# taz.de -- Abstimmung in Island: Mehr Macht für die Bevölkerung | |
> In einem Referendum stimmt die Mehrheit für eine neue Verfassung, die | |
> mehr Mitsprache ermöglichen soll. Doch ob sie in Kraft tritt, ist noch | |
> offen. | |
Bild: Mit der neuen Verfassung sollen die Isländer künftig mehr mitentscheide… | |
STOCKHOLM taz | Die IsländerInnen haben am Samstag in einer Volksabstimmung | |
über die künftige Verfassung des Landes abgestimmt. Zwei von drei | |
WählerInnen sagten dabei Ja zu einer Reihe von Änderungen, die dem Volk | |
mehr Macht bringen, die Befugnisse der Regierung beschränken und die | |
Kontrollfunktion des Parlaments stärken sollen. | |
Von einer „gerechten Gesellschaft, in der jeder gleich ist“, spricht die | |
Präambel des [1][Verfassungsentwurfs]. Darin wird unter anderem der | |
Abschnitt über grundlegende Menschenrechte erweitert, der sich künftig auch | |
auf den Schutz von Umwelt und Natur erstreckt. | |
Deutlicher als bislang werden die Befugnisse gesetzgebender, ausführender | |
und juristischer Gewalt getrennt, Offenheit, Transparenz und | |
Bürgerbeteiligung als grundlegende Prinzipien verankert. Die Möglichkeit zu | |
Volksabstimmungen über vom Parlament verabschiedete Gesetze sowie | |
Volksbegehren wird erweitert. Zudem wird die neue Institution eines | |
„Gesetzesrats“ geschaffen, der als eine Art Verfassungsgericht fungieren | |
soll. | |
Der Wunsch nach einer Verfassungsänderung war eine Reaktion auf den | |
Finanzcrash im Herbst 2008 und der folgenden „Kochtopfrevolution“, die | |
seinerzeit Regierung und Parlament fortgetrommelt hatte. Auch über die | |
Verfassung sollte künftig verhindert werden, dass jemals wieder über den | |
Kopf der Bevölkerung hinweg das Volksvermögen für die Schulden einer | |
Handvoll von Finanzhaien verpfändet werden könnte. | |
## Verfassung von der Basis formuliert | |
Weil mit dem damaligen Zusammenbruch praktisch die gesamte politische | |
Klasse das Vertrauen der Bevölkerung verloren hatte, wurde die [2][Idee | |
einer verfassungsgebenden Versammlung der Basis] geboren. Aus dem | |
Bevölkerungsregister wurden nach dem Zufallsprinzip 1.000 Personen | |
ausgewählt. Von diesen erklärten sich mehrere hundert zu einer Kandidatur | |
bereit. | |
In einer allgemeinen Wahl wurden die 25 mit den meisten Stimmen in den | |
Verfassungsrat geschickt. Alle waren aufgefordert, sich mit Vorschlägen, | |
Kommentaren und über soziale Medien an der Diskussion zu beteiligen. Vom | |
„vielleicht demokratischsten Verfassungsgebungsprozess der Weltgeschichte“ | |
schwärmte Thorvaldur Gylfason, Ökonomieprofessor und einer der | |
Ratsmitglieder. | |
Schnell zeigte sich, wie wenig die politischen Parteien an einem derartigen | |
Demokratieexperiment interessiert waren. Von der rechten Opposition wurde | |
der Prozess juristisch behindert und die Arbeit des Rats so lange | |
verzögert, bis das öffentliche Interesse immer mehr erlosch. | |
Die ganze Richtung, beispielsweise eine Überführung der natürlichen | |
Ressourcen des Landes in nationales Eigentum, passte den Konservativen | |
nicht. Dies drohte den Interessen ihrer Fischereiklientel zuwiderlaufen, | |
die ihre vor Jahrzehnten als „dauerhaft“ erhaltenen Fischfangquoten | |
verlieren könnten. | |
## Referendum ist nicht bindend | |
Auch die rot-grüne Regierung, ursprünglich ein Initiator, schien mit | |
wachsender eigener Unpopularität – derzeit deutet alles auf ihre Ablösung | |
bei den Wahlen im Frühjahr 2013 hin – das Interesse an dem | |
Verfassungsprojekt zu verlieren. | |
Das jetzige Referendum, an dem sich rund die Hälfte der Wahlberechtigten | |
beteiligte, war nicht bindend. Die Verfassungsänderungen können nur in | |
Kraft treten, wenn eine Parlamentsmehrheit vor und eine weitere nach den | |
nächsten Wahlen sie verabschiedet. Letztere Bedingung ist derzeit ungewiss. | |
21 Oct 2012 | |
## LINKS | |
[1] http://stjornlagarad.is/english/ | |
[2] http://vimeo.com/user2564373/blueberrysoupfilm | |
## AUTOREN | |
Reinhard Wolff | |
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Island | |
Verfassung | |
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