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# taz.de -- Aus „Le Monde diplomatique“: Im tiefen Süden
> Die Rivalen ums Weiße Haus lassen im Wahlkampf einige US-Bundesstaaten
> links liegen. Eine Reise zu den Wählern, auf die es nicht ankommt.
Bild: Für Obama kam Michelle nach Florida.
Jeden Morgen um 6 Uhr setzt sich Russell Stanton ans Steuer seines Pick-ups
und fährt die umliegenden Farmen ab, in der Hoffnung, für den Tag
irgendeine Arbeit zu ergattern: Pfirsiche pflücken, Erdnüsse oder Mais
ernten, was immer man ihm anbietet. Abends verlässt der Vierzigjährige
trotz der feuchten Augusthitze mehrmals sein klimatisiertes Zimmer im Motel
von Darien, Georgia, um draußen auf dem Parkplatz eine Zigarette zu
rauchen.
Seit drei Jahren lebt er hier. „Das Zimmer ist billiger, als eine Wohnung
zu mieten. Hier gibt es Strom und Kabelfernsehen, und jeden Tag macht
jemand sauber“, sagt er und lächelt seiner Schwester Jenna zu, die hier als
Zimmermädchen arbeitet. Sie wohnt mit ihrem Mann und ihren Kindern in zwei
nebeneinander liegenden Zimmern, hat aber nur ein oder zwei Stunden Arbeit
pro Tag: „Das Motel hat nicht viele Gäste, nur ein paar Leute, die immer da
sind. Im Augenblick wohnen hier ein Lkw-Fahrer mit seiner Freundin und eine
indische Familie. In der Gegend halten die Leute höchstens mal kurz an der
Raststätte – übernachten tun sie im Auto am Straßenrand.“
Auch die Kandidaten fürs Weiße Haus machen sich nicht die Mühe, in Georgia
abzusteigen – sie reisen eher nach North Carolina oder Florida, in einen
der zehn Bundesstaaten, in denen die Wahl entschieden wird.
Darien liegt ein paar Meilen von der Interstate 95 entfernt, die von
Floridas Atlantikküste bis hinauf nach Kanada führt. Es ist ein friedlich
wirkendes Südstaatendorf und wahrlich keine Touristenattraktion: eine
breite Hauptstraße mit vielen, rechtwinklig einmündenden Nebenstraßen,
Tankstellen, Gemischtwarenläden, in denen es weder Obst noch Gemüse gibt,
und vor allem viele, viele Häuser, die zu verkaufen sind.
Von den 1 090 Häusern der Gemeinde stehen 292 leer. Den 2 000 Einwohnern,
die schon die Krise der Textilindustrie schwer getroffen hatte, hat die
Subprime-Krise von 2007 den Rest gegeben. Im County McIntosh liegt die
Arbeitslosigkeit bei über 10 Prozent, das durchschnittliche Jahreseinkommen
ist zwischen 2007 und 2009 von 25 739 auf 21 771 Dollar gesunken,
anschließend erholte es sich ein wenig.
##
Die Geschwister Stanton sind ins Fort King George Motel gezogen, nachdem
ihr Haus gepfändet wurde. „Ich habe mich mit Gelegenheitsjobs
durchgeschlagen, und meine Mutter konnte nicht mehr arbeiten. Die
Abzahlungsraten waren zu hoch, da mussten wir raus. Ich bin für ein Jahr
nach Texas gegangen, um dort mein Glück zu versuchen, dann bin ich wieder
hergekommen“, berichtet der ältere Bruder. Jenna und ihr Mann hatten
versucht, eine Wohnung zu mieten, aber bald konnten sie die Miete nicht
mehr zahlen und sind ins Motel gezogen. Die junge Frau hat schlechte
Erinnerungen an diese letzte Zeit: „Vier Jahre lang hat Obama nichts für
uns getan. Ich bin arm, ich bin für die Republikaner, weil den Demokraten
arme Weiße wie ich völlig egal sind.“
Am Ende von Barack Obamas erster Amtszeit ist die Rassentrennung in der
Politik noch genauso deutlich wie zuvor, vor allem in den Südstaaten. „Wir
sind wieder da, wo wir vor vierzig Jahren waren, als nur Schwarze schwarze
Wähler repräsentieren konnten und nur Weiße die weißen Wähler“,(1) meint
der demokratische (schwarze) Senator Eric Mansfield aus North Carolina.
Nachdem in Louisiana, Alabama und Mississippi nach diesem Muster gewählt
wurde – dort sind die Kongressabgeordneten entweder schwarze Demokraten
oder weiße Republikaner –, könnte bei den Wahlen im November nun auch der
letzte weiße Demokrat in Georgia sein Mandat verlieren.
„Das ist für keine Seite gut“, klagt Lindsey Graham, republikanischer
Senator aus South Carolina. „Die Republikaner müssen verstehen, dass wir
mit Kandidaten, die aus Minderheiten stammen, auch Wähler anziehen können.
[…] Und die Demokraten müssen begreifen, dass die Demokratische Partei sich
nicht mit 25 Prozent der weißen Wählerstimmen zufriedengeben sollte.“(2)
## Rückkehr der Rassentrennung
Die Rechte sieht den Grund für die ethnische Polarisierung in der
toleranten Haltung ihrer Gegner bei Fragen wie Abtreibung oder Homoehe.
„Vor ein paar Jahren haben noch viele Weiße für die Demokraten gestimmt.
Aber die Partei ist so weit nach links gerückt, dass sie wieder ins
konservative Lager zurückgekehrt sind“, erklärt der pensionierte Ingenieur
Kevin Bennett, der in Alabama Wahlkampf für die Republikaner macht.
Die Obama-Anhänger erklären die Entwicklung dagegen mit der Neuaufteilung
der Wahlkreise seit 2010 durch die republikanischen Gouverneure. „Jetzt
gibt es in wenigen Wahlkreisen deutliche schwarze Mehrheiten, und in allen
anderen bilden die Schwarzen eine verschwindende Minderheit“, meint Billy
Mitchell, schwarzer demokratischer Abgeordneter im Repräsentantenhaus von
Georgia. So sind etwa die Hälfte der 2,2 Millionen Afroamerikaner in North
Carolina in nur einem Fünftel der Wahlkreise zusammengefasst. In Texas ist
der Anteil der weißen Bevölkerung von 2000 bis 2010 von 52 Prozent auf 45
Prozent gesunken – aber dank der Neuaufteilung sind in 70 Prozent der
Kongresswahlkreise die Weißen in der Mehrheit.
In Darien, wo nicht sehr viel weniger Schwarze als Weiße leben (44,2
beziehungsweise 52,9 Prozent), wird ein Kopf-an-Kopf-Rennen erwartet.
Russell Stanton schert sich nicht um die Statistik: „Ich wähle Obama. Ich
habe keine Kinder, deshalb habe ich keinen Anspruch auf die medizinische
Grundversorgung durch Medicaid. Wenn er gewinnt, dann kriege ich vielleicht
eine Krankenversicherung.“ Das klingt etwas überraschend aus dem Mund eines
Mannes, der den ultrarechten Journalisten Rush Limbaugh „verehrt“, wie er
sagt, weil der „die richtigen Fragen stellt“. Seine Schwester muss
jedenfalls grinsen: „Das hast du vor der letzten Wahl auch schon gesagt und
hast immer noch keine Versicherung!“
Obwohl ihre Entscheidung getroffen ist, werden die Stantons am 6. November
vielleicht doch nicht wählen gehen: Sie haben sich noch nicht auf die
Wählerliste eintragen lassen und wissen weder, wann die Wahl stattfindet
noch wie der republikanische Präsidentschaftskandidat heißt. Das erfahren
sie auch nicht aus der Lokalzeitung Tribune & Georgian. Am Tag nach der
offiziellen Kandidatenkür von Mitt Romney widmete das Blättchen dem
Ereignis keine einzige Zeile, berichtete aber ausführlich von einer
59-Jährigen, die in Woodbine betrunken auf der Straße festgenommen wurde,
und von einem 30-Jährigen, den die Polizei mit einer offenen Bierflasche in
der Hand auf dem Bürgersteig von St. Mary’s erwischt hatte.
##
Im Dorf ist die Präsidentschaftswahl kein Thema – wie auch sonst nirgendwo
in Georgia: keine Wahlkampfspots im Fernsehen, keine Hausbesuche von
Wahlkampfhelfern oder Veranstaltungen mit den Kandidaten. In manchen
Dörfern hängen zwar Wahlplakate für die örtlichen Sheriff-Anwärter, aber
Obama und Romney sind im öffentlichen Raum nicht präsent.
Die Rivalen im Kampf um das Weiße Haus lassen nicht nur Georgia, sondern
auch einige andere US-Bundesstaaten links liegen: Seit Juni 2012 sind Mitt
Romney und sein Kandidat für die Vizepräsidentschaft Paul Ryan nicht ein
einziges Mal nach Maryland, Connecticut, Nebraska, Kansas, Maine oder
Vermont gereist. Barack Obama und sein Vize Joseph Biden waren noch nicht
in Arizona, New Mexico, Oklahoma, Mississippi, Alabama, Montana und Idaho.
„Der Präsident kommt nur nach Georgia, um Spenden einzusammeln“, vertraut
uns Mitchell ein wenig kleinlaut an. „Es hat keinen Zweck, hier Wahlkampf
zu machen. Wir verlieren so oder so. Deshalb fragen wir unsere Helfer, ob
sie nicht nach North Carolina oder Florida fahren wollen, um dort von Tür
zu Tür zu gehen und Versammlungen zu organisieren. Sie können ja auch
überall in den USA anrufen.“
In South Carolina hören wir dasselbe von Melissa Watson, einer schwarzen
Lehrerin, die Mitglied der Demokratischen Partei ist: „Der Präsident hat
eine Milliarde Dollar zur Verfügung. Das ist zwar viel Geld, aber doch eine
begrenzte Summe. Und wir wissen, dass wir kaum eine Chance haben, in South
Carolina zu gewinnen. […] Deshalb hat Obama beschlossen, sich auf die
Staaten zu konzentrieren, wo es einen echten Wettbewerb gibt. Es sind nur
zehn oder elf Staaten, um die sich die Kandidaten wirklich streiten.“
Zu diesen „Swing States“ gehören Ohio, das schon 21 Besuche des
demokratischen Präsidentschaftstandems (und 22 von Romney und Ryan)
verzeichnen konnte, Iowa (hier steht es 17 zu 13), Florida, North Carolina
und Nevada. Allein in diesen Staaten wurden zwischen dem 10. April und dem
4. September 2012 praktisch alle 605 996 Wahlkampfspots ausgestrahlt, die
die Kandidaten (oder ihre Unterstützer) bestellt hatten – zur großen Freude
der Fernsehsender: In einem Jahr ist der Preis für einen 30-Sekunden-Spot
in Charlotte, North Carolina, um 44 Prozent, in Las Vegas, Nevada, um 34
Prozent gestiegen.(3)
##
Das US-Wahlverfahren (indirekte Wahl in einem einzigen Durchgang) fördert
nicht nur das Zweiparteiensystem, es verleiht den einzelnen Wählerstimmen
auch ein unterschiedliches Gewicht: Ein Votum in einem „Safe State“ (wo
eine der beiden Parteien eine sichere Mehrheit hat) fällt weniger ins
Gewicht als eines in einem „Swing State“ (wo mal die eine, mal die andere
Partei gewinnt). Der Süden der USA gehörte – als Hochburg der Demokraten –
fast ein Jahrhundert lang zur ersten Kategorie,(4) bis er Anfang der 1970er
Jahre an die Republikaner fiel: Vor Obama ist es nur den aus dem Süden
stammenden Demokraten Jimmy Carter und Bill Clinton gelungen, sich in
Staaten der einstigen Konföderierten durchzusetzen.
Seit 2008 haben die Demokraten ihre Wahlkampfaktivitäten in South Carolina
eingestellt, in North Carolina dagegen setzen sie sie fort – obwohl die
beiden Staaten bislang ähnlich gewählt hatten. Bei einer Reise durch die
Gegend kann man die Gründe dafür schnell erkennen. Während man in North
Carolina durch ausgedehnte Vorortsiedlungen fährt, die vor zehn oder
zwanzig Jahren entstanden sind, ist South Carolina immer noch sehr ländlich
geprägt. Hier leben die Menschen immer noch von der traditionellen Textil-,
Automobil- und Chemieindustrie und der Landwirtschaft (Tabak und Geflügel).
Dagegen vermögen im Vorort Old Stone Crossing im Osten von Charlotte, weder
die gewundenen Straßen noch die „alten Steine“ der Häuser über den
Neubaucharakter der Siedlung hinwegzutäuschen. Sie wurde auf brachliegenden
Feldern zwischen Autobahnen und Gewerbegebieten hochgezogen und ist mit der
Innenstadt über ein Wirrwarr von Highways, kleinen Alleen und
menschenleeren Straßen verbunden. Nachts ist hier kaum ein Licht zu sehen –
es gibt kein Geschäft, keine öffentlichen Plätze. Dutzende solcher mehr
oder weniger stattlichen „Stadtviertel“ – Hampshire Hills, Highland Creed,
Beverly Crest, McAlpine Woods – wurden auf ähnliche Weise aus der Erde
gestampft. „North Carolina, das ist ein mit Wohnsiedlungen bebautes
Maisfeld“, sagt uns ein Einheimischer.
Beim demokratischen Parteitag Anfang September in Charlotte fand
Exgouverneur Jim Hunt allerdings schönere Worte für die Entwicklung in
seinem Bundesstaat: „Sie haben die Wolkenkratzer gesehen und alles, was
Charlotte zu bieten hat“, rief er in die Menge. „Vielleicht haben Sie auch
schon von unserem Research Triangle Park(5) gehört. Vielleicht haben sich
Ihre Kinder an einer unserer Universitäten beworben. Wir sind stolz darauf,
das alles in North Carolina erreicht zu haben. Vor 50 Jahren war das hier
noch ein armer, ländlicher Staat mit Rassentrennung. Aber Anfang der 1960er
Jahre hatten wir einen Gouverneur namens Terry Sanford. Er hat mit
Unternehmern, Politikern und Lehrern zusammengearbeitet, um unsere
großartigen Fakultäten, unsere 58 Community Colleges(6) und unsere
öffentlichen Schulen aufzubauen. Das Ergebnis sind die hoch qualifizierten
Leute und die blühende Wirtschaft, die Sie heute hier bewundern können.“
## Zehn Kirchen für 3 000 Leute
In North Carolina befinden sich in der Tat 3 der 30 besten US-Universitäten
sowie 14 der 500 größten Unternehmen des Landes. Seit dem Boom der 1990er
Jahre hat sich auch die Bevölkerung verdoppelt. Aufgrund dieser
demografischen Entwicklung sah Obama 2008 eine Chance, den Republikanern
den Bundesstaat streitig zu machen: Mit einer Armee freiwilliger
Wahlkampfhelfer mobilisierte er die neu Zugezogenen, darunter viele
Studenten, junge Leute, hochqualifizierte Fachkräfte und Angehörige von
Minderheiten, die zumeist für ihn stimmten. So konnte er seinen Rivalen
McCain, der unter den weniger gut ausgebildeten Weißen und in ländlichen
Gebieten viele Unterstützer hatte, mit hauchdünnem Vorsprung schlagen.
Die Gegensätze trafen hart aufeinander: In Mecklenburg County, zu dem die
wirtschaftlich dynamische Stadt Charlotte gehört und wo knapp 51 Prozent
Weiße (ohne Hispanics) leben, wurde Obama mit 62 Prozent der Stimmen
gewählt. Im Nachbarcounty Gaston (75 Prozent weiße Bevölkerung und ein 20
Prozent niedrigeres durchschnittliches Haushaltseinkommen) konnte John
McCain die Abstimmung mit ähnlichen Werten für sich entscheiden.
Der Bundesstaat Georgia ähnelt in seiner sozialen und wirtschaftlichen
Struktur eher Gaston als Mecklenburg County. Dasselbe gilt für Alabama,
South Carolina, Mississippi und Arkansas: Hier haben die Demokraten kaum
eine Chance. „Abgesehen von der Hauptstadt Atlanta ist dies ein armer,
ländlicher, religiöser Staat“, rechtfertigt Demokrat Mitchell aus Georgia
die wiederholten Wahlniederlagen seiner Partei. „Die Leute hier sind sehr
konservativ: Wir sind hier mitten im Bible Belt.“
Die Gegend hat ihren Namen nicht umsonst. Allein Georgia mit seinen 10
Millionen Einwohnern zählt mehr als 12.000 Kirchengemeinden, mit etwa 3,3
Millionen aktiven Mitgliedern. Methodisten, Baptisten, Presbyterianer,
Pfingstler, Episkopale – in den Dörfern gibt es kaum ein für die
Allgemeinheit nutzbares Gebäude, aber jede Menge Kirchen.
Allein in Darien mit seinen 2000 Bewohnern gibt es zehn Kirchen. Die
meisten kämpfen gegen „die Sünde“ – Abtreibung, Empfängnisverhütung,
Homosexualität und Glücksspiel – und spielen zugleich eine wichtige Rolle
im öffentlichen Leben: Sie verteilen Lebensmittel an Bedürftige, kümmern
sich um Alte und organisieren Nachhilfeunterricht für Schulkinder. Und dank
der Spendenbereitschaft und der Hilfe vieler Ehrenamtlicher tun sie das zu
äußerst niedrigen Preisen.
##
In den Südstaaten geht religiöser Eifer manchmal mit einer Abneigung gegen
den Staat einher. So herrscht allgemein die Vorstellung, kirchliche
Wohlfahrtseinrichtungen seien besser als staatliche Stellen geeignet,
soziale Probleme zu lösen. „Der private Sektor ist viel effizienter: Da
probieren ganz viele Menschen die unterschiedlichsten Lösungen aus, und die
beste setzt sich durch. Der Staat kann per definitionem so nicht handeln:
Er konzipiert eine Lösung, die er dann allen vorschreibt. In den USA hat es
nie so viele Arme gegeben wie nach dem Beginn von Präsident Johnsons ’Krieg
gegen die Armut‘.(7) Ich als Konservativer meine, die Kirche sollte bei der
Sozialhilfe die wichtigste Rolle spielen. Sie ist am nächsten an den
Bedürftigen dran, weiß, was ihnen fehlt, und kann eine Interaktion zwischen
Helfer und Empfänger schaffen: Sie nimmt den Einzelnen in die Pflicht“,
erklärte Matt Arnolds, ein Delegierter aus North Carolina beim Parteitag
der Republikaner in Tampa, Florida.
Ein paar Meter entfernt steht Ed Rynders, Abgeordneter im
Repräsentantenhaus von Georgia, in dunkelblauem Anzug mit roter Krawatte
und eingefrorenem Lächeln. Auch er ist fest überzeugt, dass die Armen in
die Verantwortung genommen werden müssen. Wenn er so etwas hört wie
„Sozialhilfe in Anspruch nehmen“, geht er in die Luft. „Sozialhilfe schaf…
Abhängigkeit!“, sagt er mit Nachdruck. Dann folgt der alte Spruch vom Fisch
und der Angel – man solle lieber das Angeln lernen, als darauf zu warten,
dass einem jeden Tag jemand einen Fisch bringt –, um die Vorzüge der
christlichen Nächstenliebe herauszustreichen: „Die einzige moralische
Verpflichtung des Staates besteht darin, für diejenigen zu sorgen, die dazu
selbst nicht in der Lage sind, wie körperlich oder geistig schwer
Behinderte, kleine Kinder oder sehr Alte.“ Wenn der Staat aber Menschen
helfe, „die für ihr Handeln selbst verantwortlich“ seien, dann verleitete
er sie dazu, nicht mehr zu arbeiten: „Um die sollen sich Kirchen,
gemeinschaftliche Initiativen und karitative Organisationen kümmern“, sagt
er zum Schluss.
In Downtown Tampa, einem der ärmsten Viertel der Stadt fünf Autobahnmeilen
vom Geschäftsviertel entfernt, praktiziert zwischen einer Tankstelle und
einem Trödelladen die First Church of God alltägliche Nächstenliebe. Pastor
Larry Mobley und Linda Burcham, die in der Gemeindearbeit besonders
engagiert ist, verteilen jeden Mittwoch Lebensmittelpakete. Alles
funktioniert wie bei einer staatlichen Behörde: Von 11 bis 15 Uhr kommen
etwa hundert Menschen – Schwarze, Weiße und Hispanics, Junge und Alte –,
ziehen eine Marke, füllen ein Formular aus (Name, Vorname, Adresse, Anzahl
der Haushaltsmitglieder und so weiter) und warten dann in einem modernen,
klimatisierten Raum, manchmal mehrere Stunden. Wenn die Pakete nicht für
alle reichen, müssen die zuletzt Gekommenen mit leeren Händen gehen.
Die anderen können Fruchtsaft im Tetrapak, Kuchen, Tomaten, eingeschweißte
Wurst und Weißbrot mit nach Hause nehmen – das Ergebnis des wöchentlichen
Einkaufs von zehn Freiwilligen, die mit den Spenden der Gemeindemitglieder
in den Läden der Umgebung abgelaufene Lebensmittel zu extrem niedrigen
Preisen besorgen.
Liana Kelley kommt regelmäßig hierher. Die 63-Jährige, die aus Kuba stammt,
hat sich ihr Leben lang um ihre Kinder gekümmert und sich vor drei Jahren
von ihrem irischstämmigen Mann scheiden lassen. Danach hatte sie kein Geld
mehr und ist nach Downtown Tampa gezogen. „Die 377 Dollar Sozialhilfe im
Monat haben kaum für meine Miete, den Strom und das Kabelfernsehen
gereicht“, erzählt sie. „Da bin ich zum Pfandleiher in unserem Viertel
gegangen und habe meinen Schmuck und meine Wertsachen verpfändet.
Irgendwann haben sie mir dann einen Job angeboten.“
Seit 18 Monaten steht Liana Kelley, mit einem Tuch über den Schultern zum
Schutz gegen die Sonne, in der brütenden Hitze Floridas auf dem Bürgersteig
des Busch Boulevard und hält den Vorbeifahrenden ein Schild hin, auf dem
„Cash for Gold“ steht. Als lebendes Werbeplakat verdient sie 7 Dollar pro
Stunde. „Sie rufen mich an, wenn sie mich brauchen, und dann komme ich.
Leider fällt das manchmal genau in die Zeit der Lebensmittelverteilung.
Dann arbeite ich drei Stunden und verdiene 21 Dollar, verliere aber das
Paket, und das ist doppelt so viel wert!“
Am 6. November wird Kelley für Barack Obama stimmen. Vielleicht hat sie das
Urteil des republikanischen Kandidaten Romney über sich und Millionen
anderer Menschen in einer ähnlichen Lage gehört: 47 Prozent der Amerikaner
seien „zu abhängig“ vom Staat, um eine andere Partei als die Demokraten zu
wählen.
Fußnoten:
(1) Zitiert nach Ari Berman, „How the GOP is resegregating the South“, in:
"The Nation, New York, 31. Januar 2012. US-Bürger müssen bei einem Zensus
ihre ethnische Zugehörigkeit nach Kategorien angeben, die von Mal zu Mal
verschieden sein können. 2010 galten als „Schwarze“ oder „Afroamerikaner…
Menschen, die „ihre Herkunft auf eine oder mehrere Gruppen schwarzer Rasse
aus Afrika zurückführen“; die „Weißen“ – die noch in „Hispanics“…
hispanische Weiße“ aufgeteilt werden – sind demnach Menschen, die „ihre
Herkunft auf die Völker Europas, des Mittleren Ostens oder Nordafrikas
zurückführen“.
(2) Jonathan Martin, „Obama’s problems in the South“, "Politico,
Washington, 2. August 2012.
(3) Amy Scatz und Suzanne Vranica, „Swing-state stations are election
winners“, "The Wall Street Journal, 9. September 2012.
(4) Ausnahmen sind die republikanischen Präsidentschaftskandidaten Hayes
(1876), Harding (1920) und vor allem Hoover (1928).
(5) Dieses Hightech-Industriegebiet wurde 1959 errichtet, um dem „Old
South“ neuen Schwung zu verleihen.
(6) Siehe Dominique Godrèche, „Obamas Volkshochschulen“, in:" Le Monde
diplomatique, September 2010.
(7) Im Rahmen des 1964 vom demokratischen Präsidenten Lyndon B. Johnson
begonnenen „Kriegs gegen die Armut“ wurden mehrere Sozialhilfeprogramme
verabschiedet wie etwa die Gesundheitsversorgung über Medicare und
Medicaid.
Aus dem Französischen von Sabine Jainski
[1][Le Monde diplomatique] vom 12.10.2012
4 Nov 2012
## LINKS
[1] http://www.monde-diplomatique.de
## AUTOREN
Benoît Breville
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