# taz.de -- Soziologe über Bologna-Reform: „Eine irrsinnige Planungsfantasie… | |
> Durch die Bologna-Reform ist das Studium komplizierter geworden, sagt der | |
> Organisationssoziologe Stefan Kühl. Vor allem die Kreditpunkte seien | |
> schuld. | |
Bild: Das Studium ist heute bürokratischer und verschulter als vor zehn Jahren… | |
taz: Herr Kühl, Sie lehren Soziologie an der Uni Bielefeld. Was hat sich | |
durch den Bachelor verändert? | |
Stefan Kühl: Ein Beispiel bringt es vielleicht auf den Punkt: Ich habe | |
einmal an einer Abschlussfeier an einer anderen Uni teilgenommen. Den | |
meisten Applaus bekamen nicht die Lehrenden, nicht die Tutoren oder | |
Dozenten. Sondern die Mitarbeiterinnen des Prüfungsamtes! Ein Studium | |
bekommt man heute nur noch organisiert, weil die Ressourcen in den | |
Prüfungsämtern und Beratungsstellen so massiv ausgebaut worden sind. Ich | |
hatte während meines Studiums nur einmal Kontakt zum Prüfungsamt, und zwar | |
als ich mein Zeugnis abgeholt habe, jetzt sind die längsten Schlangen nicht | |
selten vor den Prüfungsämtern. | |
Sie meinen also, früher war also alles besser? | |
Nein. Die Bologna-Reform hat aus meiner Sicht definitiv positive Seiten. | |
Die Idee eines zweistufigen Studiums mit dem Bachelor als ersten und dem | |
Master als zweiten Abschluss finde ich sinnvoll. Dadurch haben Studierende | |
die Möglichkeit, aus einem Fach, das ihnen nicht gefällt oder nicht so | |
liegt, nach drei oder vier Jahren herauszukommen, ohne gleich einen | |
Studiengang abbrechen zu müssen. | |
Bisher fällt die Bilanz eher gemischt aus. Die Abbrecherquoten sind nicht | |
wirklich gesunken. | |
Die Befürworter und Gegner legen sich die Zahlen so zurecht, dass sie ihren | |
jeweiligen Argumente stützen. Es gibt einen überraschenden | |
Interpretationsspielraum, was Kriterien wie Studienabbruch oder | |
Auslandsmobilität angeht. Ob die Bologna-Reform ihre Ziele erreicht hat, | |
lässt sich schwer sagen. Was sich klar sagen lässt: Das Studium ist | |
bürokratischer und verschulter geworden. | |
Im alten Magisterstudium mit seinen großen Freiheiten sind viele verloren | |
gegangen – und haben oft nach langen Jahren entnervt hingeworfen. | |
Mehr Anleitung im Studium kann in einzelnen Bachelorstudiengängen | |
didaktisch sinnvoll sein. Aber bei der Bologna-Reform haben wir | |
Verschulungseffekte, die völlig ungewollt aufgetreten sind. Studiengänge | |
werden plötzlich starr und kompliziert, ohne dass es nötig wäre. Es wird | |
zunehmend schwieriger, die Leistungen von anderen Hochschulen oder von | |
einem Auslandsaufenthalt anrechnen zu lassen. Das hat mit einem | |
vermeintlich winzigen Detail der Bologna-Reform zu tun: mit der Einführung | |
von Leistungspunkten. | |
Leistungspunkte zeigen an, wie viel Zeitaufwand eine bestimmte | |
Veranstaltung bedeutet und wie stark ihr Gewicht für die Endnote ist. | |
Das war die Intention. Aber sie hat zu einer völlig irrsinnigen | |
Planungsfantasie geführt. Man kann sich das so vorstellen: Wir haben einen | |
Studenten Max Mustermann im Bachelor-Studiengang BWL. Nun überlegt man | |
sich, dass dieser Student bis zum Abschluss 5.400 Stunden studieren soll, | |
die nun stundengenau im Voraus verplant werden. So viele Stunden sitzt er | |
in dieser Veranstaltung, so viele braucht er für eigene Lektüren und so | |
weiter und so fort. Bis jede Stunde verplant und alle Punkte vergeben sind. | |
Das Vorbild für diese Verechnungseinheiten waren offensichtlich die | |
staatssozialistischen Planwirtschaften. | |
Darf man sich keine Gedanken darüber machen, was ein Studiengang beinhalten | |
soll und wie zeitaufwendig die einzelnen Elemente sind? | |
Natürlich darf man. Aber man kann so eine komplexe Tätigkeit wie das Lernen | |
an einer Universität nicht vorher stundengenau durchplanen und kleinteilig | |
bepunkten. Diese Leistungspunkte sind an allen Hochschulen eine reine | |
Kunstwährung ohne jeden Realitätsbezug. Das Studium verkommt zu einem | |
Sudoku-Spiel: Man muss irgendwie Punkte verteilen, so dass es aufgeht. | |
Das heißt? | |
Da sitzen Studienplaner und stellen mit einem Mal fest: Wie ärgerlich, mein | |
Studiengang hat nur 173 Punkte, braucht aber 180, es fehlen also noch 7 | |
Leistungspunkte – also genau 210 Stunden – , die verplant werden müssen. | |
Und dann rätseln sie und bauen hier noch eine Prüfung ein und da eine | |
Übung. Aber eben nicht, weil es didaktisch geboten wäre, sondern damit das | |
Punkte-Sudoku aufgeht. Bei den Studenten ist es genau so. Die betteln bei | |
ihren Dozenten, dass zehn Minuten früher kommen und die Tafel putzen | |
dürfen, nur damit sie den einen Leistungspunkt mehr bekommen, den ihre | |
Studienordnung verlangt. | |
Man braucht ein Punktesystem, wenn Studienleistungen europaweit | |
vergleichbar sein sollen. | |
Das ist der ganz große Bologna-Mythos. Die Bepunktung hat die Anrechnung | |
von Studienleistungen erheblich erschwert und nicht vereinfacht! Zu meiner | |
Zeit ging man einfach ins Ausland und hat nach der Rückkehr die Dozenten | |
gefragt, ob sie diese und jene Veranstaltung als gleichwertig anerkennen. | |
Das war überhaupt kein Problem. | |
Dafür war man dem Wohlwollen der Dozenten ausgeliefert. | |
Das ist man jetzt auch. Vielleicht sogar noch mehr, weil Dozenten und | |
Prüfungsämter über völlig willkürlich zugeordnete Leistungspunkte | |
hinwegsehen müssen. Selbst innerhalb von Deutschland ist die Bepunktung von | |
inhaltgleichen Modulen ja uneinheitlich. Die Einführungsveranstaltungen in | |
die soziologische Theorie werden überall ganz ähnlich gemacht, mit einer | |
Vorlesung und einer Übung. Aber an der einen Uni gibt es dafür sechs | |
Leistungspunkte, an der andern sieben, an wieder einer anderen zehn. | |
Was sollte sich ändern? | |
Mein Vorschlag lautet: Die Bologna-Reform muss auf einen Bierdeckel passen. | |
Die Essenz lautet: Europaweit gilt das zweistufige Studium mit einem ersten | |
Abschluss nach frühestens drei Jahren. Alles andere soll Sache der | |
Hochschule sein. Punkt. | |
… und das Chaos würde immer größer. | |
Man ist doch sowieso ständig damit beschäftigt, die Leistungspunkte zu | |
ignorieren, wenn man Prüfungsleistungen anrechnen will, die die Studenten | |
zum Beispiel im Ausland erbracht haben. Deswegen ist es besser, wenn man | |
sich durch diese Zahlenfiktion nicht unnötig irritieren lassen muss. Das | |
macht die Planung einfacher und nicht schwieriger. | |
17 Oct 2012 | |
## AUTOREN | |
Bernd Kramer | |
## TAGS | |
Bachelor | |
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