# taz.de -- Das älteste Dorf Deutschlands: Morgen heute | |
> Es gibt kein Kind und keine Teenager im Dorf. Aber die Menschen, die in | |
> Hisel leben, sind entschlossen, bis zum Ende zu bleiben. | |
Bild: Zumindest ihr Fortpflanzungstrieb funktioniert: Kühe auf den Weiden von … | |
HISEL taz | Hisel. Fünf Buchstaben, sechs Häuser, heißt es. Und null | |
Geburten seit 35 Jahren. Der Gemeinderat tagt im Wohnzimmer des | |
Bürgermeisters. Einen anderen Ort gibt es nicht. Am Kopfende von Werner | |
Jüngels’ Massivholztisch sitzt nun der Krämer Oskar und amüsiert sich. | |
Hinter der randlosen Brille liegen seine kleinen Augen in Lachfalten. | |
„In zwanzig Jahren machen wir aus den Kindergärten Diskos!“, ruft Jüngels. | |
„Lieber Altenheime“, pariert Krämer: „Das wird sich mehr rentieren.“ H… | |
liegt in der Eifel. Es ist das Dorf mit der ältesten Bevölkerung in ganz | |
Deutschland. Seine Bewohner sind im Schnitt 61,7 Jahre alt. | |
Fliegen sausen umher. Das kinderlose Ehepaar Habscheid sitzt in Jüngels’ | |
Stube, und auch Dorfnesthäkchen Elke, 41 Jahre alt, ist da. | |
Tagesordnungspunkt 2 betrifft das Prinzip Tagesmütter statt Kita: Um einen | |
Neubau zu sparen, wenn doch die Familien fortziehen. Jüngels sagt: „Es ist | |
schon ratsam, zuzustimmen.“ Dann heben die Ratsmitglieder die Hand. Es sind | |
exakt fünf. | |
In Hisel leben nur vierzehn Menschen. Über die Bundesstraße kann man in | |
einer halben Stunde nach Luxemburg fahren und in fünfzehn Minuten nach | |
Bitburg. Dort rauschen Autos, sonst ist es still auf der Dorfstraße. Die | |
Häuser an Hisels einziger Straße sind allesamt Bauernhäuser, stattliche | |
Anwesen mit großen, leeren Stallungen. Reliquien aus einer Zeit, in der auf | |
dem Land noch Großfamilien lebten. Einer Zeit, bevor die Menschen in | |
Deutschland immer älter wurden. Bevor die Jungen das Land verließen und die | |
spielenden Kinder von den Straßen verschwanden. Die Alten sind noch da. Sie | |
bleiben. | |
Der Barhocker ist unbequem geworden, trotz dieser kleinen Lehne im Rücken. | |
Bürgermeister Jüngels fläzt, einen Fuß vorgestreckt, vor seinem | |
Herrengedeck: Bitburger und Obstler. Zum Gasthaus im Nachbarort ist er mit | |
dem Wagen gefahren. Jüngels ist 72 Jahre alt und trägt noch immer | |
Seitenscheitel und seine Hornbrille. „Ich bin Junggeselle“, sagt er: „Und | |
das werde ich auch bleiben, wie es aussieht.“ Außer ihm hat sich noch ein | |
Ehepaar in die Kneipe gesetzt. Touristen, die Motorradurlaub in der Eifel | |
machen. Der Kühlschrank summt leise. „Früher waren die Tische voll“, sagt | |
der Wirt. Abends saßen hier die Skatspieler, sonntags war Frühschoppen. | |
„Das war ein Grund, in die Messe zu gehen“, sagt Jüngels. „Ich kenne das | |
noch von meinem Großvater“, sagt die Touristin. | |
Jüngels denkt zurück. Viele sind fortgegangen, als die Amerikaner im Kalten | |
Krieg in Bitburg stationiert waren. Mit den schönen Paradeuniformen waren | |
sie in der Kleinstadt unterwegs. Schön wie die der Nazis, sagt Jüngels. Da | |
haben sich die Frauen gleich verliebt. Im heiratsfähigen Alter gingen auch | |
seine Geschwister, er blieb. Tagsüber guckt der Bürgermeister nun meist aus | |
dem Fenster. Oft sieht er den Krämer Oskar mit seinem roten Mofa und dem | |
weißen Schirmhelm die Dorfstraße entlangfahren. Und wieder zurück. Das | |
einzige öffentliche Gebäude in Hisel, direkt vor seinem Fenster, versperrt | |
Jüngels nicht die Sicht. Es hat Form und Höhe einer Garage – ist zugleich | |
Feuerwehrhaus und Bushaltestelle. Abends beobachtet er dann, wie die runden | |
Wolkenschatten auf den Feldern den sternenklaren Nächten weichen. Nirgendwo | |
anders möchte er leben, sagt Jüngels. Wegen der Freiheit. Wegen des weiten | |
Blicks. | |
Die älteste Bewohnerin von Hisel ist 90 Jahre alt und teilt ihr Haus mit | |
der jüngsten. Die Frau, die alle nur die Polin nennen, ist seit einem Jahr | |
hier gemeldet. Die Polin ist 24 Jahre alt. So alt wie die Tochter von Peter | |
Neyses. „Ohne die Polinnen würde hier alles zusammenbrechen“, sagt der. | |
Neyses ist der Neffe der Ältesten und Arbeitgeber der Jüngsten. Denn wenn | |
die alten Leute nicht mehr trinken, muss jemand da sein, der sagt: Trink! | |
Und später jemand, der das Glas anreicht. Es fehlen zwei Generationen im | |
Haus. Seine und die seiner Kinder. Die polnischen Helferinnen sind | |
bezahlbar. | |
Neyses ist 51 Jahre alt. Er ist einer derjenigen, die gingen. Er trägt | |
grauen Stoppelschnitt, Jeans und Hemd und arbeitet bei einem der größten | |
Arbeitgeber in der Gegend, bei der Bitburger Brauerei. Als er jung war, | |
hatte Neyses erwogen, die Landwirtschaft seiner Tante weiterzuführen. Heute | |
weiß er, dass er davon nicht leben könnte. | |
Auf dem Land verlieren Gemeinden mit einer älter werdenden Bevölkerung auch | |
Arbeitsplätze und Steuereinnahmen. Keine Geburten bedeuten auch kein Geld. | |
In Hisel ist der größte Haulshaltsposten das Gehalt des Bürgermeisters. Die | |
letzte große Investition der Gemeinde? Jüngels erinnert sich noch gut. Das | |
war die Neuordnung der Äcker in den 50er Jahren. | |
## „Morgen alles verkaufen“ | |
Der letzte Arbeiter in Hisel ist 63 Jahre alt. Landwirt Winfried Schares | |
hat über die Jahre immer mehr Felder und Wiesen gepachtet – von den Bauern, | |
die aufgegeben haben. Dort stehen nun seine Kühe. Jeden Morgen um sieben | |
Uhr geht er melken. Am Abend lenkt er seinen zwanzig Jahre alten Golf mit | |
Stoffverdeck die stille Straße entlang. Der Keilriemen quietscht | |
durchdringend. Als er den Wagen abstellt, schaut er durch die | |
Windschutzscheibe in die schwarze Nacht. „Von mir aus könnten wir morgen | |
alles verkaufen“, sagt er. | |
Als Schares seine Tochter in Barcelona besucht hat, ist er mal | |
rausgekommen. Mit dem Bauernhof ist das sonst schwierig. Aber sollen er und | |
seine Frau jetzt diejenigen sein, die den Hof der Familie abwickeln? Sein | |
Sohn ist kein Stadtmensch, glaubt er. Schließlich kommt er oft zu Besuch, | |
obwohl er in Düsseldorf lebt. Dann fährt er Motorcross in der Eifel. Doch | |
Schares spürt: Übernehmen werden die Kinder den Milchbetrieb wohl nicht. | |
Zurückgekehrt in den Ort, aus dem alle flüchteten, sind nur zwei der | |
Töchter Hisels. Sie wohnen nebeneinander, in den letzten beiden Häusern an | |
der Dorfstraße. Eine von ihnen ist Elke Borjung. Sie lebt wieder in ihrem | |
Elternhaus. Der Vater ist schwerhörig, die Mutter kann kaum noch gehen. Das | |
Wohnzimmer sieht aus wie in jedem der Häuser: Eckbank und Schrankwand aus | |
Eiche, ein Kruzifix aus schwerem Holz und Metall an der Wand und daneben | |
das nachgedunkelte Foto eines ernst dreinblickenden Brautpaares. | |
## „Ist einsam hier“ | |
Borjung sieht man nicht an, dass sie über 40 ist. Um die schlanke Hüfte | |
trägt sie einen glänzenden Gürtel, ihr braunes Haar fällt weich. Sie tippt | |
in ihr blau leuchtendes Klapphandy. Kein Problem, hier zu wohnen, sagt sie. | |
Mit dem Auto fährt sie nach Luxemburg, um in einer Bank zu arbeiten. Kein | |
Problem, sagt sie wieder. Zwar hat sie schon einmal allein gewohnt, doch | |
damals hat es sie auch nicht weiter fortgezogen als in das Nachbardorf. | |
Vater Borjung lächelt freundlich, seine Augen stecken groß und aufmerksam | |
im runzligen Gesicht. Die Mutter schiebt ihren Rollator herein. „Ob es euch | |
hier gefällt“, brüllt Elke. „Ist einsam hier“, sagt die Alte. „Einsam… | |
schön“, sagt ihr Mann. | |
Im Gasthaus gleicht sich langsam die Gesichtsfarbe des Motorradtouristen | |
der seines rosafarbenen Poloshirts an. Sein großes Weizenbier hat er | |
bereits geleert, während Bürgermeister Jüngels noch mit seinem halbvollen | |
Glas auf den Tresen klopft: „Ich telefoniere nie!“, skandiert er und legt | |
gleich nach: „Ich nehme nur Telefonate entgegen. Und da bin ich auch froh, | |
wenn die nicht zu lange dauern.“ Das Paar prustet, Jüngels schmunzelt. Es | |
muss schon spät sein. Das Pendel der Wanduhr steht – wie ihre Zeiger auf | |
Viertel vor drei. | |
„Was machen wir mit Hisel in ein paar Jahren?“, fragt der Wirt und liefert | |
die Antwort gleich mit: „Planierraupe!“ Jetzt kommt Jüngels: „Hisel“, … | |
er voller Pathos an: „Ort der Zukunft. Hier kann sich die Jugend | |
entfalten.“ Die Touristen grölen. „Räumlich und ideologisch“, ergänzt | |
Jüngels. | |
Die Jugend von Hisel, das sind heute noch Silvia Habscheid und ihr Mann. | |
Sie sind beide 50 Jahre alt. Die Habscheids haben sich im Panorama | |
kennengelernt, einem Tanzlokal im Nachbarort Bettingen. Das ist Mitte der | |
80er Jahre abgebrannt. Nun wohnen sie in dem Haus, in dem Silvias Vater | |
starb. Als er noch lebte, war sie oft hier gewesen, um im Garten zu sitzen. | |
Jetzt gießt sie Rosen, wenn sie aus Bitburg von der Arbeit kommt. Was wird | |
aus Hisel, wenn auch die Habscheids alt sind? Silvia winkt ab: „Unsere | |
Eltern haben sich auch keine Sorgen gemacht.“ | |
16 Sep 2012 | |
## AUTOREN | |
Kristiana Ludwig | |
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