedes Wort der Thora? | |
Wenn ich jedes Wort glaubte, weil es in der Thora steht, wäre ich nicht | |
fromm, sondern dämlich. Andererseits: Dass diese Dinge in der Thora stehen, | |
brauche ich nicht zu glauben, das sehe ich. Eine andere Frage ist, ob das | |
Ganze eine Bedeutung für mich hat. | |
Wie steht es mit den Geboten? | |
Angeblich enthält die Tora 613 Gebote. Diese Zahl mag stimmen. Aber von | |
diesen 613 Geboten sind etliche für den Priester bestimmt oder ans Land | |
Israel gebunden. Für mich als heutigen Juden, der in Deutschland lebt, | |
bleiben nicht viele. Nach ihnen versuche ich mich zu richten. | |
Zum Beispiel? | |
Nach den Feiertags- und Ernährungsregeln – und nach Regeln fürs | |
Zusammenleben. Ich klaue zum Beispiel meinem Nachbarn keine Ziege. | |
Falls er eine hat. | |
Auch nicht seine Winterreifen. | |
Sind Sie eigentlich orthodox oder liberal? | |
Liberal. | |
Und Ihre Gemeinden? | |
Ich bin für Hameln, Hildesheim und Göttingen zuständig, und überall | |
existieren eine liberale und eine konservative Gemeinde. Ich betreue die | |
konservative. | |
Fällt Ihnen das schwer? | |
Es zwingt mich zur Flexibilität, denn auch hier gibt es Unterschiede. In | |
Göttingen etwa sitzen Männer und Frauen gemischt in der Synagoge und sind | |
religiös gleichberechtigt. In Hameln dagegen sitzen sie getrennt. | |
Schätzen die konservativen Gläubigen einen liberalen Rabbi – oder | |
verschweigen Sie das? | |
Da gibt es nicht viel zu verschweigen. Es ist klar, dass ich am | |
Abraham-Geiger-Kolleg studiert habe. Wir haben dort allerdings gelernt, | |
sowohl mit liberalen als auch mit konservativeren Gemeinden umzugehen und | |
nach dem jeweiligen Ritus zu beten. Und was mich betrifft: Bis jetzt habe | |
ich nicht den Eindruck, dass die Menschen nicht mit mir einverstanden sind. | |
Stimmt es, dass Deutschlands jüdische Gemeinden zu 90 Prozent aus | |
russischen Zuwanderern bestehen? | |
Ja. Manchmal sind es sogar 100 Prozent. | |
Deren Altersdurchschnitt? | |
In den niedersächsischen jüdischen Gemeinden sind 50 Prozent der Menschen | |
über 50 Jahre alt. 18 Prozent sind über 70. | |
Es gibt also viele junge Leute, die sich jüdisch fühlen, obwohl sie es in | |
der Sowjetunion nicht gelernt haben. | |
Ja – wobei wir uns schwer tun, Jugendliche und Erwachsene bis 45 zu | |
erreichen. Angebote für Kinder und Rentner existieren – aber die anderen | |
kommen zu kurz. Da weiß ich oft nicht, ob ich etwas anbieten oder lieber | |
fragen soll, was sie wollen. Andererseits ist es schwer, sich etwas zu | |
wünschen, wenn man nicht weiß, wovon die Rede ist und wie man Judentum | |
leben kann. | |
Ärgert es Sie, dass die Zuwanderer wenig über das Judentum wissen? | |
Nein. Da ich von vornherein davon ausgehe, dass sie wenig wissen, werde ich | |
manches Mal vom Gegenteil überrascht. Da sagt jemand: Ich stamme aus einer | |
nicht religiösen Familie. Und dann erwähnt er, dass die Mutter am Sabbat | |
zwei Kerzen angezündet hat und dass sie an Pessach immer Mazze gegessen | |
haben. | |
Aber er hat es nicht als religiöses Ritual gedeutet. | |
Nein. Für viele der Zugewanderten hat das Wort „Judentum“ eher eine | |
kulturelle Bedeutung. Das wiederum können die alteingesessenen deutschen | |
Gemeindemitglieder schwer akzeptieren: dass für manche Menschen ein | |
Kochkurs richtiger ist als einer über jüdische Feiertage. | |
Führt das zu Konflikten? | |
Ja, aber diese Reibungen haben viele Gründe. Wenn man sich vorstellt, dass | |
manche Gemeinde bis 1990 rund 200 Mitglieder hatte und binnen zwei Jahren | |
1.800 weitere Menschen integrieren soll, ist klar, dass das Probleme gibt. | |
Wie funktioniert es in Ihren Gemeinden? Vermitteln Sie? | |
In Nordwest-Niedersachsen, Oldenburg und Delmenhorst, funktioniert das | |
Zusammenspiel recht gut. Und was mich betrifft: Ich weiß nicht, ob ich der | |
Richtige bin, um zu vermitteln. Schließlich bin ich für alle | |
Gemeindemitglieder verantwortlich und nicht für Fraktionen. Außerdem | |
spreche ich kein Russisch – noch nicht. | |
Sie wollen es lernen? | |
Ich liebäugele mit dem Gedanken, dieses Jahr einen Russischkurs zu machen. | |
Da ich zurzeit aber auch die Gemeinden meiner Frau betreue, die im | |
Mutterschutz ist, habe ich keine Zeit für intensive Sprachstudien. | |
Was hat Sie überhaupt zum Judentum gebracht? | |
Einerseits, dass es keine Dogmen gibt. Ich bin nicht, wie im Christentum, | |
verpflichtet, etwas zu glauben, um dazuzugehören. Im Judentum, dem ich mich | |
als 25-Jähriger angeschlossen habe, kommt es eher auf das Handeln an. | |
Außerdem schätze ich es, dass zwar die Mehrheit entscheidet, die | |
Minderheitenmeinung aber immer gewürdigt wird. | |
Das sind rationale Gründe. Wo bleibt der Funke? | |
Wenn ich heute nicht so müde wäre, hätten meine Augen eben bei jedem Satz | |
gefunkelt. Letztlich war es, würde ich sagen, die Kombination all dieser | |
Gründe. | |
Sind Sie ein Verstandesmensch? | |
Eigentlich bin ich eher Kopfmensch – was nicht unbedingt positiv ist. Die | |
wirklich wichtigen Entscheidungen habe ich aber aus dem Bauch heraus | |
getroffen. Ich habe aus einem Bauchgefühl heraus geheiratet und all meine | |
Studien aus einem Bauchgefühl heraus angefangen. | |
Sie haben Linguistik und Judaistik studiert. Warum? | |
Als ich mit der Schule fertig war, fiel mir irgendwann eine Broschüre über | |
die Heidelberger Hochschule für jüdische Studien in die Hände. Ich dachte: | |
Das interessiert mich und bin mit einem Freund hingefahren, um mir das | |
anzugucken. Er hat sich gegen Heidelberg entscheiden, und dann wollte ich | |
auch nicht. Dann habe ich an Freizeit- und Tourismuswissenschaften gedacht, | |
aber der Anmeldeschluss war vorbei. Zur Überbrückung habe ich mit | |
Linguistik angefangen. Das war aber sehr abstrakt, und irgendwann ist mir | |
der Heidelberger Judaistik-Studiengang wieder eingefallen. | |
Der als konservativ gilt. | |
Ja, und deshalb riet mir die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Bielefeld, | |
wo ich damals wohnte, ans Potsdamer Abraham-Geiger-Kolleg zu gehen. Das war | |
liberaler. Meine Mutter sagte, das ist ein reines Rabbinats-Studium, ein | |
Tunnelstudium. Wenn du keine Stelle bekommst, kannst du nichts anderes. | |
Mach lieber eine akademische Ausbildung. Wir haben dann erfahren, dass es | |
in Potsdam auch an der Uni ein Judaistik-Studium gab. | |
Sie haben sich gegen das Geiger-Kolleg entschieden? | |
Nein. Ein Kommilitone sagte mir, dass ich parallel zur Uni am Kolleg | |
studieren könnte. Das habe ich gemacht: Judaistik im Hauptfach, Spanisch im | |
Nebenfach und nebenbei das Rabbinats-Studium am Kolleg. | |
Das klingt nach viel Arbeit. | |
Ist es auch, und es hat lange gedauert. Aber ich bereue keine Minute. | |
Seit wann wussten Sie, dass Sie Rabbi werden wollen? | |
Es hat sich im Laufe der Jahre entwickelt – auch durch die Begegnung mit | |
dem Kommilitonen, der mir gesagt hat, dass man akademische und rabbinische | |
Ausbildung parallel machen kann. | |
Ihre Mutter ist Lehrerin, Ihr Vater Pastor. Wie standen sie zu Ihrer | |
Berufswahl? | |
Da müssten Sie eigentlich meine Eltern fragen. Mein Eindruck war: positiv. | |
Meine Mutter, die aus einem nicht religiösen Elternhaus stammt, sagt immer: | |
Es ist merkwürdig, die Religion zum Beruf zu machen. Aber sie hat es mir | |
nicht ausgeredet. Auch mein Vater hat mich in jeder Hinsicht unterstützt. | |
Ihre Frau, Alina Treiger, ist Deutschlands erste Rabbinerin seit der Shoah. | |
Wie lebt es sich in einer Rabbiner-Ehe? | |
Sehr gut! Ich habe immer jemanden, mit dem ich mich fachlich austauschen | |
kann. Und das ist, seit wir von Berlin nach Oldenburg zogen – weit weg von | |
jüdischen Zentren – noch wichtiger geworden. Wenn ich meine Frau nicht | |
hätte, wär ich in vielen Situationen aufgeschmissen. | |
Sie sprechen zu Hause viel über den Beruf? | |
Es fällt uns schwer, Privat- und Berufsleben zu trennen. Das müssen wir | |
noch lernen. | |
Dürfen Sie überhaupt alles miteinander besprechen? | |
Nein, wir unterliegen der Verschwiegenheitspflicht. | |
Inwiefern? | |
Wir dürfen nicht erzählen, was uns im Seelsorgegespräch anvertraut wurde. | |
Das fällt mir manchmal schwer. Da weiß ich nicht, wie ich mit bestimmten | |
Situationen umgehen soll und würde am liebsten meine Frau fragen. Ich weiß | |
aber: Wenn ich die Geschichte auch nur andeute, begreift sie sofort, um wen | |
es geht. | |
Wie lösen Sie das Dilemma? | |
Indem wir mehrmals jährlich zum Postgraduate-Programm nach Berlin ans | |
Kolleg fahren. Dort gibt es Gruppen- und Einzelsupervisionen, wo man solche | |
Dinge besprechen kann. | |
10 Jun 2012 | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
Petra Schellen | |
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