| # taz.de -- Doku „Innenansichten: Deutschland 1937“: Ganz normale Deutsche | |
| > Für seine Doku „Innenansichten: Deutschland 1937“, die das Alltagsleben | |
| > in Nazi-Deutschland zeigt, gab sich US-Filmer Julien Bryan naiv. So | |
| > überlistete er die Zensur. | |
| Bild: Körperliche Ertüchtigung für den Führer vor malerischer Alpenkulisse. | |
| Bilder aus Nazi-Deutschland haben sich in das Gedächtnis eingeprägt: | |
| schwarz-weiße Bilder mit ganz wenigen farbigen Ausnahmen, zumeist unterlegt | |
| mit Wagner und einer Stentor-Stimme darüber. Wochenschaumaterial oder | |
| gleich Leni Riefenstahls „Der Triumph des Willens“. | |
| Echt waren diese Bilder nie, die Debatte über angeblich so „moderne“ | |
| Scripted Reality ist in Wahrheit rührend altmodisch. Doch jetzt zeigt | |
| „Innenansichten: Deutschland 1937“ ganz andere Bilder eines deutschen | |
| Sommers, ein Jahr nach den Olympischen Spielen von Berlin und gut zwei | |
| Jahre vor dem Überfall auf Polen. | |
| Auch sie sind nicht alltäglich entstanden: Der amerikanische | |
| Dokumentarfilmer Julien Bryan brauchte natürlich eine Genehmigung, um 1937 | |
| in Deutschland drehen zu dürfen. Selbst harmlose Touristen, auch das | |
| berichtet der Film so nebenbei, fanden sich plötzlich im Knast wieder, weil | |
| sie in einem pittoresken deutschen Dorf den Brunnen vor dem Tore | |
| fotografiert hatten. | |
| Doch Bryans Aufnahmen, unentwickelt und unzensiert in die USA geschickt und | |
| später teilweise für den Film „Inside Nazi Germany“ der US-amerikanischen | |
| Wochenschau verwendet, zeigen eine ganz eigene Form von Alltag, einen | |
| Alltag, über dem eine drückende Last zu liegen scheint. Hier gibt es keine | |
| „Huhu“-Menschen, die neugierig in die – bei der damaligen Technik | |
| unübersehbare – Kamera winken. Die meisten Gesichter wenden sich ab oder | |
| gucken unbeteiligt vorbei. Nicht auffallen, das wird auch ohne den | |
| Kommentar klar, war die Devise. | |
| Er habe sich bewusst naiv gestellt, um an seine Aufnahmen zu kommen, sagte | |
| Bryan nach seiner Rückkehr in die USA, wo er ab 1938 mit den Aufnahmen auf | |
| Lecture-Tour ging. Sie und die Wochenschau, so der Film von | |
| Spiegel-TV-Geschichts-Chef Michael Kloft, sollten bei den bis dahin zum | |
| Teil noch in Sachen Nazi-Deutschland gar nicht so abgeneigten Amerikanern | |
| zu einem Umdenken führen. | |
| ## Die Absonderlichkeiten der Normalität werden entlarvt | |
| Bryan setzt nämlich geschickt auf die vermeintliche Normalität des | |
| deutschen Alltags in jenem Sommer 1937, um dessen Absonderlichkeiten gleich | |
| danach zu entlarven: „Viele von Ihnen haben jetzt Bilder vom neuen Regime | |
| erwartet, dafür sehen Sie den Rhein, den es schon ein paar Jahre gibt“, | |
| leitet Bryan den Film mit Aufnahmen aus Köln ein: Man sieht, natürlich, den | |
| Dom. Ein junges Paar im Kanu. Einen altehrwürdigen Raddampfer mit | |
| Ausflüglern. | |
| Aber dann sieht man auch die Menge, die sich zu einer „Kraft durch | |
| Freude“-Ausflugsfahrt drängt, erfährt, dass Arbeiter kein Streikrecht und | |
| keine Gewerkschaften mehr haben. Der Film zeigt „Juden sind hier | |
| unerwünscht“-Schilder auf dem Lande und Bauern, die noch noch nie in ihrem | |
| Leben einen Juden oder Coca-Cola trinkende Jungs gesehen haben. | |
| Kloft hat die Bryans Filmdokumente aufgetrieben und für die | |
| „Innenansichten“ mit weiterem Material wie den Farbaufnahmen von Mussolinis | |
| Staatsbesuch bei Hitler in jenem Sommer verschnitten. Auch der | |
| Off-Kommentar verbindet Bryans eigene Vortragstexte mit weiteren Quellen: | |
| den Tagebuchaufzeichnungen des damaligen amerikanischen Botschafters in | |
| Berlin, William Dodd, von Schriftstellern wie Samuel Beckett oder Jean | |
| Genet, die gerade das Land bereisten, oder des langjährigen | |
| Radiokorrespondenten William L. Shirer, der bis Dezember 1940 aus Berlin | |
| berichtete. | |
| Besonders aufschlussreich sind dabei Texte des schwarzen Bürgerrechtlers | |
| William E. B. Du Bois, der das damalige Deutschland aus eigener Anschauung | |
| eindringlich charakterisierte: „Die öffentliche Ordnung ist perfekt“, | |
| schreibt Du Bois, die Arbeitslosigkeit sei stark gesunken, die Leute | |
| scheinen wohlgenährt: „Doch es gibt keine öffentliche Meinung, nirgendwo | |
| wird diskutiert.“ Bryans oberflächlich schönen Bildern gelingt dabei | |
| Herausragendes: Sie zeigen genau das. | |
| Julien Bryan: „Innenansichten: Deutschland 1937“, arte, 21:45 Uhr (55 min). | |
| 14 Aug 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Steffen Grimberg | |
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