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# taz.de -- Film „Holy Motors“: Dieses Movie läuft Amok
> In „Holy Motors“ rächt sich Protagonist Monsieur Merde an der
> Gesellschaft: Er beißt Finger ab und frisst Grabblumen. Eine Antwort auf
> den modernen Stumpfsinn.
Bild: Bock auf Blumen, keinen Bock auf die Gesellschaft: Denis Lavant als Monsi…
BERLIN taz | Monsieur Oscar heißt der Mann, der durch diesen Film schleicht
und gleitet, hinkt, springt und stolpert. Er ist Schattenfigur und
Lichtgestalt zugleich: ein Heiliger der Letzten Tage, ein Kinowesen,
abgründig, ungreifbar.
In der Stretchlimousine gleitet er in Ausübung seines Berufs durch die alte
Filmgründerstadt Paris. Es ist sein Geschäft, sich zu verwandeln, Rollen zu
spielen. Die Blondine, die ihn chauffiert, ist eine Frau mit Geschichte –
Filmgeschichte, um genau zu sein: Die Schauspielerin Edith Scob legte sich
schon 1960 in Georges Franjus „Augen ohne Gesicht“ operativ die Visagen
schöner Mordopfer zu. In „Holy Motors“ sitzt sie nun mit hagerem,
maskenhaft geschminktem Gesicht am Steuer, fährt ihren Chef von Termin zu
Termin.
Als Geschäftsmann, Grau in Grau, verlässt Oscar morgens eine Familie, von
der sich nicht mit Sicherheit behaupten lässt, dass es auch seine eigene
ist, und steigt in die bereitstehende Limousine, um eine Liste von
Arbeitsaufträgen hinter sich zu bringen, die Hauptdarsteller Denis Lavant
als Serie aktionistischer Performances zu absolvieren hat: Im Inneren des
Wagens stehen ihm ein reichhaltiger Kostümfundus und jede Menge
Maskenbildnermaterial zur Verfügung, mit deren Hilfe er seine Mutationen
vollzieht.
Wie eine bizarre Persiflage auf Hightech-Agentenfilme wirkt „Holy Motors“
anfangs noch. Der per Latex und Theater-Make-up transformierte Oscar tritt
als Bettlerin und Stuntman öffentlich in Szene, später als Killer und sein
eigenes Opfer, als Musiker, Kleinbürger und Sterbender: Monsieur Oscar ist
Schauspieler, ein Mann mit variabler Identität, ein Dienstleister im
Illusionsgewerbe. Er kämpft sich im Leuchtdiodenanzug durch die schwarzen
Kammern eines Filmstudios, schlägt sich artistisch-leichtathletisch vor
Rückprojektionen durch ein Kino, das so abstrakt geworden ist, dass es nur
noch Menschen brauchen kann, die dazu bereit sind, sich im Digitalen zu
verlieren.
## Leben im Computer
Das Leben durchmisst Oscar wie einen Albtraum; das Absurdeste ist ihm
Routine, die Selbstverstellung kennt kein Ende. Nur: Wo ist seine Basis?
Was will er wirklich? Schon die Frage schlägt ins Leere, solange nicht
geklärt ist, was denn „Wirklichkeit“ überhaupt sein sollte. Vielleicht, so
mutmaßt Carax, lebten wir ja alle längst schon in unseren Computern? Und
dann: Wo sind eigentlich die Kameras, um Oscars aufsehenerregende Akte
aufzuzeichnen? Sie sind verschwindend klein geworden, haben mit den
majestätischen Bilderfassungskästen, durch die einst noch, Spule für Spule,
die breiten Filmstreifen liefen, nicht mehr viel zu tun.
„Holy Motors“ ist die erste digital produzierte Kinoarbeit in der schmalen
Werkliste des Regisseurs Leos Carax. Den „aufdringlichen“ Charakter der
digitalen Filmtechnologie hasst Carax so sehr, dass er davon ganz direkt
erzählen muss: Sein Held muss entfremdete Motion-Capture-Arbeit leisten –
und gerät als Hightech-Proletarier und Filmsklave, als Bruder Chaplins, in
die Mühlen der Post-Postmodern Times.
„Holy Motors“ ist ein Trip, in jedem Sinne des Begriffs: eine Tages- und
Nachtreise durch Paris, ein Drogenrausch, ein Delirium. Für Menschen, die
im Kino Antworten auf quälende Fragen suchen, deutliche Ansagen und
Therapie von Krisensymptomen ersehnen, ist dieser Film nicht gemacht. Die
Bilderrätsel, die der Spätsurrealist Carax in den Raum stellt, besitzen
eine Dringlichkeit und eine Gewalt, die es im Gegenwartskino nach den
Regeln der Arthouse-Normierung gar nicht mehr geben dürfte.
13 Jahre nach seinem letzten großen Kinofilm, „Pola X“, berichtet Leos
Carax, 51, in „Holy Motors“ nun in Tonfällen, die von der Farce bis weit in
die Depression reichen. Er erzählt von einem Phantom des Kinos, das
allnächtlich die Leben und Verbrechen fiktiver Figuren darzustellen hat.
„Holy Motors“ stellt das Kino gleich zu Beginn auf null, geht von der
Serienfotografie Étienne-Jules Mareys aus: von der Eröffnung jener
Bilderlaufschule, die wir Film nennen. Nach Jahren der vergeblichen
Versuche, diversen internationalen Filmprojekten eine finanzielle Basis zu
verschaffen, hatte Carax beschlossen, einen vergleichsweise kostengünstigen
Film in Frankreich zu realisieren – und seinem Pessimismus, was das eigene
Metier betrifft, dabei freien Lauf zu lassen.
## Der Prototyp des Asozialen
In der Figur des Monsieur Merde nimmt Denis Lavant stellvertretend für
seinen Regisseur Rache an einer Gesellschaft des modischen Stumpfsinns:
Herr Merde ist das Asoziale höchstpersönlich, ein Terrorist und Triebtäter,
ein gewalttätiger Kindmann, der als Figur bereits in dem
vernichtungslustigen Carax-Kurzfilm „Merde“ 2008 auf den Plan getreten war.
Der Mann lebt in der Kanalisation und ernährt sich von Blumen, die er gern
auch von den Gräbern reißt, und er folgt nur seiner Lust und seinem Zorn:
Die beiden Finger, mit denen eine schulmeisternde junge Frau ihm zur
besseren Illustration ihrer Worte zitierend vor den Augen winkt, beißt er
kurz entschlossen ab. In einer unterirdischen Höhle isst er später das Haar
vom Kopf eines entführten Fotomodells (erotisch-robotisch: Eva Mendes), er
kompromittiert und heiligt sie, verschleiert sie zur Islam-Madonna, die zur
perversen Laufstegdarbietung im Kanaldreck anzutreten hat.
„Holy Motors“ ist Denis Lavants Show: Selbst im musikalischen Entr’acte
tritt er, die Finger am Akkordeon, selbst in Szene. Aber die Dinge und die
Tiere haben ihren eigenen Willen: Die Limousinen streiten, wenn sie
einander auf der Straße begegnen, und nachts in der Garage zum Heiligen
Motor kommunizieren sie per Blinkzeichen miteinander. Am Ende kehrt Oscar
vorübergehend in den warmen Schoß einer Schimpansenfamilie heim, die
kleinbürgerlich im Reihenhaus logiert. Was ist das? Hirnrissig? Mag sein,
aber nichts kann der faul gewordene Autorenfilm derzeit besser brauchen als
einen Kurzschluss im Zerebralgewebe.
„Holy Motors“ spielt nicht einfach nur auf Risiko: Dieser Film läuft Amok,
legt es darauf an, sich buchstäblich selbst in die Luft zu sprengen – und
möglichst viele seiner arglosen Zuschauer mitzunehmen. Die anarchische
Energie und die wahnhafte Form dieses Films, brillant fotografiert von
Caroline Champetier, führen im Zickzackkurs durch die Untiefen des
Genrefilms: vom Thriller zum Musical und Melodram und vom Horrorfilm weiter
zur Groteske. Carax verdichtet seine kindlichen und perversen Visionen zur
Kinoallegorie. Wilder und wunderlicher als in „Holy Motors“ wird das von
sich selbst fantasierende Kino nicht mehr.
Er habe keine Ahnung, wer seine Zuschauer sein sollten und was er sich
unter diesen vorzustellen habe, sagte Carax unlängst in Cannes, anlässlich
der Weltpremiere seines erst fünften Films. Soweit er wisse, sei die
filmliebende Öffentlichkeit „nichts als ein Haufen Leute, die sehr bald tot
sein werden“.
## Tod eines Traums
Der Tod betrifft das Kino – jene alte Trauminsel, die sich in ein
Massengrab verwandelt hat. Im Prolog seines neuen Films tritt Carax selbst
auf – als nachts Erwachender, der sich im Pyjama durch eine papierdünne
Wand und einen dunklen Korridor bis in den mythischen Saal vortastet, um
den sich auch in „Holy Motors“ alles dreht: Eine Menschenmenge träumt in
gespenstischer Stille wie hypnotisiert in dem von einem weißen Lichtstrahl
durchkreuzten Theater. Die Geister, die er rief, wird er nicht mehr los.
Die Identitäten der Menschen haben ihre Stabilität verloren, die Körper
sind virtuell und nicht mehr totzukriegen, alles dreht, alles bewegt sich.
So ist das Kino: Täuschung, Trance, Transport, Transformation. Wer sind
wir, fragt die singende Kylie Minogue, die wie Oscar im Verstellungsgewerbe
arbeitet, gegen Ende dieses Stationendramas in einer entkernten Pariser
Kaufhaushalle noch: Letztes Jahr im La Samaritaine.
Auch das titelgebende Thema der Motorisierung weist auf das Ende einer Ära:
der Epoche „großer, sichtbarer Maschinen“, wie Carax erklärt. Die Mensche…
Tiere und Maschinen sterben unter dem Druck des Imaginären aus: Ihnen gilt
diese letzte Reise in anachronistischen Automobilen durch eine synthetische
Stadt und eine künstliche Erzählung. Carax nähert sich dem Kino nun aber
nicht mit Nostalgie, sondern lässt es die ganze Härte eines streng
futuristischen Zugriffs spüren: ein neues Kino aus den Trümmern des alten.
Alex, so hieß Lavant in den ersten drei Carax-Filmen, in „Boy Meets Girl“
(1984), „Mauvais sang“ (1986) und „Les amants du Pont-Neuf“ (1991). Wenn
dieser Alex nun Oscar heißt, so passt das ins System. Der Name Leos Carax
ist auch nur ein Anagramm aus Oscar und Alex. Ab 30. August in den
deutschen Kinos.
29 Aug 2012
## AUTOREN
Stefan Grissemann
## TAGS
Horror
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