# taz.de -- Auswanderungsland Ukraine: Auf dem Sprung | |
> „Ukraine voran“ verkünden die Werbetafeln auch nach der | |
> Fußball-Europameisterschaft. Doch viele junge Menschen wollen das Land | |
> einfach nur verlassen. | |
Bild: „Wir sind nicht alle blöd“: junge Frau in Kiew. | |
BERDITSCHEW/KIEW/STYJ taz | Wie hält sie das bloß aus bei sechsunddreißig | |
Grad im Schatten? In Winterjacke, schweren Stiefeln und mit wollenem | |
Kopftuch steht sie da, klein und zerbrechlich wie ein junges Mädchen. | |
Zwischen meterhohem Fenchel und umgestürzten Grabsteinen hatte sie auf der | |
Lauer gelegen. | |
„Der Rabbi ist gerade in Amerika“, sagt die alte Frau. Wie Ackerfurchen | |
durchziehen Falten das Gesicht der Ukrainerin, eisblaue Augen verstecken | |
sich zwischen den Kratern. Wer das Grab des Zaddik Levi Jizchak sehen | |
wolle, müsse den Friedhofswärter anrufen, sagt sie. Jemand hat die | |
Telefonnummer auf eine Holztafel gepinselt. | |
Die Alte bindet sich das Kopftuch fester ums Kinn, sichtlich enttäuscht, | |
dass die Gäste keine Anstalten machen, den Wärter endlich anzurufen. Sie | |
will keine Zeit verlieren, also zieht sie die Besucher zu sich in den | |
Schatten und beginnt zu erzählen: „Ich bin jetzt fünfundachtzig. Im Krieg | |
war ich Krankenschwester. Damals haben sie die Juden aus der Stadt | |
vertrieben, und ich hab mir eins ihrer Häuser genommen. Eigentlich hat sich | |
nicht viel geändert seit damals. Im Winter ist es immer noch kalt im Haus. | |
Gegen Ende des Krieges haben sie uns dann bombardiert. Das war schlimm, | |
aber ich habe meine beiden Kinder trotzdem durchgebracht. Aber der Sohn ist | |
schon gestorben und die Tochter bei einem Autounfall umgekommen. Jetzt habe | |
ich nur noch meine Enkeltochter. Aber sie ist eine Narkomanka und nimmt | |
Drogen. Sie ist doch erst zweiundzwanzig und hat selbst schon ein Kind. | |
Aber ich kümmere mich um sie.“ | |
Die Alte erbittet ein paar Scheine für die Geschichte. Ein Euro zehn | |
verschwindet in ihrer Tasche. „Möge das erste Kind ein Sohn sein“, wünscht | |
sie zum Abschied. | |
## Zentrum der Schtetlkultur | |
Berditschew war vor dem Zweiten Weltkrieg eine bekannte Handelsstadt und | |
galt als Zentrum der Schtetlkultur. Heute ist nicht viel übrig vom alten | |
Glanz. 90.000 Einwohner hat die Stadt heute. Zwei Synagogen gibt es, auch | |
noch ein paar Hundert Juden, viele von ihnen sind alt, fast niemand geht | |
mehr in den Gottesdienst. Auch deshalb ist die Synagoge im Zentrum | |
inzwischen geschlossen worden. | |
An einer Ausfallstraße der Stadt haben orthodoxe Juden aus Brasilien und | |
den USA eine Schule für jüdische Mädchen gegründet. Die Schülerinnen lernen | |
Englisch und erhalten eine Ausbildung nach amerikanischem Vorbild. Viele | |
von ihnen verlassen danach die Ukraine, gehen in die USA oder nach Israel | |
und kehren nicht zurück. Die Armut ist so groß, dass viele ihr Judentum vor | |
allem als Sprungbrett in den Westen begreifen – oder es gar nur | |
vortäuschen, ähnlich der Alten auf dem Friedhof. | |
## 50 Cent für ein großes Bier | |
Dennoch pulsiert das Leben in Berditschew . Es spielt sich im Sommer rund | |
um den Schewtschenko-Park ab. Familien treffen sich zum Ausflug mit dem | |
Kinderwagen. Rentner sitzen auf Bänken und besprechen das Tagesgeschehen. | |
Sobald es dämmert, verwandelt sich die Szenerie. Herausgeputzte junge | |
Mädchen stöckeln auf turmhohen Absätzen über vom Frost zerfetzte Gehwege. | |
Aus der Ferne könnte man sie für Mitte dreißig halten, aber sie sind kaum | |
älter als sechzehn. | |
Noch in der Abendsonne schmilzt der Straßenbelag. Die wie aus | |
Hochglanzmagazinen entstiegenen Schönheiten haben Mühe, nicht im schwarzen | |
Brei stecken zu bleiben. Braungebrannte Jungen umtänzeln die Mädchen wie | |
Rudel junger Hunde. Gebalzt und getrunken wird bis in den frühen Morgen. | |
Anton hat seine Freude daran. Gegenüber der beliebten Bar Olimp betreibt er | |
einen Bierausschank. Fünf Griwna, also etwa 50 Cent, kostet bei ihm der | |
halbe Liter. Es gibt fünf Sorten Bier vom Fass und Kwass, ein Brotgetränk, | |
als alkoholfreie Variante. In den Auslagen unter der nagelneuen Zapfanlage | |
liegt getrockneter Tintenfisch in kleinen Tüten. Stockfische gibt es auch | |
als Snack. „Ich hab gerade erst geheiratet“, sagt Anton. „Das ist zwar | |
nicht mein eigener Laden, er gehört der Brauerei, aber ich mach die Arbeit | |
gern, und Geld kommt auch rein.“ | |
Einen kleinen Nachteil habe der Job, meint der 26-Jährige: Jeden Abend | |
müsse er pünktlich zu Hause bei seiner Frau sein, denn da warte sie schon | |
mit dem Essen. Jeden Abend ausgehen könne er nicht. Anton lacht und | |
verschwindet in einer dunklen Tür hinterm Tresen. Bierfässer sind zu | |
wechseln. Eine Kollegin hütet inzwischen den Laden. Kunden strömen herein | |
und warten geduldig. Aber Anton kommt nicht. Die blondierte Kollegin feilt | |
sich die roten Nägel und versteckt sich hinter einer Pyramide von | |
Wodkaflaschen. Schon rebellieren die Kunden. Doch Anton bleibt weg. Er kann | |
es sich leisten. | |
## „In Deutschland sind die Straßen ohne Löcher“ | |
Die Schnellstraße nach Kiew ist ein Wunder – für die Fußball-EM wurde sie | |
frisch asphaltiert. Sie ist nun eben wie ein Brett. Tankstelle folgt auf | |
Tankstelle. Der Sprit habe hier Euroqualität, verkündet die Werbung. In der | |
Hauptstadt drängen sich die jungen Leute in den Nebenstraßen des | |
Chrescatyk. An der Prachtstraße im Stadtzentrum dehnte sich vor wenigen | |
Wochen noch die EM-Fanmeile. | |
Alexandra und Bogdan sitzen auf einer Bank im Schatten eines Hochhauses. | |
Sie kauen an einer Hand voll Sonnenblumenkerne, die Bogdan aus seiner | |
Hosentasche gepult hat. „Wenn ich könnte, würde ich wieder nach Deutschland | |
gehen“, sagt Alexandra. „Ich hab Deutsch gelernt vor zwei Jahren und war in | |
Köln und Bonn. Da sind die Straßen ohne Löcher, alles hat seine Ordnung.“ | |
Bogdan klagt über die Politik in der Ukraine: „Um ins Parlament zu kommen, | |
zahlen die Reichen eine Million und dann sitzen sie da und machen, was sie | |
wollen. Da kommen wir doch gar nicht ran. Denen sind nur Geld, große Autos | |
und schöne junge Mädchen wichtig.“ | |
Bogdan und Alexandra studieren Jura und wollen später gutes Geld verdienen. | |
Siebenhundert Euro wären drin pro Monat, ein Spitzengehalt. Ein Lehrer habe | |
nicht mehr als zweihundert. Witali, ein Freund, mischt sich ein: „Ich werde | |
später Autos bauen, wenn ich fertig bin mit dem Studium. Juristen und | |
Wirtschaftsexperten haben wir genug hier. Ins Ausland gehe ich nicht, ich | |
bleib lieber hier in der Ukraine.“ | |
Ein junges Mädchen schwebt auf teuren Schuhen vorbei. Ihr Kleid ist sicher | |
mehr wert als drei Monatslöhne. Alexandra schaut ihr hinterher und sagt: | |
„Die Reichen und die Ausländer sind bei uns immer nur hinter den Mädchen | |
her. Die denken, jede ist zu haben für ein paar Klamotten und eine Fahrt im | |
SUV. Aber weißt du was, das wird sich ändern. Wir sind nicht alle so blöd.“ | |
## Der reichste Mann der Ukraine | |
Stryj hat eine feine, glatte Straße, die sich einmal quer durch das | |
Städtchen in der Westukraine zieht. Zufällig endet sie an einem Hotel Spa, | |
das den Namen „Gold der Karpaten“ trägt. Große, teure Autos stehen davor, | |
zugelassen in Russland und Deutschland. Ein einfaches Doppelzimmer kostet | |
fünfundfünfzig Euro. Ohne Frühstück. Gelangweilt schenkt die Dame an der | |
Rezeption den Besuchern die gerade noch nötige Aufmerksamkeit. | |
Ein Bestatter, etwa Mitte 40, gekleidet in kurzen Hosen und Unterhemd, | |
bietet mitten auf der Kreuzung vor dem Hotel seine Dienste als Stadtführer | |
an. Seinen Namen will er nicht nennen. Im Gespräch gibt er sich mit | |
Deutschland vertraut, hat sogar Freunde in Saarbrücken. Die Unterhaltung | |
mäandert vom Vergleich ukrainischer und deutscher Straßen zu den | |
Unterschieden der Politik der beiden Länder. | |
Und ein Geheimnis wird gelüftet. „Wisst ihr, wem wir die schöne neuen | |
Straße durch Stryj zu verdanken haben?“, der Bestatter blickt wissend in | |
die Runde. „Rinat Achmetow, der reichste Mann der Ukraine, hat sie seinen | |
russischen Freunden geschenkt. Damit die auf dem Weg in sein neues Spa bei | |
Truskavets nicht immer mit Reifenpanne liegen bleiben. Früher war die | |
Straße ein Graus. Aber jetzt, schaut mal, eben und ordentlich wie in | |
Deutschland. Achmetow kennt sich aus. Der hat immer die richtigen Freunde, | |
egal wer gerade an der Macht ist.“ | |
Der Bestatter hat eine Idee, springt hastig in seinen weißen Transporter | |
und pflügt über rote Ampeln hinweg zum Stadtrand, die potenziellen | |
Stadtführungsgäste immer im Schlepptau. An einer Ausfallstraße endet die | |
Hatz vor einem ukrainischen Restaurant. „Kommt, lasst uns hier essen“, sagt | |
er honigsüß, „Ich zahle, und ihr gebt mir einfach euren Anteil in Euro.“ | |
Den Besuchern ist die Sache nicht geheuer, sie lehnen die Einladung höflich | |
ab. Der Bestatter ist enttäuscht. Er schwingt sich wieder hinters Lenkrad | |
und prescht mit Vollgas davon. Die Armut macht das Leben hier für viele zu | |
einem permanenten Ausnahmezustand. Der frische Asphalt von Stryj glänzt | |
golden in der Abendsonne. | |
Von großen Straßenplakaten lächelt siegessicher Natalia Korolewska, eine | |
junge aufstrebende Berufspolitikerin, herunter. Sie könnte die neue Julia | |
Timoschenko sein. Sie ist 37 Jahre alt, will hoch hinaus und sieht | |
Timoschenko sogar recht ähnlich. Aber hinter ihr soll der russlandtreue | |
Staatspräsident Wiktor Janukowitsch stehen. Auf den Riesenwerbetafeln der | |
diplomierten Organisationsmanagerin steht kaum Text, nur ein einfacher | |
Slogan zieht sich quer übers Papier. Er lautet: „Ukraina wperjod – Ukraine | |
voran!“ | |
8 Aug 2012 | |
## AUTOREN | |
Kai Ziegner | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Fußball-EM 2024 | |
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