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# taz.de -- Semesterbeginn der Hochschulen: Die hohe Kunst des Schwachsinns
> Wer heute zu studieren beginnt, muss prahlen, plustern, tarnen und
> täuschen lernen. Nirgendwo wird so viel geblufft wie an den Unis, sagt
> Professor Wolf Wagner.
Bild: Erstsemester-Veranstaltung an der Johannes Gutenberg-Universität in Main…
## 1. Psychologische Grundlagen
Als Björn sich in der Einführungsveranstaltung zu seinem Nebenmann dreht,
trifft ihn ein Blick, so unnahbar, dass auch Björn nichts mehr einfällt.
Reden Sie mit Ihren Sitznachbarn, lernen Sie sich kennen, hatte der Dozent
gesagt. Aber der Hörsaal bleibt still.
Es ist dieser typische Blick, der leicht seitliche, die
aufeinandergepressten Lippen und der gleichzeitige Versuch, intellektuelle
Coolness auszustrahlen, ein skeptisches Umherschauen, ein betont
gelangweiltes Nicken. Man begegnet solchen Blicken überall; sie treffen
einen in den Seminarräumen, wenn alle auf den Dozenten warten. Und während
man sich in eine der hinteren Reihen lümmelt und willkürlich mit neongrünem
Marker Textpassagen anstreicht, beginnt man selbst so zu schauen, ohne es
zu merken.
„Da ist die Hemmung unglaublich groß, etwas zu sagen“, sagt Wolf Wagner,
ehemals Rektor der Hochschule Erfurt und Experte für akademischen Bluff.
Wer dann doch die Hand hebt, sondert gleich einen Schwang kluger Theorien
ab, um unter all den klug Schauenden das Gesicht zu wahren.
Sonja, 28 Jahre, Philosophiestudentin, hat ganz ähnliche Erinnerungen an
ihre Anfänge. Zum Beispiel dieses Seminar damals über Kant: „Du liest das
Ding zum ersten Mal und hast unheimlich Schwierigkeiten, es zu verstehen
und das überhaupt in eigene Sprache zu packen. Und dann melden sich die
Leute, die schon sämtliche Interpretationen der Sekundärliteratur kennen.
Und du sitzt nur da und denkst dir: Okay …“
Anton, 20 Jahre, beginnt ebenso wie Björn gerade sein Politikstudium an der
FU. „Das Bluffen, das gab es ja schon im Abitur, in den Leistungskursen“,
sagt er. „Da ging es auch oft nur darum, einen klugen Eindruck zu
hinterlassen.“
„Aber an der Schule kennen Sie sich untereinander. Das ist der
Unterschied“, sagt Bluff-Theoretiker Wagner. „Sie wissen, was in den Köpfen
Ihrer Mitschüler drin ist. An der Uni sitzen Sie heute mit diesen 50 Leuten
im Seminar und morgen mit 50 ganz anderen. Das ist die Voraussetzung für
den Bluff.“
Was Björn, Sonja und Anton beschreiben, zeigt: Grundkenntnisse im Bluff
sind im modernen Hochschulwesen unverzichtbar. Ein eigens in den Räumen der
taz angesetztes Seminar sollte die Studierenden (angemeldet: Björn, Sonja,
Anton) in die theoretischen und praktischen Grundlagen einführen. Dozent:
Prof. Dr. Wolf Wagner, ehemaliger Rektor der Hochschule Erfurt und Autor
des Standardwerks „Uni-Angst und Uni-Bluff heute“.
## 2. Die Struktur des Bluffs
Der Akademiker zeichnet sich durch eine ihm eigentümliche Sprechweise aus.
Der näselnde Tonfall signalisiert dem Zuhörer die im Vortrag mitzudenkenden
Anführungszeichen. Stets hat man das Gefühl, dass er den Gegenstand, dem
seine Aufmerksamkeit gilt, wie mit spitzen Fingern von sich weghält. Er
bedient sich eines für Außenstehende nur schwer zugänglichen Vokabulars.
Ethnografische Studien deuten darauf hin, dass der Umgang der Akademiker
untereinander durch eine gewisse Reserviertheit gekennzeichnet ist. So
bleiben im Vorlesungsraum die vorderen Reihen in der Regel leer. Ferner
lässt sich beobachten, dass die Zuhörer auch zwischen sich möglichst viel
Raum zu lassen pflegen.
## 3. Praktische Übung
Prof. Wagner nimmt Papier und Stift und blickt in die Runde. Überlegen wir
uns einmal einen Bluff-Text. Thema: Merkels jüngster Besuch in Athen, aus
politikwissenschaftlicher Perspektive.
Sonja: „Die Auswirkungen des Griechenlandbesuchs von Angela Merkel auf die
Europapolitik können aus zwei verschiedenen Perspektiven analysiert werden.
Ist das jetzt schon bluffig?“
Prof. Dr. Wagner: „Nö, gar nicht.“
Anton: „Voll verständlich.“
Prof. Wagner (notiert den Satz): „So, jetzt müssen wir uns ausdenken, aus
welchen Perspektiven.“
Sonja: „Da fängt es dann wohl an mit dem Bluff …“
Die Seminarteilnehmer machen ein kluges Gesicht und schweigen.
Prof. Wagner: „Tja, vielleicht irgendwie so: Besuchsdiplomatische
Hypothesen...“
Sonja: „… untermauern …“
Prof. Wagner: „Viel zu einfach.“
Ratlosigkeit.
Prof. Dr. Wagner: „Besuchsdiplomatische Hypothesen sind
reputationsanalytisch zu reflektieren …“
Björn: „Reputationsanalytisch?! Also, spätestens da sehe ich doch, dass es
Bluff ist.“
Prof. Wagner: „Nee, das gibt’s wirklich.“
Björn: „Okay, da fehlt mir einfach der Background.“
Prof. Wagner: „Besuchsdiplomatische Hypothesen sind reputationsanalytisch
zu reflektieren, damit nach Einstein (1991) Bias-Fehlschlüsse
ausgeschlossen werden können.“
So. Punkt.
Anton: „Da gehört schon was dazu, so etwas zu schreiben.“
Prof. Wagner: „Der Satz heißt in etwa, dass man bei Staatsbesuchen nicht
die hochangesehenen und die unbedeutenden Politiker miteinander vergleicht.
In einem Bluff-Text muss es immer einen minimalen Inhalt geben. Aber der
wird unheimlich aufgemotzt.“
Sonja: „Das ist schon eine Kunst. Wenn ich da an meine Seminararbeiten in
Philosophie denke …“
## 4. Der Selbstbluff
Wenn jemand im Seminar aufzeigt und proklamiert, dass besuchsdiplomatische
Hypothesen reputationsanalytisch zu reflektieren seien, weil bekanntlich
bereits Einstein (1991) und so weiter – dann bleibt einem nichts anderes
übrig als zu schlucken und zu schweigen, klug daherzuschauen und innerlich
zu leiden. Weil es so schwerfällt, den Bluff zu durchschauen und die
Neugier für das Eigentliche zu behalten.
„Ist das die Botschaft Ihres Ratgebers?“, fragt Björn.
„Die Botschaft ist, dass es zwei Arten des Studierens gibt“, sagt Wagner.
Die eine nennt er Inhaltsstudium, die andere Aufstiegsstudium. Das
Inhaltsstudium dient dazu, spannende Fragen zu lösen, zu verstehen. Man
muss sich eingestehen, wie wenig man weiß, wie ahnungslos man vor der Welt
steht. Nur das führt zu den Momenten, in denen es plötzlich Klick macht im
Kopf und echte Glücksgefühle entstehen. Das Aufstiegsstudium dient dagegen
dazu, voranzukommen, einen guten Abschluss, Karriere zu machen, Reputation
in der Wissenschaft zu gewinnen und Anerkennung als Person von hoher
Bildung. Das geht nur mit einem Mindestmaß an Protz und Prahlerei.
Inhalts- und Aufstiegsstudium stehen in einem Spannungsverhältnis. Die
Aussicht auf Aufstieg und Anerkennung ist oft eine Voraussetzung dafür,
dass man sich entspannt den Inhalten zuwenden kann; aber die Gefahr ist
groß, irgendwann dem Eindruck seines eigenen Bluffs zu erliegen. „Es wird
zur Gewohnheit“, sagt Wagner. „Und das Schlimme ist: Man merkt es gar
nicht.“
Sonja ist nach elf Semestern eine Profiblufferin. Das geht so: Sie liest
die Texte und überlegte für die Seminarsitzung zu den wenigen Sätzen, die
unklar bleiben, mögliche Deutungen: Könnte damit nicht dieses oder jenes
oder Folgendes gemeint sein? „Dass ich drei Interpretationsalternativen
liefern konnte zu einem einzigen Satz, den den anderen vielleicht überlesen
haben, das macht Eindruck.“
Das Bluffen passierte ihr völlig unbewusst. „Bis ich irgendwann gemerkt
habe, dass ich die anderen 30 Leute, die gerade nichts sagen, ausschließe
mit dem, was ich da erzähle.“
Sie erinnerte sich, dass sie auch einmal zu diesen 30 anderen gehörte.
Seither hält Sonja sich zurück, wenn sie bemerkt, dass ein Seminar zu einem
Ping-Pong zwischen dem Dozenten und einigen wenigen Teilnehmern abdriftet.
„Ich habe die Sprache irgendwann gelernt. Ich beherrsche sie. Aber ich will
sie nicht so anwenden, dass sich andere ausgeschlossen fühlen.“
12 Oct 2012
## AUTOREN
Bernd Kramer
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