# taz.de -- Weltalzheimertag: Wenn die Worte verschwinden | |
> Demenz-WGs funktionieren nur mit genügend Personal. Denn einige Bewohner | |
> vergessen mitunter, dass man sich schon mal getroffen hat. | |
Bild: Demenzkranke haben vieles, was gestern passiert ist, nicht mehr auf dem Z… | |
BERLIN taz | Manche Dinge altern nicht, Gemälde zum Beispiel. Das Bild mit | |
dem reetgedeckten Haus, vor dem die Bauernrosen blühen, hat Herr Friedland* | |
vor vielen Jahren gemalt. Es hängt heute in der Wohngemeinschaft, in der | |
seine Frau ihre letzten Lebensjahre verbringt, die Bauernrosen auf dem Bild | |
leuchten immer noch knallrot. Frau Friedland sitzt davor am Esstisch und | |
dirigiert „die Moldau“ von Smetana, die Musik quillt aus den Boxen. Klänge, | |
die sie von früher kennt. Sonst ist alles anders geworden im Leben der | |
hochbetagten Dame mit dem feinen Gesicht. | |
„Ist alles nicht so einfach“, sagt Frau Friedland und lächelt. So was sagt | |
sie oft, denn Sätze, die immer ein bisschen passen, beruhigen, wenn man | |
viele Worte nicht mehr kennt, weil sie verschwunden sind im Kopf wie ein | |
Buch in einer Bibliothek, das irgendwer verstellt hat. Frau Friedland sitzt | |
mit sechs anderen hochbetagten Damen um den Esstisch im riesigen Wohnzimmer | |
in Berlin-Pankow. Die Mittagssonne flutet durch die großen Fenster. Eine | |
Pflegerin tischt süß-saure Eier auf. Sorgfältig kneten die Damen die | |
Kartoffeln mit den Gabeln in die Senfsoße. | |
„Demenz-WGs“ heißen solche sozialen Konstruktionen, aber das mit der | |
„Wohngemeinschaft“ ist ja geschummelt. Unter „Wohngemeinschaft“ verstand | |
die Generation derjenigen, die für Vater oder Mutter jetzt „Demenz-WGs“ | |
suchen, eigentlich etwas anderes. | |
Eine WG, das waren keine Wohnungen, in denen große Schilder mit Namen und | |
Pfeilen den Weg in einzelne Zimmer weisen wie in der WG in Pankow. Mit | |
BewohnerInnen, die zwar jeder einen Telefonanschluss haben, aber nicht mehr | |
wissen, wie ein Apparat funktioniert. Die nicht allein kochen können und | |
kaum allein aufs Klo. Die Frauen hier haben mindestens Pflegestufe II. | |
PflegerInnen müssen immer in der Nähe sein, sonst laufen die Dinge aus dem | |
Ruder. | |
„Wir balancieren das jetzt mal zu Ihnen rüber“, sagt Karin von der Heydt, | |
75, und schiebt ihren Teller mit den Senfeiern zu ihrer Tischnachbarin, die | |
im Rollstuhl sitzt. Von der Heydt, eine kräftige Frau mit lebhaften dunklen | |
Augen und kurz geschnittenen Haaren, ist eine der Energischsten in der | |
Wohngemeinschaft. Vor ihrer Tischnachbarin stehen jetzt zwei Trinkbecher | |
und zwei Essteller. Von der Heydt kann nicht mehr so genau unterscheiden | |
zwischen mein und dein und gibt immer gern etwas ab. | |
## Die Mitbewohner siezen | |
„Mama, hör auf, deinen Becher Margot zu schenken“, sagt Andrea von der | |
Heydt, 50, mit sanfter Stimme. Sie ist zu Besuch. Doch von der Heydt senior | |
lässt sich nicht so leicht beirren, warum nicht die Teller hin und her | |
schieben und so für etwas Kontakt sorgen unter den Frauen? Wobei die | |
ehemalige Fremdsprachensekretärin durchaus auf Distanz achtet: Sie siezt | |
die Mitbewohnerinnen und ist beim Mittagessen angezogen wie bei einem | |
Restaurantbesuch: Gepflegte schwarze Lederschuhe, Jacke, eine halbgeöffnete | |
Handtasche hängt ihr über der Schulter, so als könne sie jederzeit | |
aufstehen, bezahlen und gehen. | |
Das Wohnzimmer ist für die Frauen ein halböffentlicher Raum. Denn man lebt | |
da zusammen mit fremden Damen, die eindeutig nicht zur Familie gehören, | |
aber aus unerfindlichen Gründen jeden Tag mit am Esstisch sitzen. Wobei | |
einige der Frauen mitunter vergessen, dass man sich gestern schon mal | |
getroffen hat. | |
Die WG hier in Pankow ist schon die zweite Wohngemeinschaft von der Heydts | |
senior. Davor lebte sie in einer WG in Mitte und fand dort sogar eine | |
richtige Freundin, erzählt die Tochter. Die beiden alten Frauen saßen | |
zusammen auf dem Sofa, tranken Bier, hörten Musik und erfanden Reime. Doch | |
da gab es Knatsch: Oft war nur eine Pflegerin für die Gruppe da, das | |
Personal wechselte häufig und sprach kaum Deutsch, die Wohnungstür war | |
nachts manchmal abgeschlossen, ein Nachtdienst für mehrere | |
Wohngemeinschaften im Haus zuständig: all das sind Zeichen für eine | |
schlechte WG. | |
Hier in Pankow ist es anders. „Luxus“, sagt Annemarie Vogel, und sie meint | |
damit nicht die plüschigen Sitzmöbel mit dem Blumenmuster, die eine der | |
Bewohnerinnen von zu Hause mitgebracht hat, und auch nicht die großzügige | |
Wohnküche, in der man zur einen Tür hinein- und vorne wieder herauskann, | |
weil Rundgänge in der Wohnung so wichtig sind für Demente. | |
## Luxus ist hier die Zeit | |
Für Pflegerin Vogel, 61 Jahre alt und mit freundlichen braunen Augen und | |
vielen Sommersprossen gesegnet, ist „Luxus“ hier die Zeit, die sie für die | |
acht Bewohnerinnen zur Verfügung hat. Während der beiden Tagschichten sind | |
sie immer zu zweit. Das war anders an ihrem früheren Arbeitsplatz, dort hat | |
sie zwar mehr verdient als die 8,75 Euro brutto in der Stunde wie hier in | |
Pankow, aber sie war allein zuständig für neun BewohnerInnen. „Es war | |
furchtbar“, erzählt sie, „ich war ständig wie auf Rollschuhen“. | |
Vogel, die in ihrem Leben schon Mutter, Ehemann und einen behinderten Sohn | |
betreute und pflegte, hat nicht nur eine Ausbildung als Pflegehelferin, | |
sondern auch eine Fortbildung in „Validation“ gemacht. Das ist eine Art | |
Pädagogik für Demente und bedeutet, auf das Innenleben des verwirrten | |
Menschen einzugehen. | |
Wenn von der Heydt senior herumirrt und ihre „Kinder“ sucht, weil die | |
Tochter für eine Weile verreist ist und seltener zu Besuch kommt, dann | |
besänftigt Vogel, dass die Kinder „sehr gut aufgehoben sind“ und bestimmt | |
„wohlbehalten wiederkommen“, ganz so, als seien die Kleinen auf | |
Klassenfahrt und von der Heydt senior die junge, aufgeregte Mutter. Die | |
Damen hier leben in der Vergangenheit, und davon künden nicht nur die | |
Heinz-Ehrhardt-Filme und die DVD-Box mit „Lassie-Folgen“ im Regal unter dem | |
Flachbildschirm im Gemeinschaftsraum. | |
## Musik ist das Wichtigste | |
Doch manchmal verbinden sich Vergangenheit und Gegenwart. Von der Heydt | |
senior singt mit, wenn „Que sera, sera / Whatever will be, will be“ vom | |
CD-Spieler ertönt. Spanisch und Englisch in einer Liedzeile, so was weckt | |
Erinnerungen bei einer früheren Fremdsprachensekretärin. Musik ist das | |
Wichtigste, denn in der Demenz bleibt das musikalische Gedächtnis lange | |
erhalten. Schon in den Vormittagsstunden waberte ein Medley aus klassischen | |
und Popmelodien durch den Gemeinschaftsraum wie in der Lounge eines | |
Kurhotels, von Beethovens Fünfter über „House of the Rising Sun“ bis zu | |
Griegs „Morgenstimmung“. | |
Es gibt hier kein tägliches Riesenprogramm, das Besondere der WG liegt in | |
der Anleitung für die alltäglichen Verrichtungen. Es entscheide über die | |
Qualität einer Demenz-WG, sagt Vogel, ob eine Bewohnerin immer wieder | |
geduldig dazu angehalten wird, sich das Gesicht selbst zu waschen und die | |
Hosen eigenhändig anzuziehen. Oder ob die Pflegerin das selbst übernimmt, | |
was viel schneller geht – und dazu führt, dass die verwirrte Dame diese | |
Tätigkeiten im Handumdrehen verlernt. Eine Bewohnerin, die im Rollstuhl | |
sitzt, habe ihr zu Beginn den Waschlappen fast ins Gesicht geschmissen, | |
erzählt Annemarie Vogel. „Jetzt wäscht sie sich selber und läuft sogar | |
kurze Wege an der Hand.“ | |
Die BewohnerInnen helfen beim Wäschezusammenlegen, gemeinsam Kochen ist | |
schon aufwendiger, oft kocht eine Pflegerin allein. Neulich halfen die | |
Damen bei der Rouladenzubereitung. Frau Schuster* fing an, die | |
geschnittenen Zwiebeln zu probieren, die Pflegerin musste Frau Obermann* | |
darauf hinweisen, dass die Fleischlappen roh sind und man besser erst | |
hineinbeißt, wenn sie gebraten sind. | |
## Es muss nicht viel passieren | |
Nach dem Mittagessen kehrt Ruhe ein, einige Damen gehen auf ihre | |
Einzelzimmer. Von der Heydt senior sitzt gern in ihrem Ohrensessel und | |
beobachtet das Kommen und Gehen unten auf der Straße. Viel müsse gar nicht | |
passieren in einer Wohngemeinschaft, damit sich die Leute wohlfühlen, sagt | |
Andrea von der Heydt. Aber zwei Pflegerinnen oder Pfleger pro Schicht, das | |
sei ein wichtiges Qualitätskriterium. | |
Von der Heydt junior, von Beruf Behindertenbetreuerin, ist Vorsitzende des | |
Vereins Selbstbestimmtes Wohnen im Alter (SWA). Der Pflegedienst | |
Panke-Pflege, der die WG in Pankow betreut, ist SWA-Mitglied und hat sich | |
den Qualitätskriterien verpflichtet: Vier Pflegekräfte für die beiden | |
Schichten am Tag und eine Pflegekraft nachts. Das ist teuer. Der Aufenthalt | |
in einer guten Demenz-WG ist meist kostspieliger als ein Heimaufenthalt. | |
Frau Friedland vermisst ihren Mann, den schon lange verstorbenen | |
Kunstmaler. „Hat er sich heute schon gemeldet?“ Das fragt sie oft. Vogel | |
antwortet dann: „Heute nicht. Aber morgen, da schau’n wir mal“. Ein | |
bisschen Zukunft muss es schließlich auch noch geben. | |
* Name geändert | |
21 Sep 2012 | |
## AUTOREN | |
Barbara Dribbusch | |
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