# taz.de -- Kommunalwahlen in Antwerpen: Der Flamen-Befreier kriegt sie alle | |
> Erst will er Antwerpen befreien, dann ganz Flandern. Bart De Wever hat | |
> dank rechter Kampagnen beste Chancen, die Kommunalwahlen zu gewinnen. | |
Bild: Nationalistischer Menschenfischer: Bart De Wever. | |
ANTWERPEN taz | Früh am Samstagmorgen scheint es, als warte die | |
Neu-Flämische Allianz, die N-VA, in Antwerpen-Berchem auf den Messias. | |
Aufgeregt stehen die örtlichen Mitglieder auf der noch unbelebten | |
Hauptstraße. Die meisten sind mittleren, einige fortgeschrittenen Alters, | |
wenige jung. Gekleidet sind alle in sattem Gelb und Schwarz, den Farben der | |
flämischen Fahne. | |
Das Kampagnenmaterial für die Tour durch das Quartier im Westen der Stadt | |
wird auf ein Lastenfahrrad geladen. Nur der Mann, um den sich alles dreht, | |
lässt auf sich warten: Bart De Wever, Hoffnungsträger und Galionsfigur, als | |
Parteivorsitzender zuletzt mit über 99 Prozent der Stimmen bestätigt. Fast | |
könnte man denken, er werde auf einem Schimmel einreiten. | |
Und dann wird er doch nur im Wagen vorgefahren. De Wever, der sich | |
bevorzugt als konservativer Intellektueller gibt, trägt ein hellblaues Hemd | |
und beigefarbene Hose, dazu Hosenträger in der gleichen Farbe, die nicht | |
nur ein Accessoire sind, seit er keinen Bauch mehr hat. | |
Ganz ausgeschlafen wirkt er noch nicht, als er sich unaufgeregt den dunklen | |
Mantel überzieht. Lässig nickt er in die Runde und begrüßt alte Bekannte. | |
Berchem – das ist ein Heimspiel für De Wever. Geheiratet hat er hier, nicht | |
ganz zufällig am 11. Juli, dem flämischen Feiertag. „Dort hinten um die | |
Ecke wohnte ich früher“, erzählt er einem älteren Anwohner, der neugierig | |
ist, was dort für ein Tross durch seine Straße zieht, so früh und gut | |
gelaunt. | |
## Poluläre Politiker auf Gemeindeebene | |
Letzteres hat einen Grund – De Wever hat gute Chancen, bei den | |
Kommunalwahlen, die in Belgien am kommenden Sonntag stattfinden, | |
Bürgermeister von Antwerpen zu werden. Dass Politiker seines Kalibers auf | |
Gemeindeebene agieren, ist ganz normal in Belgien, wo selbst der Premier | |
Elio di Rupo nicht nur die Geschicke des Landes lenkt, sondern zugleich die | |
der Stadt Mons in der französischsprachigen Wallonie. | |
Doch nirgendwo steht der Kampf um das Rathaus landesweit so im Fokus wie in | |
Antwerpen, der größten Stadt der nördlichen Region Flandern: „Wir haben | |
hier den zweitwichtigsten Hafen Europas und sind einer der weltweit größten | |
Petrochemiestandorte. Auch kulturell ist Antwerpen das Zentrum Flanderns“, | |
preist der Kandidat seine Stadt. Doch da ist noch etwas. Die Metropole an | |
der Schelde ist ein nicht zu unterschätzender Machtfaktor. „Wer hier | |
regiert, regiert über zehn Prozent der Flamen.“ De Wever spricht das ganz | |
beiläufig aus. Mit den Flamen hat er noch so einiges vor. | |
Eines Tages, so steht es im Grundsatzprogramm seiner Partei, sollen die | |
sechs Millionen Einwohner auf dreizehneinhalbtausend Quadratkilometern | |
unabhängig werden. Nicht mit Gewalt, versteht sich. Das dumpfe | |
sezessionistische Gepolter des rechtsextremen Vlaams Belang vermeidet die | |
N-VA. „Evolution statt Revolution“, nennt der Historiker De Wever das. | |
## Getrennte Demokratien | |
Ein Kunstprodukt jenseits des Haltbarkeitsdatums – so sieht man hier, im | |
gelb-schwarzen flämischen Mikrokosmos der N-VA, das mehrsprachige Belgien. | |
Und De Wever, dessen Erscheinung auf ihrer Treppe eine junge Frau soeben | |
derartig verlegen gemacht hat, dass sie sich die Hände vors Gesicht hielt, | |
erklärt das den begleitenden internationalen Journalisten so: „Ihre Leser | |
müssen wissen, dass wir zwei getrennte Demokratien haben, zwei getrennte | |
Medienlandschaften, zwei getrennte öffentliche Meinungen.“ | |
Dass endlich jemand vermeintlichen Klartext redet, kommt an. Die junge Frau | |
und ihr Freund muss niemand bekehren. „Wir wählen sowieso N-VA“, versichern | |
sie, und wünschen De Wever viel Glück. Warum? „Weil sie als Einzige | |
realistisch ist, wenn es um Flamen und Wallonen geht.“ | |
Ist also die N-VA nur Erfüllungsgehilfin eines historischen Schicksals? | |
Tatsächlich driften der flämische Norden und der wallonische Süden Belgiens | |
seit einem halben Jahrhundert immer weiter auseinander. Immer mehr | |
politische Befugnisse wurden den Regionen übertragen.Doch automatisch | |
verläuft dieser Prozess keineswegs. Dahinter stecken jene Flamen, die ein | |
starkes Unbehagen empfinden angesichts milliardenschwerer Transferzahlungen | |
Richtung Süden in die frankophone Wallonie. Diese dominierte Belgiens | |
einst, ist aber durch den Strukturwandel längst abgehängt. | |
An der Spitze dieser Bewegung steht heute die N-VA. Sie ging 2001 aus der | |
nationalistischen Sammelbewegung Volks Unie hervor und ist in kürzester | |
Zeit zur größten Partei Flanderns geworden – wenngleich sie derzeit in der | |
Opposition ausharrt. | |
## Gemeinsam gegen De Wever | |
Auf Gemeindeebene sieht das bislang anders aus. Als hier 2006 zuletzt | |
gewählt wurde, war die N-VA eine Kleinpartei, die im Verbund mit den | |
Christdemokraten antrat. In Antwerpen wiederum haben Letztere sich | |
inzwischen mit den Sozialdemokraten zusammengeschlossen, um zu verhindern, | |
dass De Wever auf dem Stuhl des Bürgermeisters Platz nimmt. Doch auch | |
gemeinsam liegt man zehn Prozentpunkte hinter den Nationalisten, die sich | |
künftig in den Rathäusern verankern wollen. | |
Genau darum blickt am kommenden Sonntag das ganze Land nach Antwerpen. „Die | |
Stadt ist eine Vorbotin für den Rest des Landes. Hier entstehen politische | |
Phänomene“, sagt De Wever, während sein Kampagnenteam an Haustüren klingelt | |
und Flugblätter an Menschen im Morgenmantel verteilt. Er selber hat schon | |
die Wochenendzeitungen gelesen und weiß daher: „Die ganze Wallonie drückt | |
Patrick Janssens die Daumen.“ Janssens ist sein Kontrahent, amtierender | |
Bürgermeister Antwerpens. Ein legerer Mittfünfziger mit markanten Zügen und | |
sonorer Stimme, der ein bisschen aussieht wie der Lehrer Doktor Specht. | |
Janssens ist auch ein Vertreter jener Sozialdemokraten, die nach dem Krieg | |
ununterbrochen die Stadt regierten. Und eine solche Konstellation ist wie | |
gemacht für Bart De Wever. Wie der flämische Nationalismus seit jeher auf | |
die einstige Dominanz der Frankofonen in Belgien verweist, inszeniert sich | |
auch der N-VA-Chef bevorzugt als Außenseiter im Politbetrieb. | |
„Alle gegen einen“, rief er vor Monaten als Motto der Kommunalwahlen aus. | |
„Die Kräfte der Veränderung stehen den Kräften des Status quo gegenüber.�… | |
Und die Veränderung, so beschwören es die gelb-schwarzen Plakate in Berchem | |
wie im Rest Flanderns, beginnt in der Gemeinde. „In der Dorfstraße“, sagt | |
De Wever und wird noch etwas plakativer. „Damit sie sich in Brüssel | |
erschrecken.“ | |
## Wohlgenährte werden geschätzt | |
Mit Veränderungen kennt sich der Parteichef aus. Vor nicht allzu langer | |
Zeit sah er aus wie ein fleischgewordenes Michelin-Männchen. Sein | |
gewaltiger Trommelbauch gab ihm das Image des burgundischen „Genießers“ – | |
im schlemmfreudigen Belgien nicht der schlechteste Ruf. „Man schätzt es | |
hier, wenn Politiker gut genährt sind“, erzählte De Wever kürzlich im | |
Fernsehen. | |
Doch 140 Kilo auf rund 1,80 Metern waren zu viel, und als er eines Tages | |
mit seiner Tochter einen Freizeitpark besuchte und der Bügel des | |
Achterbahnsitzes nicht mehr schloss, stand sein Beschluss fest: Mit einer | |
Protein-Diät hungerte sich De Wever in einem halben Jahr knapp 60 Kilo | |
herunter. „Das war kein Parkspaziergang“ sagte er hinterher. | |
Trocken ist der Humor De Wevers, ruhig seine Stimme. In Diskussionen geht | |
sie am Ende eines Satzes manchmal in die Höhe, dann klingt der Tonfall des | |
flämischen Nationalisten fast ein wenig französisch. Was De Wever nicht | |
ist: ein Hetzer und Hassprediger, wie etwa Filip Dewinter vom Vlaams | |
Belang. Mit Letzterem will De Wever nicht kooperieren, da dessen Partei die | |
Menschenrechte nicht anerkenne. Andererseits gibt es ein Foto, das De Wever | |
mit Mitte 20 neben Jean-Marie Le Pen zeigt. Er beteuert, er habe sich nur | |
über dessen Ansichten informieren wollen. | |
Unbestritten aber ist, dass die N-VA auf die rechte Wählerschaft setzt. Man | |
sah das zuletzt in Antwerpen, als bei islamistischen Ausschreitungen wegen | |
des Films „Innocence of Muslims“ mehr als 100 Jugendliche festgenommen | |
wurden. „Die Stadt gehört nicht allen“, folgerte De Wever – und drehte | |
damit den Slogan um, der seit einigen Jahren das Citymarketing der | |
Metropole prägt. | |
## Kampfansage an die Weltoffenheit | |
Natürlich war das eine Kampfansage an das multikulturelle, | |
sozialdemokratische Antwerpen. Daneben sahen nicht wenige Bewohner die | |
Aussage als Sakrileg, denn Weltoffenheit und Vielfalt gehören zur Identität | |
der Hafenstadt. Das neue „Museum aan de Stroom“ an der Schelde widmet dem | |
Thema „Weltstadt“ eine ganze Etage und betont: „Die Globalisierung hat | |
Antwerpen zu dem gemacht, was es ist“. | |
Soll also ausgerechnet hier der Grundstein gelegt werden für eine | |
„flämische Republik“, wie der Schriftsteller Tom Lanoye, ein | |
kosmopolitischer Antwerpener, bereits vor zwei Jahren fürchtete? | |
Am besten fragt man das Bart De Wever selbst, an einem kühlen Herbstmorgen | |
in Berchem. Wie war das noch gleich mit der Evolution, an deren Ende das | |
Land auseinanderfällt? Könnte man gar, angelehnt an Leonard Cohen, sagen: | |
„First we take Antwerp?“ Eine Andeutung von etwas huscht über das schmal | |
gewordene Gesicht. „Ja“, sagt De Wever. „So können Sie das sehen. Das ist | |
der Plan.“ | |
13 Oct 2012 | |
## AUTOREN | |
Tobias Müller | |
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