# taz.de -- Auf den Spuren von Jean-Jaques Rousseau: Zurück zur Schweizer Natu… | |
> Zum 300. Geburtstag von Jean-Jaques Rousseau an seinen | |
> Lebensschauplätzen. Highlights sind Spaziergänge durch die Regionen am | |
> Genfer, Neuenburger und Bieler See. | |
Bild: Wie aus dem Bilderbuch: Das Wasserschloss Chillon am Genfer See. | |
Genf stinkt nach Geld. Blickt man vom Fuße der Altstadt aus auf den Genfer | |
See, schießt zur Rechten eine Wasserfontäne bis zu 140 Meter hoch in die | |
Luft, der Jet deau. Links sieht man an der Uferpromenade elegante | |
Häuserblocks. Genf, Stadt der Banken, multinationaler Unternehmen und | |
Luxusuhrenhersteller. | |
Im Grabe umdrehen würde sich Jean-Jacques Rousseau kaum. Er, der | |
berühmteste Sohn der Stadt, der vehemente Kritiker von Privatbesitz, dessen | |
Geburtstag sich am 28. Juni zum 300. Mal jährte und der sich stolz Citoyen | |
de Genève nannte, Bürger des seit der Reformation republikanischen Genf. | |
Auch damals nämlich herrschte hier das Geld. Rousseaus Vater war selbst | |
Uhrmacher. Das Schweizer Nationalhandwerk brachten französische | |
Protestanten mit, zu denen auch die Vorfahren des späteren Geldverächters, | |
radikalen Kulturkritikers und Wegbereiters der Französischen Revolution | |
gehören. | |
Rousseaus Geburtshaus steht in der Grand Rue Nr. 40, mitten in der | |
heimeligen Altstadt. Am Place du Bourg-de-Four blüht das Leben in Bars und | |
Restaurants. Abends duftet es überall nach Käsefondue, serviert wird aber | |
auch der im See gefischte Eglifisch, zu dem die süffigen regionalen | |
Chasselas-Weine passen. | |
Man kann sich lebhaft vorstellen, wie der Autor der Pädagogikbibel "Emile" | |
als Kind im Stadtkern herumtobte und sich beim Versteckspiel in den Nischen | |
der über Jahrhunderte errichteten eklektischen Kathedrale verkroch. | |
Darauf jedoch, dass es den unbändigen, wissbegierigen Jungen nicht lange in | |
engen Stadtmauern halten konnte, weist eine kleine Ausstellung im | |
Rousseau-Haus hin, wo heute Lesungen veranstaltet werden. | |
## Urwüchsige Bergketten | |
"Zurück zur Natur!", lautet der legendäre Imperativ, der dem Verfasser des | |
"Diskurs über die Ungleichheit" gerne untergejubelt wird. Wahr ist, dass es | |
den leidenschaftlichen Spaziergänger hinaustrieb, ins Freie, in die Natur. | |
Das sind in erster Linie die rings um den Genfer See gelegenen urwüchsigen | |
Bergketten und Täler, die im Briefroman "Julie oder Die neue Heloise" | |
frühromantische Seelenregungen spiegeln. | |
Das heute leicht per Zug erreichbare Ostufer des Genfer Sees ist | |
Haupt-Setting des empfindsamen Bestsellers. Hier lebt Julie, die den | |
bürgerlichen Saint-Preux nicht lieben darf. | |
Und hier steht auf einer Felseninsel das Schloss Chillon, eine savoyische | |
Wasserburg und mit 300.000 Besuchern pro Jahr das meistbesuchte historische | |
Bauwerk der Schweiz. Auch Rousseau war da. Und Lord Byron, der - wie ganze | |
Julie-Lesergenerationen zuvor - auf Rousseaus Spuren wandelte. | |
Tourismus, wie wir ihn kennen, ist auch eine Erfindung dieses | |
Rousseauismus. "Der Anblick des Genfer Sees und seiner wunderbaren Ufer | |
hatte für meine Augen stets einen besonderen Reiz", schreibt Rousseau in | |
seinen "Bekenntnissen". Vor ihm machte man nicht Urlaub, um Natur zu | |
genießen. | |
Zum Schloss Chillon fährt man am besten mit dem Boot, vorbei an den | |
privaten Schönheitskliniken des Touristenstädtchens Montreux, das für sein | |
jährlich veranstaltetes Jazz-Festival bekannt ist. | |
## Ein Zimmer im "Schüssel" | |
Vladimir Nabokov bewohnte hier eine luxuriöse Hotelsuite. Rousseau, der | |
Luxus moralisch verderblich fand, würde heute wohl einen Bogen darum | |
machen. | |
Weit weniger bekannt ist ein Örtchen von umso größerer Bedeutung: Vevey, | |
einer der schönsten Flecken der Schweiz. So sieht es auch Rousseau: "In | |
Vevey wohnte ich im ,Schlüssel'; und fasste für diese Stadt eine Liebe, die | |
mich auf all meinen Reisen begleitete." | |
Dieses idyllische kleine Nest, einst eine bedeutende Handelsstadt mit dem | |
größten Marktplatz Europas und noch heute Hauptsitz eines der größten | |
Schokoladeherstellers weltweit, ist die Heimat von Madame de Warens, der | |
liebevoll "Maman" genannten mütterlichen Geliebten Rousseaus. | |
## Madame de Warens | |
Dieser mondänen Dame ist eine launige Ausstellung im historischen Museum | |
Veveys gewidmet, die unter anderem ausgefallene Kleider der Epoche zeigt. | |
Mme de Warens Geburtshaus, mittlerweile das Musikkonservatorium, liegt am | |
Markplatz. Gleich nebenan befindet sich das erwähnte Restaurant La Clef | |
("Schlüssel"), in dem man an demselben Tisch speisen kann, an dem Rousseau | |
in den frühen 1730er Jahren aß und trank. Reservierung empfiehlt sich. | |
In Vevey wohnte und starb übrigens auch Charly Chaplin. Sein Anwesen wurde | |
in ein Museum verwandelt. An den großen Stummfilmstar erinnert eine | |
Skulptur unweit des prächtigen Grand Hotel du Lac, das unmittelbar dem | |
"Felix Krull" Thomas Manns entsprungen sein muss. | |
## Weiß blühende Narzissenfelder | |
Doch zurück zur Natur: herrlich der Blick auf die steil in den Genfer See | |
herabfallenden Alpen. Etwas weiter bergaufwärts Richtung Gruyères, Fribourg | |
und Bern befinden sich - bequem mit einer Standseilbahn erreichbar - | |
riesige, im Frühling weiß blühende Narzissenfelder, die von weitem wie | |
Schnee aussehen und betörenden Duft verströmen. Spätestens hier beschleicht | |
einen das Gefühl, Rousseau in voller Gänze zu verstehen. | |
Im ebenfalls mit einer Sonderausstellung zum Rousseau-Jubiläum | |
aufbereiteten botanischen Garten von Neuchâtel, zu Deutsch: Neuenburg, | |
findet man zwar keine Narzissen, dafür das blau blühende, von Rousseau | |
liebevoll beschriebene Immergrün. | |
Diese Pflanze steht für die "blaue Blume" der Romantik Pate. Eineinhalb | |
Bahnstunden von Vevey entfernt und im Nordosten liegend, ist das seinerzeit | |
preußische Neuenburg eine spätere Station des Reisenden. | |
## Flucht aus Paris | |
Nach der Publikation seiner religionskritischen, Freiheit heroisierenden | |
und der Demokratie den Weg ebnenden Schriften "Emile" und "Vom | |
Gesellschaftsvertrag" musste er 1762 aus Paris fliehen. Auf preußischem | |
Boden stand er unter dem Schutz Friedrichs des Großen, der eine Schwäche | |
für Aufklärer hatte. | |
Richtung Frankreich wandernd, gelangt man ins Val de Travers, die Heimat | |
des Absinths. Das Dorf Môtiers bot Rousseau für drei Jahre Exil. Einen | |
kleinen Spaziergang vom auch hier erhaltenen Rousseau-Haus entfernt liegt | |
der berühmte Wasserfall, den der im Neuenburger Jura zur Botanik bekehrte | |
Flüchtling bewunderte. | |
Die landschaftlichen Verhältnisse aber haben sich hier einmal ins Gegenteil | |
verkehrt: Lag der Wasserfall während Rousseaus Aufenthalt durch starke | |
Abholzung komplett frei, muss man ihn heute im dicht aufgeforsteten Wald | |
erst suchen. | |
## Zwischenstation Petersinsel | |
Vollends zurück zur Natur gefunden hat Rousseau auf der Petersinsel im | |
Bieler See, wo im empfehlenswerten Klosterhotelrestaurant noch sein Zimmer | |
samt Himmelbett zu besichtigen ist. Gerade mal fünf Wochen darf er die | |
"wahrhaft glücklichen Stunden" auf dem einsamen Eiland auskosten, bevor er | |
abermals ausgewiesen wird. | |
Um die Idylle nachzuempfinden, sollte man die heute über einen Damm mit dem | |
Festland verbundene Insel nicht am Wochenende besuchen, wenn sie von | |
Ausflüglern überrannt wird. | |
Rousseau fand hier "eine Ruhe, die kaum ein Geräusch durchbricht; er hört | |
vielleicht dann und wann einmal einen Adler schreien, Singvögel zwitschern | |
oder die Wildbäche tosen", heißt es in den "Träumereien eines einsamen | |
Spaziergängers". In diesem letzten Werk lässt er sein Leben noch mal Revue | |
passieren, bevor er 1778 in Paris stirbt. | |
30 Jun 2012 | |
## AUTOREN | |
Tobias Schwartz | |
## TAGS | |
Reiseland Schweiz | |
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