# taz.de -- Rückgabe von Raubgut: Die Spur der Bücher | |
> Seit sieben Jahren versucht die Staatsbibliothek Hamburg, von den Nazis | |
> geraubte Bücher den Erben zurückzugeben. Erstmals konnte ein Buch | |
> persönlich überreicht werden. | |
Bild: Volker Cirsovius-Ratzlaff zwischen geraubten Büchern in der Stabi. | |
Sacht nimmt Volker Cirsovius-Ratzlaff eines der acht Wörterbücher aus dem | |
Regal; ein weißer Zettel mit der Aufschrift „NS“ guckt aus den vergilbten | |
Seiten hervor. Er betrachtet das Buch, sagt lange Zeit nichts. „Sie wollten | |
vor den Nazis in ein fremdes Land fliehen“, sagt er dann, „deswegen die | |
ganzen Wörterbücher, denke ich.“ | |
Wissen kann er es nicht: Die Besitzer kann er nicht fragen, denn sie sind | |
lange tot. Und viele der Erben könnten sich bestimmt nicht vorstellen, dass | |
diese Bücher noch existieren, sagt Cirsovius-Ratzlaff. Er und sein Team | |
sind diejenigen, die sie darüber informieren. | |
Cirsovius-Ratzlaff, dunkle Haare, schlichtes Hemd, steht zwischen den | |
Regalen 19 und 20, in einem Raum im zwölften Stock des Bücherturms der | |
[1][Staatsbibliothek Hamburg] (Stabi); hier dürfen nur Mitarbeiter hinein, | |
wer keinen Schlüssel hat, kann den Fahrstuhl nicht benutzen. Der 37-Jährige | |
ist umringt von Büchern, an denen die Zeit gefressen hat: jüdische | |
Literatur, Klassiker von Heine, Goethe und Shakespeare, teils noch in | |
Fraktur geschrieben. Es riecht modrig und nach Leder, es ist kühl. | |
„Das alles ist Raubgut der Nationalsozialisten“, sagt Cirsovius-Ratzlaff, | |
er klingt dumpf in diesem Raum, wo nur Bücher sind, sonst nichts. Er holt | |
ein weiteres hervor, schlägt die erste Seite auf, auf der ein Stempel der | |
Hamburger Bibliothek des jüdischen Religionsverbandes zu sehen ist; | |
verblichen zwar, doch deutlich erkennbar. | |
Volker Cirsovius-Ratzlaff arbeitet seit vier Jahren in der Stabi. Er ist | |
studierter Historiker, sein Spezialgebiet ist die Herkunft von Kunstwerken | |
und Kulturgütern. In diesem Fall sind es Bücher, die vor mehr als einem | |
halben Jahrhundert von Nationalsozialisten gestohlen, versteigert, | |
verschenkt wurden, weil sie Juden gehört haben. Die Aufgabe des | |
dreiköpfigen Forschungsteams der Stabi ist, die Erben der ehemaligen | |
Besitzer zu ermitteln und ihnen die Bücher zurückzugeben. | |
„Rechtlich gesehen muss die Stabi das nicht machen“, erklärt er später in | |
seinem Büro, die Fälle seien längst verjährt. Aus den Stapeln Bücher neben | |
seinem Computer guckt jeweils der weiße NS-Zettel hervor. Überbleibsel aus | |
einer Zeit der Grausamkeit und Unterdrückung, fein säuberlich auf seinem | |
Schreibtisch gestapelt. Es sei eine „moralische Verpflichtung“, die Bücher | |
den Familien zurückzugeben, sagt Cirsovius-Ratzlaff. | |
Grundlage der Nachforschungen ist die Washingtoner Erklärung aus dem Jahre | |
1998, eine rechtlich nicht bindenden Übereinkunft. Darin verpflichten sich | |
die Unterzeichnerstaaten, von den Nationalsozialisten konfiszierte | |
Kunstwerke als Raubgut zu identifizieren, um deren Erben zu finden. Die | |
Stabi durchforstete ab 1999 ihre Bestände und entdeckte bisher rund 1.200 | |
geraubte Bücher. „Vorher waren sie noch überall verstreut, Studenten | |
konnten sie mit nach Hause nehmen“, erzählt Cirsovius-Ratzlaff. | |
Wie viele gestohlene Bücher noch in der Stabi sind, ist nicht bekannt. 1939 | |
kamen tausende „Geschenke“ der Nazis in die Bibliothek, da zu dieser Zeit | |
viele Emigranten ihr Eigentum zurücklassen mussten. Und der Zuwachs an | |
Büchern in der Bibliothek nach ihrer Zerstörung im Jahre 1943 kam zu einem | |
Drittel aus jüdischem Besitz – zwei Jahre zuvor hatten die Deportationen in | |
die Konzentrationslager begonnen. | |
Doch woran erkennt man nach so langer Zeit, ob ein Buch Raubgut ist? | |
Cirsovius-Ratzlaff legt die Stirn in Falten. Das sei schwierig, sagt er. | |
Hilfreich sind bibliothekarische Verzeichnisse von damals, in denen alle | |
Eingänge dokumentiert sind. Sie liegen in einem Safe, der in seinem Büro | |
steht. Vorsichtig holt er eines hervor, es ist schwer. „1941“ steht auf dem | |
Rand. Eine kurze Notiz der „Schenker“ in den Spalten der Zugangsbücher | |
dient als Indiz: „Geheime Staatspolizei“: Die Schrift ist noch lesbar. | |
Sobald Cirsovius-Ratzlaff sicher ist, dass ein Buch Raubgut ist, beginnt er | |
seine Recherche, die oft in Sackgassen endet. Denn wenn er keine | |
Besitzvermerke, Widmungen, Kürzel, Monogramme oder Exlibris, einer Art | |
künstlerischer Buchmarke, entdeckt, ist es unmöglich herauszufinden, wem | |
die Bücher gehört haben könnten. | |
Gelingt es ihm jedoch, einen Namen zu entziffern, versucht er, das Leben | |
dieses Menschen zu rekonstruieren, Lebensabschnitt für Lebensabschnitt. Mit | |
Hilfe von Archiven und Adressbüchern, Unterlagen der Finanzämter oder dem | |
Archiv der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. „Ich fange mit einem Namen | |
an, und es entsteht ein Leben“, erzählt er. „Das ist wirklich spannend.“ | |
Falls die Recherche glückt, folgt „der Schuss ins Blaue“. Die Person, der | |
das Buch gehören könnte, wird angeschrieben – doch nicht direkt von der | |
Staatsbibliothek. „Sie sollen nicht von einer deutschen Institution | |
erschreckt werden“, erläutert der Historiker. „Gut möglich, dass sie zum | |
Beispiel wegen familiärer Traumata in der NS-Zeit nichts mehr mit | |
Deutschland zu tun haben möchten.“ Deswegen sucht er einen Vermittler, zum | |
Beispiel einen Rabbiner, der die Person gut kennt; von dem wird sie dann | |
über den Fund informiert. | |
Bei Gudrun Netter war es andersherum, die 68-Jährige wandte sich selbst an | |
die Hamburger Bibliothek. Eine Freundin hatte ihr von einem Bericht im | |
Fernsehen erzählt, der von der Forschungsarbeit der Stabi handelte. In dem | |
Film war in einem Buch der Name Emil W. Netters zu sehen, ihres Großonkels, | |
von dem die Stabi geraubte Bücher aufgrund eines Exlibris gefunden hatte. | |
Das war Ende 2011. | |
Am vergangenen Freitag sitzt Gudrun Netter, die nahe Kiel wohnt, in der | |
Bibliothek – ihr kommen die Tränen, als sie ihre Geschichte erzählt; neben | |
ihr liegt das Buch ihres Großonkels: „Zwischen den Rassen“ von Heinrich | |
Mann. | |
Sie sagt, dass sie Deutschland bis 1984 verlassen hatte, weil sie noch | |
lange nach dem Krieg mit Judenfeindlichkeit konfrontiert worden sei. | |
„Saujüdin“ hätten ihre Klassenkameraden sie nach dem Krieg genannt; bald | |
verschwieg sie ihre Herkunft. Ihr Vater überlebte Auschwitz, starb aber | |
kurz nach der Befreiung in einem Lazarett in Gusen, einem Außenlager des | |
Konzentrationslagers Mauthausen. Gudrun Netter schaffte es vor sieben | |
Jahren zum ersten Mal, zu seinem Todesort zu fahren: „Vorher fehlte mir der | |
Mut.“ Sie hängte eine Gedenktafel auf. | |
Das Buch ihres Großonkels habe für sie denselben Wert wie diese Tafel, sagt | |
sie und lächelt. „Für mich ist das ein Geschenk des Himmels. Damit wurden | |
meinem Vater und meinem Großonkel ihre Würde zurückgegeben.“ Sie blickt zu | |
Cirsovius-Ratzlaff, der abseits sitzt, kein Wort sagt, sie erzählen lässt. | |
„Dieses Forschungsprojekt gibt mir das Gefühl, dass ich nicht mehr in einem | |
Land lebe, das mich nicht will“, sagt Netter. „Meine Familie darf wieder | |
sein, ich darf sein mit meinen jüdischen Wurzeln.“ | |
Bis heute hat die Stabi neun Fälle klären können. Bei Gudrun Netter war es | |
das erste Mal, dass die Bibliothek ein Buch persönlich zurückgeben konnte. | |
Dieser Moment sei für ihn schon ein besonderer gewesen, sagt Volker | |
Cirsovius-Ratzlaff. „Das ist für uns ein Ansporn, weiterzuforschen.“ | |
4 Jul 2012 | |
## LINKS | |
[1] http://www.sub.uni-hamburg.de/bibliotheken/projekte/ns-raubgut.html?aufruf | |
## AUTOREN | |
Amadeus Ulrich | |
## TAGS | |
NS-Raubkunst | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Bücher aus NS-Raubgut in Berlin: Späte Rückgabe | |
In den Berliner Bibliotheken stehen tausende von den Nazis gestohlene | |
Bücher. Eine Datenbank erfasst sie nun und versucht, die Erben zu finden. | |
Jüdischer Besitz: Ein bisschen Rückgabe | |
Winzige Reste des einstigen Reichtums: Die Erben von Emma Ranette Budge | |
bekommen eine Jagdgöttin und ein Wappenkissen zurück, die bislang in Bremer | |
Museen lagerten. | |
Restitution von Büchern: Legal, illegal, Bib-Regal | |
Die Bremer Staats- und Universitätsbibliothek bemüht sich um die | |
Restitution von Büchern, die durch "Juden-Auktionen" in ihren Besitz | |
gelangten. Lange Zeit wurden diese Aktivitäten von den Fachkollegen | |
ignoriert oder argwöhnisch beäugt. |