# taz.de -- Theater in Bremen: Abziehbildchen des Elends | |
> Mit zwei Premieren startet die Schauspiel-Sparte in die Intendanz | |
> Börgerding: Keine der Produktionen ist zwingend, keine sagt, für wen man | |
> hier spielen will. | |
Bild: Auf der herrlich schäbig gestalteten Praça lungert auch Musiker Beppe C… | |
Am Ende gibt’s noch Energy-Drinks für alle – und die unausgesprochene | |
Aufforderung, die Dosen ordentlich durchzuschütteln, um damit herum zu | |
spritzen. Schauspieler Paul Matzke macht es, ganz am Schluss der Produktion | |
„Sickster“ vor, aber vergebens: Es will einfach nicht spritzen. | |
Dieses fast irritierend präzise Schlussbild der Dramatisierung von Thomas | |
Melles Roman beendet den Anfang der ersten Schauspielsaison unter Intendant | |
Michael Börgerding: Zwei Premieren, eine im kleinen, eine im großen Haus – | |
keine unverzichtbar, keine eine Antwort darauf, für wen hier fortan Theater | |
gemacht werden soll. Und keine richtig ärgerlich. Wobei „Das Leben auf der | |
Praça Roosevelt“ dem schon recht nahe kommt. | |
Das 2004 am Thalia Theater Hamburg uraufgeführte Stück von Dea Loher ist | |
ein zweieinhalbstündiger Bilderbogen. Inszeniert hat ihn die bedeutende | |
niederländische Regisseurin Alize Zandwijk, die ein großer Fan von Loher | |
ist: Vielleicht ein zu großer. Denn der Text hätte radikal gekürzt werden | |
müssen. Zandwijk lässt ihn fast unangetastet und ohne Pause aufführen. | |
Er führt Menschen aus einem Elendsviertel am Rande São Paulos vor, Leute, | |
die sie als Goethe-Institut-Stipendiatin an der realen Praça Roosevelt | |
kennen gelernt haben will. Die meisten aber hat sie doch aus leicht | |
erkennbaren Stereotypen zusammengebastelt. Da ist zum Beispiel die | |
Witzfigur vom Arbeits und Obdachlosen, der überlegt, ob er seinen Anzug, | |
sein Mobiltelefon oder seinen Koffer verkaufen sollte, um – Vorsicht, | |
herausragende Pathosschraube – die Reise zur Beerdigung seines Vaters | |
finanzieren zu können: Übers Handy muss er erreichbar sein für Anrufe von | |
potenziellen Arbeitgebern, den Anzug braucht er fürs Vorstellungsgespräch, | |
ohne Koffer verratzt er – dieses Dilemma durchlebte schon der traurige | |
Bauer aus „Asterix der Gallier“, der unschlüssig darüber grübelt Wagen, … | |
oder Ochsen zu verkaufen. | |
Wie jener durchs Römerlager Babaorum, irrt Siegfried W. Maschek als | |
Koffermann über die von Thomas Rupert herrlich schäbig gestaltete Praça – | |
ein Abziehbildchen des Elends, so wie „die doppelte Maria“ oder die Transe | |
Aurora, die, klaro!, mit zwölf vergewaltigt wurde. Populärmythen sind toll, | |
wenn sie nicht mit Authentizitätsanspruch vorgetragen werden, wie es | |
penetrant im Programmheft geschieht. | |
Zusammen gehalten wird das Sammelalbum durch zwei verklammerte | |
Vater-verliert-Sohn und | |
Sohn-kann-sich-nicht-vom-toten-Vater-lösen-Geschichten, die trotz plumper | |
Symbolik – zwanghaftes Orangenessen – eine Stunde wachhalten könnten: | |
Darstellerisch fällt dabei Martin Baum als trauriger Polizist Herr Mirador | |
auf, der seinen Sohn an den Platz verliert, genauer, an eine Bande von | |
Drogendealern, die ihn ermorden, als er aussteigt. Sie schneiden ihm bei | |
lebendigem Leib sämtliche Extremitäten ab, blenden ihn und amputieren seine | |
Zunge. Das Ensemble schleudert dieses Martyrium in ekelfreudiger Prosa als | |
Schlusschor ins Publikum, ein Exzess der Gewalt, ein Exzess der | |
Sinnlosigkeit, fünf Minuten, in denen das Stück berührt, statt zu kitschen. | |
Fünf Minuten von zweieinhalb Stunden, das ist ein künstlerisch zu dürftiger | |
Ertrag für’s finanzielle Minus, das Schauspiel am großen Haus fast immer | |
bedeutet. Und dass „Sickster“ im kleinen Haus interessanter ist, als die | |
Zusammenfassung verspricht, tröstet darüber kaum hinweg: Das Porträt einer | |
verlorenen Generation wird an drei Figuren entworfen, deren große | |
Erwartungen enttäuscht sind und die sich in Plastikberufen aufreiben. Sie | |
finden in ihren Leistungsgesellschafts-Lebensweisen keine Erfüllung – und | |
sind so auf den bestem Weg geradewegs ins Irrenhaus, wenn sie nicht bereits | |
angekommen. | |
Dramaturg Tarun Kade und Hausregisseur Felix Rothenhäusler haben das auf | |
die Bühne im kleinen Haus gebracht, und einen starken Einstieg gefunden: Da | |
steht ein Mann, der vor allem erst einmal sagt, was er alles nicht ist, | |
nicht der Intendant, nicht der Dramaturg, nicht der Autor. Und der sich | |
dann – es ist der Schauspieler Paul Matzke – als Thorsten Kühnemund | |
vorstellt, als „Space-Manager“, der eine in Marketing-Lyrik getränkte | |
Schilderung seines Arbeitsalltags abgibt und das Publikum teilhaben lässt | |
an seinen Versuchen, mit schnellem Sex und Rausch Erfüllung vorzutäuschen. | |
Immer schneller kreist er um sich selbst, Musiker Matthias Krieg liefert | |
dazu sich auftürmende Klangspiralen. Zweimal wiederholt sich das Muster: | |
Karin Enzler stellt sich als Call-Center-Agentin Laura vor, Claudius Franz | |
als Lohnschreiber Magnus Taue. Doch sie können dem fulminanten | |
Kühnemund-Monolog von Matzke nicht viel entgegensetzen: Das rührt nicht, | |
und erzeugt, trotz intensivem Schütteln, nur eine schlaffe Fontäne, die | |
kleckert und nicht schäumt. | |
1 Oct 2012 | |
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Stadtplanung | |
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