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# taz.de -- Zehn Jahre Schura in Niedersachsen: Der Antwortgeber
> Avni Altiner ist als Vorsitzender des Moscheenverbands Schura in
> Niedersachsen seit Jahren Ansprechpartner für Politiker, Journalisten und
> Muslime.
Bild: Mit stoischer Ausdauer und politischem Gespür: Schura-Vorsitzender Avni …
HANNOVER taz | Egal wo Avni Altiner auftaucht, werden ihm Hände
entgegengestreckt. Und Altiner schüttelt sie alle. Ob in Hannovers
einstigem Arbeiter- und heutigem Alternativszene-Stadtteil Linden, wo er
lebt, oder im Steintorviertel mit seinen türkischen Restaurants,
Supermärkten und Cafés – die Menschen kennen ihn. Und der Vorsitzende der
Schura Niedersachsen ist immer ansprechbar.
Zehn Jahre gibt es den muslimischen Dachverband in Niedersachsen. Altiner
ist von Beginn an dabei, seit acht Jahren als Vorsitzender. Von morgens
sechs bis mittags um zwei steht der Vater von zwei Kindern bei Volkswagen
am Fließband.
Danach ist der 44-Jährige als Schura-Vorsitzender Ansprechpartner für
Politik, Presse und die gut 90 Moscheegemeinden, die dem Verband
mittlerweile angehören. Darunter sunnitisch wie schiitisch ausgerichtete,
nicht staatliche türkische, afghanische, arabische, bosnische,
pakistanische, iranische, deutsche. Altiner vertritt als Vorsitzender gut
die Hälfte der 270.000 Muslime in Niedersachsen. Ein Amt, das er mit
stoischer Ausdauer und viel Gespür für politische Verhandlungen ausübt.
Dass er bei VW nur in der Frühschicht und nicht im Schichtdienst arbeitet,
hat Ex-Bundespräsident Christian Wulff (CDU), damals noch niedersächsischer
Ministerpräsident, erwirkt, damit Altina Zeit für den Schura-Vorsitz hat.
Mit Hannovers Oberbürgermeister Stephan Weil, der bei der Landtagswahl im
Januar als SPD-Spitzenkandidat antritt, ist er per Du. Weil hat ihm erst im
Sommer die sogenannte Stadtplakette für sein Engagement verliehen. Als
erstem Muslim überhaupt. Einen Eintrag ins Goldene Buch Hannovers gab es
gleich dazu.
Und Ministerpräsident David McAllister (CDU) hat Altiner in diesen Wochen
erst getroffen. Ein weiteres Gespräch ist noch im Oktober angesetzt. Der
Regierungschef bemüht sich, das Verhältnis zu den Muslimen im Land zu
flicken, die sein Innenminister Uwe Schünemann (CDU) immer wieder mit
Erfolg vor den Kopf stößt.
Altiner sagt, er wolle zwischen den Welten vermitteln. Und bei ihm ist man
geneigt, zu glauben, was sonst pathetisch-abgegriffen klingt. Die vielen
Fragen hätten ihn dazu gebracht, sich zu engagieren. Mit zwölf Jahren kam
er 1980 aus der Türkei nach Deutschland. Allein. Ein Jahr lebte er beim
Vater, der wie er heute bei VW am Band stand. Dann kamen seine Mutter und
die Geschwister nach. „Eine Herausforderung“ nennt er diese Zeit heute.
Seinen Vater kannte er bis dahin nur aus dem Urlaub, in der Schule verstand
er kaum ein Wort. Und auf die Fragen der Erwachsenen hätte er auch mit
besserem Deutsch kaum antworten können. Das Verhältnis zwischen Israelis
und Palästinensern, die iranische Revolution samt Revolutionsführer
Chomeini, all das sollte er erklären.
Dabei hatte er selbst auf die Frage, warum er als Muslim kein
Schweinefleisch isst, zunächst keine Antwort. „Wo ich bis dahin
aufgewachsen war, gab es keine Schweine“, sagt Altiner. „Wir wussten, wir
essen sie nicht, aber nicht, warum.“ Da habe er begonnen, sich mit seiner
Religion zu beschäftigen – und ist seitdem im Dauereinsatz, um diese Fragen
zu beantworten.
In seiner Gemeinde übernahm er zunächst die Jugendarbeit. Früh organisierte
er gemeinsame Projekte für jüdische und muslimische Jugendliche. Die
Steinmetzarbeiten der Jugendlichen von damals sind noch heute vor der
Landesbibliothek in Hannover ausgestellt. Als eine der ersten
Moscheegemeinden bemühte sich seine Jama’at-Nur-Gemeinde um den Dialog
zwischen Christen und Muslimen.
Noch heute macht er nebenbei die Öffentlichkeitsarbeit für die Gemeinde. In
Hannover-Ahlem organisierte Altiner Gesprächskreise und Vorträge. Nach dem
Umzug der Gemeinde nach Hannover-Linden suchte Altiner auch den Kontakt zur
jüdischen Gemeinde. Sein Büro hat er noch immer neben dem Gebetsraum der
Moschee in einem Lindener Hinterhof.
Die Fragen, die ihm mittlerweile gestellt werden, gehen weit über Theologie
und Glaubensauslegungen hinaus. Als Schura-Vorsitzender muss Altiner nicht
nur die unterschiedlichen Meinungen und Positionen innerhalb des Verbandes
zusammenbringen. Für Politiker und Ministeriumsfachleute ist er
Ansprechpartner für Bildungs- und Sozial- bis hin zu Justizpolitik. Das
Wissen dafür hat er sich nebenbei angeeignet. „Die Pauschalvorstellung,
dass jeder Muslim Fragen, die weit außerhalb Europas liegen, hier in
Hannover beantworten könnte“ begegne ihm heute doppelt so oft wie noch zu
Beginn der Arbeit für die Schura, sagt er.
Das Misstrauen gegenüber Muslimen habe zehn Jahre nach den Terroranschlägen
vom elften September nicht abgenommen. Er spricht von einer „schleichenden
Diskriminierung und Islamophobie“. Ein „Klima der Angst“, wie Altiner es
nennt, schüren für ihn Politiker wie Niedersachsens Innenminister
Schünemann.
Der jüngste Aufschlag: Schünemanns sogenannte Islamisten-Checkliste für
öffentliche Einrichtungen wie Schulen, Ämter und Behörden. Gewichtsverlust,
plötzlicher Bartwuchs, veränderter Kleidungsstil oder anderes Essverhalten
sind nur einige der 30 Kriterien, die laut der Checkliste Anzeichen für
eine mögliche islamistische Radikalisierung von Muslimen sind. Altiner
sieht mit solchen Listen „alle Muslime unter Generalverdacht“ gestellt.
Hart getroffen hat ihn vor allem Schünemanns Umgang mit seiner Kritik: Die
Schura beschwere sich nur über die Checkliste, weil sie intern unter dem
Druck der Milli-Görüs-Bewegung stehe, die seine Verfassungsschützer als
potenziell islamistische Vereinigung beobachten, hatte Schünemann erklärt.
Statt in „Verweigerungshaltung“ zu verfallen, sollten sich die
Moscheegemeinden „an die Spitze der Bewegung“ setzen. „Die Unterstellung
hat mich persönlich verletzt“, sagt Altiner, „ich lasse mich von niemandem
einnehmen.“
Auch Verweigerung kann man ihm nur schwerlich vorwerfen. Die
Landtagsfraktionen hat er mehrfach besucht. Mit der schwarz-gelben
Landesregierung verhandelte er jahrelang gemeinsam mit dem zweiten großen
staatlich-türkischen Moscheenverband Ditib über die Einführung des
islamischen Religionsunterrichts. Zum Schuljahr 2013/14 soll der regelhaft
starten. Möglich wurde das, weil die beiden Verbände einen Beirat gebildet
haben. Denn ein zentraler muslimischer Ansprechpartner, ähnlich wie bei den
christlichen Kirchen, war die Bedingung der Landesregierung für die
Einführung des Unterrichts.
Altiner agiert als Pragmatiker: Niedersachsens Integrationsministerin Aygül
Özkan (CDU) nennt er „ein noch größeres Dilemma als Schünemann“. Die
Hoffnungen, die viele Muslime hatten, als Özkan vor zwei Jahren als erste
Muslimin dieses Amt antrat, haben sich weitgehend zerschlagen. Özkan bleibt
stumm, wann es immer es um heikle Fragen geht. Altiner sitzt trotzdem in
dem unter Migrantenverbänden umstrittenen Integrationsbeirat der
Ministerin. Auch mit der Verfassungsschutzbehörde tauschte er sich bis zum
letzten Eklat um den Innenminister aus. „Wir Muslime wollen kooperieren“,
sagt er, „ich habe Politik und Behörden immer die Hand ausgestreckt.“
Und an Plänen fehlt es Altiner nicht. Sein derzeitiges Projekt: die
Gründung eines Schura-Jugendverbands, der wie evangelische oder katholische
Jugendverbände Mitglied des Landesjugendrings werden soll. Auch für
zivilgesellschaftliches Engagement bei den Feuerwehren und dem Technischen
Hilfswerk will er muslimische Jugendliche stärker motivieren. „Die
herkömmlichen deutschen Bürger sollen sehen, das sind die Jugendlichen von
unseren Straßen, die mich retten und für unsere Gesellschaft arbeiten“,
sagt er. Müde, sagt Altiner, werde er nur gegenüber „Behörden und
Institutionen, bei denen man immer wieder neu anfangen muss, im Kontakt
immer wieder Überzeugungsarbeit leisten muss“. Er hoffe, dass seine Kräfte
dafür weiter reichen.
Denn so wie Altiner zwischen den Welten vermitteln will, wechselt er selbst
ständig zwischen diesen Welten. Den Schura-Vorsitz macht er im Ehrenamt.
Bis spät abends ist er unterwegs, sitzt an runden Tischen, spricht auf
Podien, schüttelt Hände. Morgens um sechs steht er wieder am Fließband. Und
ist selbst da noch ansprechbar.
Als die Stimmung über das islamkritische Mohammed-Video „Die Unschuld der
Muslime“ im September weltweit brodelte, wurde er auch gefragt. Er wurde
auf der Arbeit angerufen und er sollte sagen, wie er zur Ankündigung von
Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) stehe, eine Vorführung des
Videos „mit allen rechtlich zulässigen Mitteln“ zu verhindern.
„Muslimverband fordert Zensur des Internets“, war die Schlagzeile, die auf
dieses Telefonat folgte.
Ganz so krass habe er das nicht gemeint, sagt Altiner. Aber solange das
Video bei Google und Youtube zu finden sei, halte er Ankündigungen, eine
Vorführung zu stoppen, für „unehrlich“. Das habe er deutlich machen wollen
in dem kurzen Telefonat in seiner Mittagspause. Über Muslime, „die sich von
geistigen Brandstiftern immer wieder provozieren lassen“, ärgere er sich
aber gleichermaßen.
12 Oct 2012
## AUTOREN
Teresa Havlicek
## TAGS
Niedersachsen
Islam
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