# taz.de -- Ein Jahr Piraten im Berliner AGH: Rabauken und Reformer | |
> Parlamentssitzungen live im Internet, offengelegte Verträge: Die Piraten | |
> haben das Berliner Abgeordnetenhaus verändert. | |
Bild: Applaus: Piratenfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus. | |
BERLIN taz | Sie haben das schön aufgeteilt diesmal. Es ist Oliver | |
Höfinghoff, der 35-Jährige mit dem grünen Irokesenschnitt und der schwarzen | |
Hornbrille, der diesmal im Abgeordnetenhaus ans Pult tritt und schimpft. | |
Derbe schimpft. Ein „überforderter Provinzpolitiker“ sei der Regierende | |
Bürgermeister Berlins, Klaus Wowereit. Der verschleppte Flughafenneubau | |
werde zum „Milliardengrab“. „Sie haben gepennt, kläglich versagt!“ | |
Martin Delius, schwarzes Jackett, die langen Haare gezopft, sitzt | |
währenddessen ruhig auf seinem Platz. Nur einmal steht er beim | |
Flughafen-Thema auf, kritisiert den späten Start des | |
Untersuchungsausschusses und setzt sich. Die Rollen bei der | |
Parlamentssitzung sind klar: Höfinghoff, der Rabauke fürs Parteigemüt. | |
Delius, der Vermittler fürs Parlament. | |
Ein Jahr ist es her, dass erstmalig die Piraten mit einer Fraktion in ein | |
Landesparlament einzogen, ins Berliner Abgeordnetenhaus. Mit 8,9 Prozent | |
und 15 Abgeordneten, mehr standen auch nicht auf der Liste. Ein Haufen | |
Software-Tüftler, ein Mechatroniker, ein Betreiber eines veganen Cafés, | |
eine Frau, Wirtschaftsstudentin. Regenbogengefärbte Haare, | |
Palästinensertücher – das hatte man hier lange nicht gesehen. Selbst | |
Al-Dschasira berichtete. | |
## Nicht die beste Statistik | |
Die Fernsehsender sind lange abgerückt. In dieser Woche steht Martin Delius | |
allein im Gang des Parlaments. „Natürlich hätten wir manches besser machen | |
können“, sagt der 28-Jährige, vor einem Jahr noch Angestellter beim | |
Internet-Unternehmen seines Fraktionskollegen Pavel Mayer. „Dafür aber, | |
dass wir keinerlei Vorerfahrung hatten, haben wir doch viel erreicht.“ | |
Nimmt man die Zahlen, kann man das weniger behaupten. 52 Anträge brachten | |
die Piraten in ihrem ersten Jahr zustande, 113 kleine Anfragen an den | |
rot-schwarzen Senat. Die Oppositionskollegen der Grünen schafften mit 94 | |
Anträgen und 298 Anfragen doppelt so viel. Selbst die regierende CDU fragte | |
mehr nach, stellte 120 Anfragen. | |
Dazu stolperten die Piraten mit einer beachtlichen Zahl an Fehltritten ins | |
Parlament. Abgeordnete stellten Lebenspartner als Mitarbeiter ein. Der | |
Dauer-Latzhosen-Träger Gerwald Claus-Brunner schmähte die Frauenquote als | |
„Tittenbonus“. Landeschef Hartmut Semken musste nach verqueren | |
Links-rechts-Vergleichen zurücktreten. | |
## Offenlegung der Einkünfte | |
Punkten konnte die Partei bei ihren Kernthemen: Datenschutz, Transparenz, | |
Internet. Ihre Abgeordneten veröffentlichen Einkünfte und „Lobbykontakte“, | |
übertragen ihre Fraktionssitzungen live im Internet. Ein „Schultrojaner“, | |
eine Spähsoftware nach Raubkopien auf Schulservern, wurde nach einer | |
Piraten-Initiative beerdigt. | |
Die Kennzeichnungspflicht und die massenhaften Funkzellenabfragen der | |
Berliner Polizei machte die Partei zum Thema im Innenausschuss. Zu Berliner | |
Arbeitslosen, zur stotternden S-Bahn, zu fehlenden Kitas hört man von den | |
Neulingen jedoch fast nichts. | |
„Da gehen schon mal schnell die Themen aus“, spottet | |
CDU-Fraktionsgeschäftsführer Oliver Friederici. Die Grünen machten es | |
seiner Regierungskoalition jedenfalls schwerer. Auch dort moniert | |
Geschäftsführer Benedikt Lux, dass die Piraten zwar „unterhaltsam“ seien, | |
Konflikte aber in alle Richtungen schürten, statt den Senat unter Druck zu | |
setzen. | |
Und doch hat allein der Einzug der Piraten auch die anderen bewegt. | |
Auffällig oft wird jetzt im Parlament von Transparenz und Mitmachkultur | |
gesprochen. Einige Sitzungen werden nun live übertragen. Der Senat | |
veröffentlichte Verträge zur S-Bahn und zum Rückkauf der Wasserbetriebe. | |
Die SPD ernannte sich jüngst selbst zur „Internetpartei“, und selbst die | |
CDU rief für das neue Hundegesetz zur Bürgerbefragung auf, zum | |
„Bello-Dialog“. | |
## Direkter und konfrontativer | |
Auch die Sprache im Parlament ist eine andere. Keiner der 15 Piraten saß | |
zuvor in einem Parlament, die Hälfte von ihnen ist jünger als 30 Jahre. | |
„Direkter, konfrontativer“ sei es mit den Neuen geworden, sagt der Grüne | |
Lux. „Was nicht schlecht ist, das stärkt ja die Themen.“ Als | |
Piraten-Wortführer Christopher Lauer der Regierung vorwarf, sich | |
selbstgenügsam „einen von der Palme zu wedeln“, brachte das den Piraten | |
einen Brandbrief der SPD ein – auf YouTube wurde es ein Klickhit. | |
21.000 Nichtwähler haben die Piraten im letzten Herbst an die Wahlurnen | |
gelotst, auch in allen Berliner Bezirksparlamenten sitzt die Partei heute. | |
Von 900 auf 3.800 Mitglieder vervierfachte sich der Landesverband im | |
vergangenen Jahr. Und anders als im Bund kletterten die Piraten in Umfragen | |
auf 14 Prozent – und blieben dort. „Der mediale Hype ist vorbei“, sagt | |
Carsten Koschmieder, Politikwissenschaftler der FU Berlin. Für die | |
Piraten-Wähler aber zähle noch immer „das Neue“, die Abgrenzung zu den | |
Etablierten. | |
Vielleicht aber brechen die Umfragen auch deshalb nicht ein, weil die | |
Piraten in Berlin mehr als nur Protestventil sind. Die Mehrheit in der | |
Stadt wählt links, auch die Berlin-Piraten verorten sich, anders als andere | |
Landesverbände, in dieser Ecke, streiten fürs Grundeinkommen und | |
Haschisch-Legalisierung. Ihre Parteikultur ist nicht neu und fremd, sondern | |
trifft auf Lebenswirklichkeiten: die Netzparallelwelt, das Von-unten, das | |
Nerdige. Die Frage ist: Wie lange kann die Partei das bewahren? | |
## Gewählt wird nach Plan | |
Dass sich da was getan hat, zeigte sich im Juni. Die Fraktion zog sich | |
zurück zur Klausur nach Potsdam, hinter verschlossene Türen. Das machte die | |
Basis misstrauisch. Zur anschließenden Neuwahl der Fraktionsspitze | |
kandidierten nur Christopher Lauer und Amtsinhaber Andreas Baum. Physiker | |
Wolfram Pries wetterte über das „abgekartete Spiel“, kandidierte spontan | |
dagegen. Gewählt wurden Baum und Lauer. Wie nach Plan. | |
Viele der Abgeordneten tragen jetzt Jacketts über ihren Schlabber-Shirts, | |
sind jetzt Nervbolzen und Reformer. „Wir haben uns verändert, ja“, sagt | |
Martin Delius. „Das Abgeordnetenhaus aber auch. Hoffentlich treffen wir uns | |
in der Mitte.“ Politologe Koschmieder ist da skeptisch. „Ich glaube, die | |
Piraten haben das Parlament viel weniger verändert, als sie erhofft haben.“ | |
Und auch Delius klingt nachdenklicher. „Viel Show“ sei das | |
Abgeordnetenhaus, inszenierte Debatten, Entscheidungen nach Parteikalkül. | |
Ihre Reifeprüfung steht der Fraktion noch bevor. Demnächst beginnt der | |
Untersuchungsausschuss zur geplatzten Eröffnung des Berliner Großflughafens | |
unter Führung von Pirat Martin Delius. Bisher läuft die Sache: Delius bat | |
die Piratenbasis um Zuarbeit, die schickte Ideen für einen Fragenkatalog. | |
Und freute sich, dass sich die Fraktion mit Wowereit anlegte, weil sie | |
vermeintlich geheime Berichte zu den Bauarbeiten veröffentlichte. „Wir | |
haben ein Jahr lang das System ausgecheckt“, sagt Delius. „Jetzt geht’s a… | |
Hacken.“ | |
Wenn es nur immer so laufen würde. Man wolle ab jetzt die eigene Arbeit | |
besser sichtbar machen, versprachen Lauer und Baum, die neuen | |
Fraktionschefs, bei ihrer Wahl im Juni, werde eigens eine „Bilanz-Seite“ | |
der Fraktion im Internet einrichten. Da aber heißt es bis heute: „not | |
found“. | |
17 Sep 2012 | |
## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
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