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# taz.de -- Wahl in Mexiko: Sehnsucht nach dem Alten
> Die Mexikaner haben Gewalt und Armut satt. Die Partei des jetzigen
> Präsidenten Felipe Calderón werden sie deswegen vermutlich abwählen.
Bild: Der Smarte: PRI-Kandidat Enrique Peña Neito. Er könnte die Wahl gewinn…
MEXIKO-STADT taz | Isalia Sabás Almazán begegnet ihnen täglich: dem Jungen,
der sich mit nacktem Oberkörper in Glasscherben legt, der alten Frau, die
Kaugummis anbietet, und dem Blinden, der sich singend mit seinem Stock
durch die Metro kämpft. Sie muss ihre Pesos nicht in überfüllten Bussen und
U-Bahnen erbetteln, aber das Gedränge, die aggressiven Leute und die
unerträgliche Hitze kosten auch sie viel Kraft.
Sechs Tage in der Woche ist sie auf dieser Strecke unterwegs, mindestens
eineinhalb Stunden dauert die Fahrt aus dem Vorort Chalco in die Viertel,
wo die Bessergestellten von Mexiko-Stadt leben, dort, wo die 41-Jährige
wäscht, putzt und kocht. „Der Weg ist anstrengender als die Arbeit selbst“,
sagt die indigene Frau. Und während sie sich zwischen den Menschen
hindurchschlängelt, muss sie plötzlich über ihre eigenen Gedanken lachen:
„Am besten wäre es, wenn alle verschwinden.“
Gerade einmal zehn Jahre alt war Isalia Sabás alt, als sie sich mit ihrer
Tante aus einer Gemeinde im Bundesstaat Guerrero auf den Weg nach
Mexiko-Stadt machte. Seither arbeitet sie als Haushälterin. Vor 25 Jahren
ist sie zu ihrer Schwester in das Valle de Chalco gezogen. Hier siedelten
sich ab Ende der Siebziger Jahre Landflüchtlinge an, die auf ein besseres
Leben nahe der Hauptstadt hofften. Im Jahr 1988 erkor Präsident Carlos
Salinas de Gortari die Stadt aus, um sie zum Vorzeigeprojekt der
Armutsbekämpfung zu machen.
Kontrolliert von der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI)
sollten alle anpacken: Beamte, Gemeindeangestellte, Stadtteilverbände. Wer
es nicht mit der PRI hielt, hatte wenig Chancen auf ein festes Haus.
## „Weder Bauland noch Zement“
Also hat sich Isalia Sabás der PRI-nahen Organisation Antorcha
angeschlossen. Diese kümmert sich zum Beispiel darum, dass die Bewohner zu
einem Dach über dem Kopf und zu Krediten kommen. „Ohne Antorcha“, sagt sie,
„erhält man weder Bauland noch Zement“. Zugleich kontrolliert die
Organisation, wer etwa auf dem Markt einen Standplatz oder eine Taxilizenz
bekommt. Als jüngst der Präsidentschaftskandidat der Partei, Enrique Peña
Nieto, auf seiner Wahlkampftour vorbeikam, mobilisierte auch Antorcha. Es
galt, Stärke für die PRI zu demonstrieren.
Das war schon so, als die Partei noch in enger Zusammenarbeit mit
Wirtschaft, Militär, Gewerkschaften und kriminellen Gruppen das Land
autoritär regierte. Im Jahr 2000 wurde die PRI zwar nach 71 Jahren auf
Bundesebene abgewählt, dennoch kann sie weiterhin auf alte Strukturen
bauen, in 20 von 32 Bundesstaaten stellt sie ohnehin noch den Gouverneur.
Isalia Sabás konnte nicht zum Wahlkampfauftritt gehen, sie musste arbeiten.
Aber Antorcha und andere Organisationen mobilisierten Zigtausende
Mitglieder. In den roten Hemden der PRI, Parteifahnen schwenkend, jubelten
sie Peña Nieto lautstark zu. Und der versprach, was seine Anhängerinnen und
Anhänger hören wollten: ein besseres Transportsystem, mehr Sicherheit und
eine Gesundheitsversorgung für alle. Ob sie das glaubt? Isalia Sabás denkt
einen Moment nach, dann sagt sie: „Die Politiker haben nie eingehalten, was
sie angekündigt haben.“
Nicht nur, dass sie sich bis heute durch überfüllte Busse und U-Bahnen
quälen muss. Die 41-Jährige hat zwei Kinder alleine großgezogen. Sie weiß,
was es heißt, wenn das Geld fehlt, um zum Arzt zu gehen. Falsche
Versprechungen hat sie satt, und als hoffe sie trotzdem auf bessere
Politiker, fordert Isalia Sabás entschlossen: „Wir wollen endlich Taten
sehen.“
## PRI, das kleinste Übel
Auf ihrem Heimweg zeigt die Haushälterin auf dunkle Streifen an den Wänden
der Häuser, die gleich neben der lärmenden Autobahn liegen. „Über einen
Meter hoch steht hier oft das Abwasser.“ Wenn die Regenzeit kommt,
überflutet eine stinkende schwarze Kloake die Straßen von Chalco.
„Jahrelang hat die Regierung nichts dagegen unternommen“, kritisiert Isalia
Sabás. Dafür wäre Peña Nieto zuständig gewesen. Schließlich war er bis
letztes Jahr Gouverneur des Bundesstaates Mexiko. Warum sie trotzdem immer
die PRI wählt? „Die PRI ist das kleinste Übel.“
Ist es Überzeugung, Gewohnheit oder Zwang, der so viele Menschen für die
ehemalige Staatspartei votieren lässt? Der Stadtteilaktivist Rafael Garfíaz
glaubt nicht daran, dass sich so viele freiwillig für die PRI entscheiden,
wie die Wahlprognosen voraussagen. Der 27-Jährige hat mit einigen
Mitstreitern in einer Markthalle in Chalco ein soziales Zentrum
eingerichtet. Zwei kleine Räume, in denen sie kostenlos Englischunterricht
geben, Filme zeigen und Graffiti-Kurse anbieten. Immer wieder hört er, dass
Parteigänger massiv Druck ausüben, damit die Bewohner die PRI wählen.
„Das fängt damit an, dass sie Nahrungsmittel, Gasflaschen oder Baumaterial
verschenken. Häufig werden die Leute aber einfach dazu gezwungen, das
Kreuzchen am richtigen Ort zu machen“, erklärt Garfíaz und beschreibt das
ausgeklügelte System, mit dem PRI-Aktivisten bereits ausgefüllte Wahlzettel
verteilen. Und wer sich nicht an den Mobilisierungen von Antorcha
beteilige, müsse ewig auf ein Stück Bauland warten. Für ihn ist klar: „Das
korrupte System der PRI hat nie aufgehört zu existieren.“
Rafael Garfíaz ist in Chalco groß geworden. Aus dem Vorzeigeprojekt von
Salinas sei nichts geworden, heute zähle die 400.000-Einwohner-Vorstadt zu
den ärmsten Regionen des Landes, sagt er. „Schon lange gibt es in Chalco
wie in jedem Ghetto Kämpfe zwischen Banden. Aber in den letzten Jahren
haben sich auch hier die großen Kartelle breitgemacht.“ Isalia Sabás macht
sich ebenso Sorgen wegen der vielen Verbrechen. Erst vor Kurzem seien
mehrere Kinder und Jugendliche ermordet aufgefunden worden. „Es wird immer
schlimmer, aber vielleicht ändert sich das mit Peña Nieto.“
Viele in Mexiko treibt die Hoffnung, mit der PRI könne es eine „pax
mafiosa“, einen Frieden mit den Kartellen geben. Schließlich lief zu
Zeiten, als die Partei noch an der Macht war, alles wie geschmiert.
Hochrangige Politiker kontrollierten die Drogengeschäfte, korrupte
Armeeangehörige und Beamte sorgten dafür, dass der Transport und der
Schmuggel von Marihuana, Heroin oder Kokain reibungslos über die Bühne
ging.
## Miserable Bilanz
Doch seit der Präsident Felipe Calderón von der konservativen PAN im Jahr
2006 das Militär gegen die Mafia mobilisiert hat, herrscht große
Verunsicherung. Täglich sterben Menschen im Kugelhagel zwischen Soldaten
und Kriminellen, werden zerstückelte Leichen oder Massengräber gefunden.
Viele ersehnen die alte Ordnung zurück, und die
PAN-Präsidentschaftskandidatin Josefina Vázquez Mota hat große Probleme, zu
erklären, warum die Amtszeit ihres Parteifreundes ein Erfolg gewesen sein
soll.
Trotz 60.000 Toten, 10.000 Verschwundenen und einem sozial zerrütteten
Land. In den Prognosen liegt die Politikerin hinter Peña Nieto und dem
Linkskandidaten Andrés Manuel López Obrador.
Lange Zeit schien unumstritten, dass der PRI-Politiker das Rennen machen
würde. Auch López Obrador trennten 15 Prozentpunkte von Peña Nieto. Doch in
den letzten Wochen holt der Linke zunehmend auf, nachdem Nieto im
Fernsehsender Televisa Studenten, die ihn bei einem Auftritt an der
Hochschule wegen Menschenrechtsverletzungen in seiner Amtszeit als
Gouverneur kritisiert hatten, als bezahlte Provokateure seiner Gegner
bezeichnet hatte. Täglich demonstrieren seither Studierende, organisieren
Konzerte und andere politische Aktionen.
## Den Schönsten wählen
In der Kritik stehen Peña Nieto und das Televisa-Unternehmen, das den
Politiker gegen gutes Geld jahrelang gezielt aufgebaut hat. Doch nicht nur
im Fernsehen entspricht der smarte Mittvierziger kaum dem Bild eines
PRI-Dinosauriers, das seine Gegner zeichnen. Wenn er mit seiner Frau, einer
bekannten Schauspielerin aus einer Seifenoper, am Rednerpult steht, gibt
Peña Nieto den eloquenten Staatsmann, der Mexiko in eine bessere Zukunft
führen wird.
„Wir wählen einfach den Schönsten, wir müssen wir ihn ja die nächsten sec…
Jahre im Fernsehen ertragen.“ Wieder muss Isalia Sabás über ihre eigenen
Worte lachen. Vor einer halben Stunde ist sie nach Hause gekommen, nun
sitzt sie mit ihrer Schwester und den Töchtern am Küchentisch. Auf dem Herd
köcheln ein paar Bohnen, im Fernsehen läuft ein Wahlspot nach dem anderen.
„Alle fordern dazu auf, wählen zu gehen. Aber wer garantiert, dass mit
unserer Stimme gewissenhaft umgegangen wird?“, wirft Schwester Anajeli
Silberio Sabás in den Raum.
Wo doch bei der letzten Wahl so viel über gefälschte Stimmzettel und
manipulierte Urnen berichtet worden sei. Vielleicht, überlegt sie, bleibt
sie deshalb am Wahltag einfach zu Hause. „Denn das ist eine Frage der
Würde.“
30 Jun 2012
## AUTOREN
Wolf-Dieter Vogel
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