| # taz.de -- Aus „Le Monde diplomatique“: Im tiefen Süden | |
| > Die Rivalen ums Weiße Haus lassen im Wahlkampf einige US-Bundesstaaten | |
| > links liegen. Eine Reise zu den Wählern, auf die es nicht ankommt. | |
| Bild: Für Obama kam Michelle nach Florida. | |
| Jeden Morgen um 6 Uhr setzt sich Russell Stanton ans Steuer seines Pick-ups | |
| und fährt die umliegenden Farmen ab, in der Hoffnung, für den Tag | |
| irgendeine Arbeit zu ergattern: Pfirsiche pflücken, Erdnüsse oder Mais | |
| ernten, was immer man ihm anbietet. Abends verlässt der Vierzigjährige | |
| trotz der feuchten Augusthitze mehrmals sein klimatisiertes Zimmer im Motel | |
| von Darien, Georgia, um draußen auf dem Parkplatz eine Zigarette zu | |
| rauchen. | |
| Seit drei Jahren lebt er hier. „Das Zimmer ist billiger, als eine Wohnung | |
| zu mieten. Hier gibt es Strom und Kabelfernsehen, und jeden Tag macht | |
| jemand sauber“, sagt er und lächelt seiner Schwester Jenna zu, die hier als | |
| Zimmermädchen arbeitet. Sie wohnt mit ihrem Mann und ihren Kindern in zwei | |
| nebeneinander liegenden Zimmern, hat aber nur ein oder zwei Stunden Arbeit | |
| pro Tag: „Das Motel hat nicht viele Gäste, nur ein paar Leute, die immer da | |
| sind. Im Augenblick wohnen hier ein Lkw-Fahrer mit seiner Freundin und eine | |
| indische Familie. In der Gegend halten die Leute höchstens mal kurz an der | |
| Raststätte – übernachten tun sie im Auto am Straßenrand.“ | |
| Auch die Kandidaten fürs Weiße Haus machen sich nicht die Mühe, in Georgia | |
| abzusteigen – sie reisen eher nach North Carolina oder Florida, in einen | |
| der zehn Bundesstaaten, in denen die Wahl entschieden wird. | |
| Darien liegt ein paar Meilen von der Interstate 95 entfernt, die von | |
| Floridas Atlantikküste bis hinauf nach Kanada führt. Es ist ein friedlich | |
| wirkendes Südstaatendorf und wahrlich keine Touristenattraktion: eine | |
| breite Hauptstraße mit vielen, rechtwinklig einmündenden Nebenstraßen, | |
| Tankstellen, Gemischtwarenläden, in denen es weder Obst noch Gemüse gibt, | |
| und vor allem viele, viele Häuser, die zu verkaufen sind. | |
| Von den 1 090 Häusern der Gemeinde stehen 292 leer. Den 2 000 Einwohnern, | |
| die schon die Krise der Textilindustrie schwer getroffen hatte, hat die | |
| Subprime-Krise von 2007 den Rest gegeben. Im County McIntosh liegt die | |
| Arbeitslosigkeit bei über 10 Prozent, das durchschnittliche Jahreseinkommen | |
| ist zwischen 2007 und 2009 von 25 739 auf 21 771 Dollar gesunken, | |
| anschließend erholte es sich ein wenig. | |
| ## | |
| Die Geschwister Stanton sind ins Fort King George Motel gezogen, nachdem | |
| ihr Haus gepfändet wurde. „Ich habe mich mit Gelegenheitsjobs | |
| durchgeschlagen, und meine Mutter konnte nicht mehr arbeiten. Die | |
| Abzahlungsraten waren zu hoch, da mussten wir raus. Ich bin für ein Jahr | |
| nach Texas gegangen, um dort mein Glück zu versuchen, dann bin ich wieder | |
| hergekommen“, berichtet der ältere Bruder. Jenna und ihr Mann hatten | |
| versucht, eine Wohnung zu mieten, aber bald konnten sie die Miete nicht | |
| mehr zahlen und sind ins Motel gezogen. Die junge Frau hat schlechte | |
| Erinnerungen an diese letzte Zeit: „Vier Jahre lang hat Obama nichts für | |
| uns getan. Ich bin arm, ich bin für die Republikaner, weil den Demokraten | |
| arme Weiße wie ich völlig egal sind.“ | |
| Am Ende von Barack Obamas erster Amtszeit ist die Rassentrennung in der | |
| Politik noch genauso deutlich wie zuvor, vor allem in den Südstaaten. „Wir | |
| sind wieder da, wo wir vor vierzig Jahren waren, als nur Schwarze schwarze | |
| Wähler repräsentieren konnten und nur Weiße die weißen Wähler“,(1) meint | |
| der demokratische (schwarze) Senator Eric Mansfield aus North Carolina. | |
| Nachdem in Louisiana, Alabama und Mississippi nach diesem Muster gewählt | |
| wurde – dort sind die Kongressabgeordneten entweder schwarze Demokraten | |
| oder weiße Republikaner –, könnte bei den Wahlen im November nun auch der | |
| letzte weiße Demokrat in Georgia sein Mandat verlieren. | |
| „Das ist für keine Seite gut“, klagt Lindsey Graham, republikanischer | |
| Senator aus South Carolina. „Die Republikaner müssen verstehen, dass wir | |
| mit Kandidaten, die aus Minderheiten stammen, auch Wähler anziehen können. | |
| […] Und die Demokraten müssen begreifen, dass die Demokratische Partei sich | |
| nicht mit 25 Prozent der weißen Wählerstimmen zufriedengeben sollte.“(2) | |
| ## Rückkehr der Rassentrennung | |
| Die Rechte sieht den Grund für die ethnische Polarisierung in der | |
| toleranten Haltung ihrer Gegner bei Fragen wie Abtreibung oder Homoehe. | |
| „Vor ein paar Jahren haben noch viele Weiße für die Demokraten gestimmt. | |
| Aber die Partei ist so weit nach links gerückt, dass sie wieder ins | |
| konservative Lager zurückgekehrt sind“, erklärt der pensionierte Ingenieur | |
| Kevin Bennett, der in Alabama Wahlkampf für die Republikaner macht. | |
| Die Obama-Anhänger erklären die Entwicklung dagegen mit der Neuaufteilung | |
| der Wahlkreise seit 2010 durch die republikanischen Gouverneure. „Jetzt | |
| gibt es in wenigen Wahlkreisen deutliche schwarze Mehrheiten, und in allen | |
| anderen bilden die Schwarzen eine verschwindende Minderheit“, meint Billy | |
| Mitchell, schwarzer demokratischer Abgeordneter im Repräsentantenhaus von | |
| Georgia. So sind etwa die Hälfte der 2,2 Millionen Afroamerikaner in North | |
| Carolina in nur einem Fünftel der Wahlkreise zusammengefasst. In Texas ist | |
| der Anteil der weißen Bevölkerung von 2000 bis 2010 von 52 Prozent auf 45 | |
| Prozent gesunken – aber dank der Neuaufteilung sind in 70 Prozent der | |
| Kongresswahlkreise die Weißen in der Mehrheit. | |
| In Darien, wo nicht sehr viel weniger Schwarze als Weiße leben (44,2 | |
| beziehungsweise 52,9 Prozent), wird ein Kopf-an-Kopf-Rennen erwartet. | |
| Russell Stanton schert sich nicht um die Statistik: „Ich wähle Obama. Ich | |
| habe keine Kinder, deshalb habe ich keinen Anspruch auf die medizinische | |
| Grundversorgung durch Medicaid. Wenn er gewinnt, dann kriege ich vielleicht | |
| eine Krankenversicherung.“ Das klingt etwas überraschend aus dem Mund eines | |
| Mannes, der den ultrarechten Journalisten Rush Limbaugh „verehrt“, wie er | |
| sagt, weil der „die richtigen Fragen stellt“. Seine Schwester muss | |
| jedenfalls grinsen: „Das hast du vor der letzten Wahl auch schon gesagt und | |
| hast immer noch keine Versicherung!“ | |
| Obwohl ihre Entscheidung getroffen ist, werden die Stantons am 6. November | |
| vielleicht doch nicht wählen gehen: Sie haben sich noch nicht auf die | |
| Wählerliste eintragen lassen und wissen weder, wann die Wahl stattfindet | |
| noch wie der republikanische Präsidentschaftskandidat heißt. Das erfahren | |
| sie auch nicht aus der Lokalzeitung Tribune & Georgian. Am Tag nach der | |
| offiziellen Kandidatenkür von Mitt Romney widmete das Blättchen dem | |
| Ereignis keine einzige Zeile, berichtete aber ausführlich von einer | |
| 59-Jährigen, die in Woodbine betrunken auf der Straße festgenommen wurde, | |
| und von einem 30-Jährigen, den die Polizei mit einer offenen Bierflasche in | |
| der Hand auf dem Bürgersteig von St. Mary’s erwischt hatte. | |
| ## | |
| Im Dorf ist die Präsidentschaftswahl kein Thema – wie auch sonst nirgendwo | |
| in Georgia: keine Wahlkampfspots im Fernsehen, keine Hausbesuche von | |
| Wahlkampfhelfern oder Veranstaltungen mit den Kandidaten. In manchen | |
| Dörfern hängen zwar Wahlplakate für die örtlichen Sheriff-Anwärter, aber | |
| Obama und Romney sind im öffentlichen Raum nicht präsent. | |
| Die Rivalen im Kampf um das Weiße Haus lassen nicht nur Georgia, sondern | |
| auch einige andere US-Bundesstaaten links liegen: Seit Juni 2012 sind Mitt | |
| Romney und sein Kandidat für die Vizepräsidentschaft Paul Ryan nicht ein | |
| einziges Mal nach Maryland, Connecticut, Nebraska, Kansas, Maine oder | |
| Vermont gereist. Barack Obama und sein Vize Joseph Biden waren noch nicht | |
| in Arizona, New Mexico, Oklahoma, Mississippi, Alabama, Montana und Idaho. | |
| „Der Präsident kommt nur nach Georgia, um Spenden einzusammeln“, vertraut | |
| uns Mitchell ein wenig kleinlaut an. „Es hat keinen Zweck, hier Wahlkampf | |
| zu machen. Wir verlieren so oder so. Deshalb fragen wir unsere Helfer, ob | |
| sie nicht nach North Carolina oder Florida fahren wollen, um dort von Tür | |
| zu Tür zu gehen und Versammlungen zu organisieren. Sie können ja auch | |
| überall in den USA anrufen.“ | |
| In South Carolina hören wir dasselbe von Melissa Watson, einer schwarzen | |
| Lehrerin, die Mitglied der Demokratischen Partei ist: „Der Präsident hat | |
| eine Milliarde Dollar zur Verfügung. Das ist zwar viel Geld, aber doch eine | |
| begrenzte Summe. Und wir wissen, dass wir kaum eine Chance haben, in South | |
| Carolina zu gewinnen. […] Deshalb hat Obama beschlossen, sich auf die | |
| Staaten zu konzentrieren, wo es einen echten Wettbewerb gibt. Es sind nur | |
| zehn oder elf Staaten, um die sich die Kandidaten wirklich streiten.“ | |
| Zu diesen „Swing States“ gehören Ohio, das schon 21 Besuche des | |
| demokratischen Präsidentschaftstandems (und 22 von Romney und Ryan) | |
| verzeichnen konnte, Iowa (hier steht es 17 zu 13), Florida, North Carolina | |
| und Nevada. Allein in diesen Staaten wurden zwischen dem 10. April und dem | |
| 4. September 2012 praktisch alle 605 996 Wahlkampfspots ausgestrahlt, die | |
| die Kandidaten (oder ihre Unterstützer) bestellt hatten – zur großen Freude | |
| der Fernsehsender: In einem Jahr ist der Preis für einen 30-Sekunden-Spot | |
| in Charlotte, North Carolina, um 44 Prozent, in Las Vegas, Nevada, um 34 | |
| Prozent gestiegen.(3) | |
| ## | |
| Das US-Wahlverfahren (indirekte Wahl in einem einzigen Durchgang) fördert | |
| nicht nur das Zweiparteiensystem, es verleiht den einzelnen Wählerstimmen | |
| auch ein unterschiedliches Gewicht: Ein Votum in einem „Safe State“ (wo | |
| eine der beiden Parteien eine sichere Mehrheit hat) fällt weniger ins | |
| Gewicht als eines in einem „Swing State“ (wo mal die eine, mal die andere | |
| Partei gewinnt). Der Süden der USA gehörte – als Hochburg der Demokraten – | |
| fast ein Jahrhundert lang zur ersten Kategorie,(4) bis er Anfang der 1970er | |
| Jahre an die Republikaner fiel: Vor Obama ist es nur den aus dem Süden | |
| stammenden Demokraten Jimmy Carter und Bill Clinton gelungen, sich in | |
| Staaten der einstigen Konföderierten durchzusetzen. | |
| Seit 2008 haben die Demokraten ihre Wahlkampfaktivitäten in South Carolina | |
| eingestellt, in North Carolina dagegen setzen sie sie fort – obwohl die | |
| beiden Staaten bislang ähnlich gewählt hatten. Bei einer Reise durch die | |
| Gegend kann man die Gründe dafür schnell erkennen. Während man in North | |
| Carolina durch ausgedehnte Vorortsiedlungen fährt, die vor zehn oder | |
| zwanzig Jahren entstanden sind, ist South Carolina immer noch sehr ländlich | |
| geprägt. Hier leben die Menschen immer noch von der traditionellen Textil-, | |
| Automobil- und Chemieindustrie und der Landwirtschaft (Tabak und Geflügel). | |
| Dagegen vermögen im Vorort Old Stone Crossing im Osten von Charlotte, weder | |
| die gewundenen Straßen noch die „alten Steine“ der Häuser über den | |
| Neubaucharakter der Siedlung hinwegzutäuschen. Sie wurde auf brachliegenden | |
| Feldern zwischen Autobahnen und Gewerbegebieten hochgezogen und ist mit der | |
| Innenstadt über ein Wirrwarr von Highways, kleinen Alleen und | |
| menschenleeren Straßen verbunden. Nachts ist hier kaum ein Licht zu sehen – | |
| es gibt kein Geschäft, keine öffentlichen Plätze. Dutzende solcher mehr | |
| oder weniger stattlichen „Stadtviertel“ – Hampshire Hills, Highland Creed, | |
| Beverly Crest, McAlpine Woods – wurden auf ähnliche Weise aus der Erde | |
| gestampft. „North Carolina, das ist ein mit Wohnsiedlungen bebautes | |
| Maisfeld“, sagt uns ein Einheimischer. | |
| Beim demokratischen Parteitag Anfang September in Charlotte fand | |
| Exgouverneur Jim Hunt allerdings schönere Worte für die Entwicklung in | |
| seinem Bundesstaat: „Sie haben die Wolkenkratzer gesehen und alles, was | |
| Charlotte zu bieten hat“, rief er in die Menge. „Vielleicht haben Sie auch | |
| schon von unserem Research Triangle Park(5) gehört. Vielleicht haben sich | |
| Ihre Kinder an einer unserer Universitäten beworben. Wir sind stolz darauf, | |
| das alles in North Carolina erreicht zu haben. Vor 50 Jahren war das hier | |
| noch ein armer, ländlicher Staat mit Rassentrennung. Aber Anfang der 1960er | |
| Jahre hatten wir einen Gouverneur namens Terry Sanford. Er hat mit | |
| Unternehmern, Politikern und Lehrern zusammengearbeitet, um unsere | |
| großartigen Fakultäten, unsere 58 Community Colleges(6) und unsere | |
| öffentlichen Schulen aufzubauen. Das Ergebnis sind die hoch qualifizierten | |
| Leute und die blühende Wirtschaft, die Sie heute hier bewundern können.“ | |
| ## Zehn Kirchen für 3 000 Leute | |
| In North Carolina befinden sich in der Tat 3 der 30 besten US-Universitäten | |
| sowie 14 der 500 größten Unternehmen des Landes. Seit dem Boom der 1990er | |
| Jahre hat sich auch die Bevölkerung verdoppelt. Aufgrund dieser | |
| demografischen Entwicklung sah Obama 2008 eine Chance, den Republikanern | |
| den Bundesstaat streitig zu machen: Mit einer Armee freiwilliger | |
| Wahlkampfhelfer mobilisierte er die neu Zugezogenen, darunter viele | |
| Studenten, junge Leute, hochqualifizierte Fachkräfte und Angehörige von | |
| Minderheiten, die zumeist für ihn stimmten. So konnte er seinen Rivalen | |
| McCain, der unter den weniger gut ausgebildeten Weißen und in ländlichen | |
| Gebieten viele Unterstützer hatte, mit hauchdünnem Vorsprung schlagen. | |
| Die Gegensätze trafen hart aufeinander: In Mecklenburg County, zu dem die | |
| wirtschaftlich dynamische Stadt Charlotte gehört und wo knapp 51 Prozent | |
| Weiße (ohne Hispanics) leben, wurde Obama mit 62 Prozent der Stimmen | |
| gewählt. Im Nachbarcounty Gaston (75 Prozent weiße Bevölkerung und ein 20 | |
| Prozent niedrigeres durchschnittliches Haushaltseinkommen) konnte John | |
| McCain die Abstimmung mit ähnlichen Werten für sich entscheiden. | |
| Der Bundesstaat Georgia ähnelt in seiner sozialen und wirtschaftlichen | |
| Struktur eher Gaston als Mecklenburg County. Dasselbe gilt für Alabama, | |
| South Carolina, Mississippi und Arkansas: Hier haben die Demokraten kaum | |
| eine Chance. „Abgesehen von der Hauptstadt Atlanta ist dies ein armer, | |
| ländlicher, religiöser Staat“, rechtfertigt Demokrat Mitchell aus Georgia | |
| die wiederholten Wahlniederlagen seiner Partei. „Die Leute hier sind sehr | |
| konservativ: Wir sind hier mitten im Bible Belt.“ | |
| Die Gegend hat ihren Namen nicht umsonst. Allein Georgia mit seinen 10 | |
| Millionen Einwohnern zählt mehr als 12.000 Kirchengemeinden, mit etwa 3,3 | |
| Millionen aktiven Mitgliedern. Methodisten, Baptisten, Presbyterianer, | |
| Pfingstler, Episkopale – in den Dörfern gibt es kaum ein für die | |
| Allgemeinheit nutzbares Gebäude, aber jede Menge Kirchen. | |
| Allein in Darien mit seinen 2000 Bewohnern gibt es zehn Kirchen. Die | |
| meisten kämpfen gegen „die Sünde“ – Abtreibung, Empfängnisverhütung, | |
| Homosexualität und Glücksspiel – und spielen zugleich eine wichtige Rolle | |
| im öffentlichen Leben: Sie verteilen Lebensmittel an Bedürftige, kümmern | |
| sich um Alte und organisieren Nachhilfeunterricht für Schulkinder. Und dank | |
| der Spendenbereitschaft und der Hilfe vieler Ehrenamtlicher tun sie das zu | |
| äußerst niedrigen Preisen. | |
| ## | |
| In den Südstaaten geht religiöser Eifer manchmal mit einer Abneigung gegen | |
| den Staat einher. So herrscht allgemein die Vorstellung, kirchliche | |
| Wohlfahrtseinrichtungen seien besser als staatliche Stellen geeignet, | |
| soziale Probleme zu lösen. „Der private Sektor ist viel effizienter: Da | |
| probieren ganz viele Menschen die unterschiedlichsten Lösungen aus, und die | |
| beste setzt sich durch. Der Staat kann per definitionem so nicht handeln: | |
| Er konzipiert eine Lösung, die er dann allen vorschreibt. In den USA hat es | |
| nie so viele Arme gegeben wie nach dem Beginn von Präsident Johnsons ’Krieg | |
| gegen die Armut‘.(7) Ich als Konservativer meine, die Kirche sollte bei der | |
| Sozialhilfe die wichtigste Rolle spielen. Sie ist am nächsten an den | |
| Bedürftigen dran, weiß, was ihnen fehlt, und kann eine Interaktion zwischen | |
| Helfer und Empfänger schaffen: Sie nimmt den Einzelnen in die Pflicht“, | |
| erklärte Matt Arnolds, ein Delegierter aus North Carolina beim Parteitag | |
| der Republikaner in Tampa, Florida. | |
| Ein paar Meter entfernt steht Ed Rynders, Abgeordneter im | |
| Repräsentantenhaus von Georgia, in dunkelblauem Anzug mit roter Krawatte | |
| und eingefrorenem Lächeln. Auch er ist fest überzeugt, dass die Armen in | |
| die Verantwortung genommen werden müssen. Wenn er so etwas hört wie | |
| „Sozialhilfe in Anspruch nehmen“, geht er in die Luft. „Sozialhilfe schaf… | |
| Abhängigkeit!“, sagt er mit Nachdruck. Dann folgt der alte Spruch vom Fisch | |
| und der Angel – man solle lieber das Angeln lernen, als darauf zu warten, | |
| dass einem jeden Tag jemand einen Fisch bringt –, um die Vorzüge der | |
| christlichen Nächstenliebe herauszustreichen: „Die einzige moralische | |
| Verpflichtung des Staates besteht darin, für diejenigen zu sorgen, die dazu | |
| selbst nicht in der Lage sind, wie körperlich oder geistig schwer | |
| Behinderte, kleine Kinder oder sehr Alte.“ Wenn der Staat aber Menschen | |
| helfe, „die für ihr Handeln selbst verantwortlich“ seien, dann verleitete | |
| er sie dazu, nicht mehr zu arbeiten: „Um die sollen sich Kirchen, | |
| gemeinschaftliche Initiativen und karitative Organisationen kümmern“, sagt | |
| er zum Schluss. | |
| In Downtown Tampa, einem der ärmsten Viertel der Stadt fünf Autobahnmeilen | |
| vom Geschäftsviertel entfernt, praktiziert zwischen einer Tankstelle und | |
| einem Trödelladen die First Church of God alltägliche Nächstenliebe. Pastor | |
| Larry Mobley und Linda Burcham, die in der Gemeindearbeit besonders | |
| engagiert ist, verteilen jeden Mittwoch Lebensmittelpakete. Alles | |
| funktioniert wie bei einer staatlichen Behörde: Von 11 bis 15 Uhr kommen | |
| etwa hundert Menschen – Schwarze, Weiße und Hispanics, Junge und Alte –, | |
| ziehen eine Marke, füllen ein Formular aus (Name, Vorname, Adresse, Anzahl | |
| der Haushaltsmitglieder und so weiter) und warten dann in einem modernen, | |
| klimatisierten Raum, manchmal mehrere Stunden. Wenn die Pakete nicht für | |
| alle reichen, müssen die zuletzt Gekommenen mit leeren Händen gehen. | |
| Die anderen können Fruchtsaft im Tetrapak, Kuchen, Tomaten, eingeschweißte | |
| Wurst und Weißbrot mit nach Hause nehmen – das Ergebnis des wöchentlichen | |
| Einkaufs von zehn Freiwilligen, die mit den Spenden der Gemeindemitglieder | |
| in den Läden der Umgebung abgelaufene Lebensmittel zu extrem niedrigen | |
| Preisen besorgen. | |
| Liana Kelley kommt regelmäßig hierher. Die 63-Jährige, die aus Kuba stammt, | |
| hat sich ihr Leben lang um ihre Kinder gekümmert und sich vor drei Jahren | |
| von ihrem irischstämmigen Mann scheiden lassen. Danach hatte sie kein Geld | |
| mehr und ist nach Downtown Tampa gezogen. „Die 377 Dollar Sozialhilfe im | |
| Monat haben kaum für meine Miete, den Strom und das Kabelfernsehen | |
| gereicht“, erzählt sie. „Da bin ich zum Pfandleiher in unserem Viertel | |
| gegangen und habe meinen Schmuck und meine Wertsachen verpfändet. | |
| Irgendwann haben sie mir dann einen Job angeboten.“ | |
| Seit 18 Monaten steht Liana Kelley, mit einem Tuch über den Schultern zum | |
| Schutz gegen die Sonne, in der brütenden Hitze Floridas auf dem Bürgersteig | |
| des Busch Boulevard und hält den Vorbeifahrenden ein Schild hin, auf dem | |
| „Cash for Gold“ steht. Als lebendes Werbeplakat verdient sie 7 Dollar pro | |
| Stunde. „Sie rufen mich an, wenn sie mich brauchen, und dann komme ich. | |
| Leider fällt das manchmal genau in die Zeit der Lebensmittelverteilung. | |
| Dann arbeite ich drei Stunden und verdiene 21 Dollar, verliere aber das | |
| Paket, und das ist doppelt so viel wert!“ | |
| Am 6. November wird Kelley für Barack Obama stimmen. Vielleicht hat sie das | |
| Urteil des republikanischen Kandidaten Romney über sich und Millionen | |
| anderer Menschen in einer ähnlichen Lage gehört: 47 Prozent der Amerikaner | |
| seien „zu abhängig“ vom Staat, um eine andere Partei als die Demokraten zu | |
| wählen. | |
| Fußnoten: | |
| (1) Zitiert nach Ari Berman, „How the GOP is resegregating the South“, in: | |
| "The Nation, New York, 31. Januar 2012. US-Bürger müssen bei einem Zensus | |
| ihre ethnische Zugehörigkeit nach Kategorien angeben, die von Mal zu Mal | |
| verschieden sein können. 2010 galten als „Schwarze“ oder „Afroamerikaner… | |
| Menschen, die „ihre Herkunft auf eine oder mehrere Gruppen schwarzer Rasse | |
| aus Afrika zurückführen“; die „Weißen“ – die noch in „Hispanics“… | |
| hispanische Weiße“ aufgeteilt werden – sind demnach Menschen, die „ihre | |
| Herkunft auf die Völker Europas, des Mittleren Ostens oder Nordafrikas | |
| zurückführen“. | |
| (2) Jonathan Martin, „Obama’s problems in the South“, "Politico, | |
| Washington, 2. August 2012. | |
| (3) Amy Scatz und Suzanne Vranica, „Swing-state stations are election | |
| winners“, "The Wall Street Journal, 9. September 2012. | |
| (4) Ausnahmen sind die republikanischen Präsidentschaftskandidaten Hayes | |
| (1876), Harding (1920) und vor allem Hoover (1928). | |
| (5) Dieses Hightech-Industriegebiet wurde 1959 errichtet, um dem „Old | |
| South“ neuen Schwung zu verleihen. | |
| (6) Siehe Dominique Godrèche, „Obamas Volkshochschulen“, in:" Le Monde | |
| diplomatique, September 2010. | |
| (7) Im Rahmen des 1964 vom demokratischen Präsidenten Lyndon B. Johnson | |
| begonnenen „Kriegs gegen die Armut“ wurden mehrere Sozialhilfeprogramme | |
| verabschiedet wie etwa die Gesundheitsversorgung über Medicare und | |
| Medicaid. | |
| Aus dem Französischen von Sabine Jainski | |
| [1][Le Monde diplomatique] vom 12.10.2012 | |
| 4 Nov 2012 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.monde-diplomatique.de | |
| ## AUTOREN | |
| Benoît Breville | |
| ## TAGS | |
| Barack Obama | |
| Romney | |
| Wahl | |
| Walfang | |
| Wale | |
| Mitt Romney | |
| Wahlkampf | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Sea-Shepheard-Gründer in USA: Paul Watson wieder an Land | |
| Schwupps: 15 Monate, nachdem er in Frankfurt/Main verschwunden war, taucht | |
| der Walschützer plötzlich in Los Angeles wieder auf. | |
| Wal-Schützer Watson über Gott und Würmer: „Meine Mission ist einfach“ | |
| Paul Watsons Leben ist eine Suche. Er fahndet mit einer Flotte auf hoher | |
| See nach Walfängern. Wenn er sie findet, macht er ihnen das Leben zur | |
| Hölle. | |
| US-Wahl und Arabellion: Die alten Zeiten sind vorbei | |
| Der nächste Mann im Weißen Haus wird die Entwicklung in der arabischen Welt | |
| begleiten können. Die Zeit der Gestaltung ist jedoch zu Ende. | |
| Wahlkampfspenden in den USA: Das Milliardenspiel | |
| Die beiden Präsidentschaftskandidaten durften so viel Geld einsammeln wie | |
| noch nie. Die obersten Richter erlaubten Spenden in unbegrenzter Höhe. |