| # taz.de -- Haitis Judoka Linouse Desravine: Ihr großer Wurf | |
| > Das Erdbeben in Haiti vor zwei Jahren hat den Spitzensport nahezu | |
| > zerstört. Linouse Desravine ist die Medaillenhoffnung unter den fünf | |
| > haitianischen AthletInnen bei Olympia. | |
| Bild: Im Judo könnte Haiti die erste Medaille seit 1928 gewinnen | |
| Von wegen: Dabei sein ist alles. Nix da. Linouse Desravines Ziel mag | |
| vermessen sein, sie will es trotzdem erreichen. „Gold natürlich“, sagt sie | |
| mit fester Stimme. Nach einer kurzen Pause lacht sie. „Hochgesteckt, | |
| stimmt's? Aber warum sollte ich sonst nach London fliegen?“ Natürlich wird | |
| sie Gold holen, sagt sie so selbstbewusst, dass es klingt, als sei es das | |
| logischste der Welt. | |
| Schon auf den ersten Blick weiß man: Diese Frau hat Kraft. 1,60 Meter groß, | |
| 52 Kilo schwer, ihre Gegnerinnen haut sie mit festem Griff auf die Matte. | |
| Und sie ist offenbar smart: Keine Scheu vor den Großen. | |
| Linouse Desravine ist die einzige Judoka aus Haiti, die sich für London | |
| 2012 qualifiziert hat. Zusammen mit vier LeichtathletInnen ihres Landes | |
| reist sie zu den Sommerspielen. Mit ihren 21 Jahren und gerade mal sechs | |
| Jahren Trainingserfahrung ist sie eine der jüngsten Teilnehmerinnen in | |
| ihrer Gewichtsklasse bis 52 Kilo. | |
| Darauf ist sie stolz. Vor allem aber ist sie es darauf, es überhaupt | |
| geschafft zu haben, sich für das wichtigste Sportfestival der Welt | |
| qualifiziert zu haben. Zumal: Seit dem monströsen Erdbeben vor zwei Jahren, | |
| das einen Großteil ihrer Heimat zerstört hat, muss Spitzensport in Haiti | |
| akzeptieren, nicht als vorrangig angesehen zu werden. | |
| ## Frauen sind rar im haitianischen Judo | |
| Desravine stammt aus Cap-Haïtien, einer 110.000 Einwohner Stadt im Norden | |
| der Karibikinsel. Ihr Bruder war nationaler Judomeister. Schon als Kind | |
| zeigte er ihr Fußfeger, Kragen- und Schulterwürfe und Falltechniken. Aber | |
| Frauen sind rar im haitianischen Judo. Vor sechs Jahren, als Desravine 15 | |
| war, nahm ihr Bruder sie trotzdem mit in den einzigen Verein der Stadt. | |
| „Meine Eltern waren erst gar nicht begeistert. Judo ist teuer. Zwei Kindern | |
| im Verein, das können sie nur schwer stemmen. Aber sie machen es, weil sie | |
| wissen, wie wichtig uns der Sport ist.“ Dass Desravine Talent hat, | |
| erkannten ihre Trainer schnell. Aber dann kam das Beben. | |
| Cap-Haïtien liegt 250 Kilometer entfernt von der Hauptstadt Port-au-Prince, | |
| dem Epizentrum des Bebens. Zerstört wurde in Cap-Haïtien nur wenig, auch | |
| Desravines Judoclub blieb stehen. „Trotzdem waren die Folgen für uns alle | |
| spürbar“, sagt sie. Über 300.000 Menschen starben insgesamt, genauso viele | |
| wurden verletzt, knapp zwei Millionen wurden obdachlos. Die Bewohner Haitis | |
| hatten in den Monaten nach dem Erdbeben andere Sorgen, als den Spitzensport | |
| wieder aufzubauen. | |
| Das wirkt bis heute nach. „Uns fehlen ordentliche Ausrüstung und gut | |
| ausgebildete Trainer“, sagt Desravine. Zwar spendeten vor allem | |
| französische und japanische Judoclubs nach dem Beben Matten und Kimonos, | |
| aber die allein machen noch kein Olympiaticket. | |
| ## Vorbereitung im Ausland | |
| Die Trainingsbedingungen im Judoclub in Cap-Haïtien sind einfach: Ein | |
| großer Raum, in dem ein paar Matten und Hanteln für das Krafttraining | |
| liegen. Die Hitze von draußen macht auch die Luft hier drinnen stickig. | |
| Hier verbringt Desravine vier Nachmittage pro Woche. | |
| Auf internationale Wettbewerbe bereitet sie sich, wie andere haitianische | |
| Spitzensportler auch, im Ausland vor. Vergangenes Jahr trainierte sie für | |
| sechs Monate an einer spanischen Sportschule. Ihr Spanisch ist schlecht, | |
| aber in Valencia konnte sie bei einem ehemaligen Weltmeister trainieren. | |
| Seit zwei Jahren nimmt sie an internationalen Wettkämpfen teil und sammelt | |
| eine Medaille nach der anderen ein: Bronze bei den Zentralamerikanischen | |
| Spielen 2010, Silber bei der panamerikanischen Judomeisterschaft 2011, Gold | |
| bei den zentralamerikanischen Judomeisterschaften 2011. „So soll es | |
| weitergehen“, sagt Desravine selbstbewusst. | |
| 23 Frauen starten bei den diesjährigen Olympischen Spielen in ihrer | |
| Gewichtsklasse, darunter auch die beiden Bronze-Gewinnerinnen der letzten | |
| Olympischen Spiele, Misato Nakamura aus Japan und Soraya Haddad aus | |
| Algerien. | |
| ## Angstgegnerinnen? Nö! | |
| Angstgegnerinnen? Desravine lacht. „Auf keinen Fall, mit Angst geht ich | |
| nicht auf die Matte.“ Respekt hat sie, na klar. „Aber sobald der Kampf | |
| beginnt, ist mir egal, wer vor mir steht.“ Die letzten sieben Wochen hat | |
| sie beim französischen Judobund in Paris trainiert. Dort hat sie viel an | |
| ihrer Wurftechnik gearbeitet, das habe sie extrem nach vorne gebracht. Aber | |
| weit genug nach vorn für Gold? | |
| Holt sie wirklich eine Medaille im Finale morgen, wäre das eine Sensation | |
| für Haiti. Es wäre die dritte Medaille in der Sportgeschichte des Landes | |
| überhaupt und die erste seit 1928. Da gewann Dudley Dorival Silber in | |
| Weitsprung. Gold gab es für Haiti noch nie: Was wäre das für ein Triumph! | |
| 28 Jul 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Anne Fromm | |
| Anne Fromm | |
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