# taz.de -- Betreuung von Menschen mit Behinderung: Für eine Handvoll Euro | |
> In Hamburg und Bremen kämpfen Betriebsräte der Assistenzgenossenschaft um | |
> einen Tarifvertrag für ihre Pflegekräfte. Und könnten am eigenen | |
> Arbeitsprinzip scheitern. | |
Bild: Kampf um bessere Löhne: Betreuer und ihre Klienten protestieren. | |
BREMEN taz | In Frankfurt haben sie gerade einen bekommen, wenn auch erst | |
nach einem Streik. In Bremen verhandeln sie momentan darum, die | |
Betriebsräte und Gewerkschaftler. Und in Hamburg fordern die ihn ebenfalls | |
– einen Tarifvertrag für die Assistenzgenossenschaft (AG). | |
280 MitarbeiterInnen hat jene in Bremen, zusammen unterstützen sie, im | |
Zweifelsfall rund um die Uhr, rund 60 Menschen mit Behinderungen. Nein, es | |
muss nicht einfach „pflegen“ oder „betreuen“ heißen, denn genau das wo… | |
sie hier nicht: den Menschen nur in eine passive Rolle drängen. Die AG – | |
und Bremen war hier einst Vorreiter – ist ein Kind der Behindertenbewegung | |
der 70er-Jahre. Hier geht es um Emanzipation, um Selbstbestimmung, um | |
Teilhabe. | |
Deshalb arbeiten hier nicht nur examinierte, sondern angelernte Kräfte. Die | |
Behinderten, so die Idee, sind Fachleute in eigener Sache. Und wüssten also | |
selbst am besten, was gut für sie sei, sagt Jörn Bracker, | |
Betriebsratsvorsitzender der AG Bremen. Sie bräuchten vor allem einen | |
Ersatz für Hand oder Fuß – „auch wenn die persönlichen Assistenten | |
natürlich viel mehr darstellen“, so Bracker. | |
Dafür bekommen die PflegerInnen in Bremen 9,15 Euro die Stunde. Ist jemand | |
sieben Jahre dabei, gibt es einen Euro mehr. In Hamburg gibt es bislang | |
zehn Euro. In Frankfurt aber sollen es, dank des zum Juli in Kraft | |
getretenen an den Öffentlichen Dienst angelehnten Tarifvertrages (TVÖD) | |
zwischen 11,50 Euro und 14,79 Euro werden nach einer Übergangszeit. | |
Das ist auch das Verhandlungsziel der Bremer AG, doch die Geschäftsleitung | |
hat der Gewerkschaft Ver.di bisher nur einen Einstiegslohn von knapp zehn | |
Euro angeboten. „Wir sind seit knapp 20 Jahren von der allgemeinen | |
Lohnentwicklung abgekoppelt“, sagt Bracker. Allein inflationsbedingt | |
arbeite man heute für weniger als drei Viertel des Lohnes von 1995. | |
„Wir wollen eine tarifliche Lösung und finden es richtig, dass unsere | |
MitarbeiterInnen mehr verdienen“, sagt Solveig Eisert, geschäftsführender | |
Vorstand der Assistenzgenossenschaft Bremen. Das sei auch notwendig, um | |
Pflegekräfte zu finden. Da habe die AG schon jetzt „extreme Probleme“. | |
Pflegekräfte würden überall gesucht, sagt Eisert, „aber bei uns schlägt | |
sich das am deutlichsten nieder“. | |
Das Problem: Die AG bekommt ihr Geld von den so genannten Kostenträgern – | |
der Bremer Sozialbehörde und den Pflegekassen. „Wir können es uns nicht | |
leisten, den Bestand der Assistenzgenossenschaft zu gefährden, wenn die | |
Kostenträger nicht mitziehen“, sagt Eisert. „Unsere Lohnhöhe“, sagt | |
Bracker, „ist abhängig von einem politischen Willen.“ | |
In Bremen ist das der von Rot-Grün. Und die Koalition hat die bessere | |
Bezahlung von Pflegekräften in ihrem Koalitionsvertrag stehen. Der grüne | |
Staatsrat Horst Frehe, einst Gründer einer Krüppelgruppe und Aktivist der | |
Selbstbestimmt-Leben-Bewegung, ist Mitbegründer der AG Bremen. Es sei nicht | |
hinnehmbar, wenn die persönlichen AssistentInnen von der allgemeinen | |
Lohnentwicklung abgehängt würden, sagt Frehe. Der Tarifvertrag aber sei | |
eine Sache der Tarifparteien. | |
Es laufen jedoch Gespräche mit der AG zur Frage der Refinanzierung. | |
Offenbar ist die Behörde bislang aber nicht bereit, mehr als den | |
„ortsüblichen“ Satz zu bezahlen. Andere in Bremen zahlen ihren | |
MitarbeiterInnen aber noch weniger als die AG. Die Behörde will unter | |
Umständen nur für einen Teil der Mehrkosten aufkommen, die ein Tarifvertrag | |
nach sich zöge. | |
Hinzu kommt, dass die Entgeltstufe 5 des TVÖD, wie ihn Gewerkschaft und | |
Betriebsrat nach Frankfurter Vorbild fordern, nur für Menschen mit einer | |
dreijährigen Ausbildung vorgesehen ist. Wer bei der AG arbeitet, ist aber, | |
so oder so, als Hilfspfleger angestellt. Manche sagen deshalb, die | |
Festlegung auf Laien sei der Geburtsfehler der Assistenzgenossenschaften | |
gewesen. | |
„Wir sind immer noch der Meinung, dass dieses das richtige Modell ist“, | |
sagt Eisert. Und das wolle man jetzt auch nicht auf den Kopf stellen. | |
Natürlich hätten viele MitarbeiterInnen hohe Qualifikationen. Nur kämen die | |
eben bei dieser Tätigkeit finanziell nicht zum Tragen. | |
Am 23. Juli wird in Bremen weiter verhandelt. In Hamburg hat die | |
AG-Geschäftsleitung sich zunächst geweigert, Tarifverhandlungen für die | |
rund 200 MitarbeiterInnen aufzunehmen – wegen der unklaren Refinanzierung. | |
Nun setzt man sich auch dort an den Verhandlungstisch. | |
18 Jul 2012 | |
## AUTOREN | |
Jan Zier | |
## TAGS | |
Assistenz | |
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