# taz.de -- Aus „Le Monde diplomatique“: Im tiefen Süden | |
> Die Rivalen ums Weiße Haus lassen im Wahlkampf einige US-Bundesstaaten | |
> links liegen. Eine Reise zu den Wählern, auf die es nicht ankommt. | |
Bild: Für Obama kam Michelle nach Florida. | |
Jeden Morgen um 6 Uhr setzt sich Russell Stanton ans Steuer seines Pick-ups | |
und fährt die umliegenden Farmen ab, in der Hoffnung, für den Tag | |
irgendeine Arbeit zu ergattern: Pfirsiche pflücken, Erdnüsse oder Mais | |
ernten, was immer man ihm anbietet. Abends verlässt der Vierzigjährige | |
trotz der feuchten Augusthitze mehrmals sein klimatisiertes Zimmer im Motel | |
von Darien, Georgia, um draußen auf dem Parkplatz eine Zigarette zu | |
rauchen. | |
Seit drei Jahren lebt er hier. „Das Zimmer ist billiger, als eine Wohnung | |
zu mieten. Hier gibt es Strom und Kabelfernsehen, und jeden Tag macht | |
jemand sauber“, sagt er und lächelt seiner Schwester Jenna zu, die hier als | |
Zimmermädchen arbeitet. Sie wohnt mit ihrem Mann und ihren Kindern in zwei | |
nebeneinander liegenden Zimmern, hat aber nur ein oder zwei Stunden Arbeit | |
pro Tag: „Das Motel hat nicht viele Gäste, nur ein paar Leute, die immer da | |
sind. Im Augenblick wohnen hier ein Lkw-Fahrer mit seiner Freundin und eine | |
indische Familie. In der Gegend halten die Leute höchstens mal kurz an der | |
Raststätte – übernachten tun sie im Auto am Straßenrand.“ | |
Auch die Kandidaten fürs Weiße Haus machen sich nicht die Mühe, in Georgia | |
abzusteigen – sie reisen eher nach North Carolina oder Florida, in einen | |
der zehn Bundesstaaten, in denen die Wahl entschieden wird. | |
Darien liegt ein paar Meilen von der Interstate 95 entfernt, die von | |
Floridas Atlantikküste bis hinauf nach Kanada führt. Es ist ein friedlich | |
wirkendes Südstaatendorf und wahrlich keine Touristenattraktion: eine | |
breite Hauptstraße mit vielen, rechtwinklig einmündenden Nebenstraßen, | |
Tankstellen, Gemischtwarenläden, in denen es weder Obst noch Gemüse gibt, | |
und vor allem viele, viele Häuser, die zu verkaufen sind. | |
Von den 1 090 Häusern der Gemeinde stehen 292 leer. Den 2 000 Einwohnern, | |
die schon die Krise der Textilindustrie schwer getroffen hatte, hat die | |
Subprime-Krise von 2007 den Rest gegeben. Im County McIntosh liegt die | |
Arbeitslosigkeit bei über 10 Prozent, das durchschnittliche Jahreseinkommen | |
ist zwischen 2007 und 2009 von 25 739 auf 21 771 Dollar gesunken, | |
anschließend erholte es sich ein wenig. | |
## | |
Die Geschwister Stanton sind ins Fort King George Motel gezogen, nachdem | |
ihr Haus gepfändet wurde. „Ich habe mich mit Gelegenheitsjobs | |
durchgeschlagen, und meine Mutter konnte nicht mehr arbeiten. Die | |
Abzahlungsraten waren zu hoch, da mussten wir raus. Ich bin für ein Jahr | |
nach Texas gegangen, um dort mein Glück zu versuchen, dann bin ich wieder | |
hergekommen“, berichtet der ältere Bruder. Jenna und ihr Mann hatten | |
versucht, eine Wohnung zu mieten, aber bald konnten sie die Miete nicht | |
mehr zahlen und sind ins Motel gezogen. Die junge Frau hat schlechte | |
Erinnerungen an diese letzte Zeit: „Vier Jahre lang hat Obama nichts für | |
uns getan. Ich bin arm, ich bin für die Republikaner, weil den Demokraten | |
arme Weiße wie ich völlig egal sind.“ | |
Am Ende von Barack Obamas erster Amtszeit ist die Rassentrennung in der | |
Politik noch genauso deutlich wie zuvor, vor allem in den Südstaaten. „Wir | |
sind wieder da, wo wir vor vierzig Jahren waren, als nur Schwarze schwarze | |
Wähler repräsentieren konnten und nur Weiße die weißen Wähler“,(1) meint | |
der demokratische (schwarze) Senator Eric Mansfield aus North Carolina. | |
Nachdem in Louisiana, Alabama und Mississippi nach diesem Muster gewählt | |
wurde – dort sind die Kongressabgeordneten entweder schwarze Demokraten | |
oder weiße Republikaner –, könnte bei den Wahlen im November nun auch der | |
letzte weiße Demokrat in Georgia sein Mandat verlieren. | |
„Das ist für keine Seite gut“, klagt Lindsey Graham, republikanischer | |
Senator aus South Carolina. „Die Republikaner müssen verstehen, dass wir | |
mit Kandidaten, die aus Minderheiten stammen, auch Wähler anziehen können. | |
[…] Und die Demokraten müssen begreifen, dass die Demokratische Partei sich | |
nicht mit 25 Prozent der weißen Wählerstimmen zufriedengeben sollte.“(2) | |
## Rückkehr der Rassentrennung | |
Die Rechte sieht den Grund für die ethnische Polarisierung in der | |
toleranten Haltung ihrer Gegner bei Fragen wie Abtreibung oder Homoehe. | |
„Vor ein paar Jahren haben noch viele Weiße für die Demokraten gestimmt. | |
Aber die Partei ist so weit nach links gerückt, dass sie wieder ins | |
konservative Lager zurückgekehrt sind“, erklärt der pensionierte Ingenieur | |
Kevin Bennett, der in Alabama Wahlkampf für die Republikaner macht. | |
Die Obama-Anhänger erklären die Entwicklung dagegen mit der Neuaufteilung | |
der Wahlkreise seit 2010 durch die republikanischen Gouverneure. „Jetzt | |
gibt es in wenigen Wahlkreisen deutliche schwarze Mehrheiten, und in allen | |
anderen bilden die Schwarzen eine verschwindende Minderheit“, meint Billy | |
Mitchell, schwarzer demokratischer Abgeordneter im Repräsentantenhaus von | |
Georgia. So sind etwa die Hälfte der 2,2 Millionen Afroamerikaner in North | |
Carolina in nur einem Fünftel der Wahlkreise zusammengefasst. In Texas ist | |
der Anteil der weißen Bevölkerung von 2000 bis 2010 von 52 Prozent auf 45 | |
Prozent gesunken – aber dank der Neuaufteilung sind in 70 Prozent der | |
Kongresswahlkreise die Weißen in der Mehrheit. | |
In Darien, wo nicht sehr viel weniger Schwarze als Weiße leben (44,2 | |
beziehungsweise 52,9 Prozent), wird ein Kopf-an-Kopf-Rennen erwartet. | |
Russell Stanton schert sich nicht um die Statistik: „Ich wähle Obama. Ich | |
habe keine Kinder, deshalb habe ich keinen Anspruch auf die medizinische | |
Grundversorgung durch Medicaid. Wenn er gewinnt, dann kriege ich vielleicht | |
eine Krankenversicherung.“ Das klingt etwas überraschend aus dem Mund eines | |
Mannes, der den ultrarechten Journalisten Rush Limbaugh „verehrt“, wie er | |
sagt, weil der „die richtigen Fragen stellt“. Seine Schwester muss | |
jedenfalls grinsen: „Das hast du vor der letzten Wahl auch schon gesagt und | |
hast immer noch keine Versicherung!“ | |
Obwohl ihre Entscheidung getroffen ist, werden die Stantons am 6. November | |
vielleicht doch nicht wählen gehen: Sie haben sich noch nicht auf die | |
Wählerliste eintragen lassen und wissen weder, wann die Wahl stattfindet | |
noch wie der republikanische Präsidentschaftskandidat heißt. Das erfahren | |
sie auch nicht aus der Lokalzeitung Tribune & Georgian. Am Tag nach der | |
offiziellen Kandidatenkür von Mitt Romney widmete das Blättchen dem | |
Ereignis keine einzige Zeile, berichtete aber ausführlich von einer | |
59-Jährigen, die in Woodbine betrunken auf der Straße festgenommen wurde, | |
und von einem 30-Jährigen, den die Polizei mit einer offenen Bierflasche in | |
der Hand auf dem Bürgersteig von St. Mary’s erwischt hatte. | |
## | |
Im Dorf ist die Präsidentschaftswahl kein Thema – wie auch sonst nirgendwo | |
in Georgia: keine Wahlkampfspots im Fernsehen, keine Hausbesuche von | |
Wahlkampfhelfern oder Veranstaltungen mit den Kandidaten. In manchen | |
Dörfern hängen zwar Wahlplakate für die örtlichen Sheriff-Anwärter, aber | |
Obama und Romney sind im öffentlichen Raum nicht präsent. | |
Die Rivalen im Kampf um das Weiße Haus lassen nicht nur Georgia, sondern | |
auch einige andere US-Bundesstaaten links liegen: Seit Juni 2012 sind Mitt | |
Romney und sein Kandidat für die Vizepräsidentschaft Paul Ryan nicht ein | |
einziges Mal nach Maryland, Connecticut, Nebraska, Kansas, Maine oder | |
Vermont gereist. Barack Obama und sein Vize Joseph Biden waren noch nicht | |
in Arizona, New Mexico, Oklahoma, Mississippi, Alabama, Montana und Idaho. | |
„Der Präsident kommt nur nach Georgia, um Spenden einzusammeln“, vertraut | |
uns Mitchell ein wenig kleinlaut an. „Es hat keinen Zweck, hier Wahlkampf | |
zu machen. Wir verlieren so oder so. Deshalb fragen wir unsere Helfer, ob | |
sie nicht nach North Carolina oder Florida fahren wollen, um dort von Tür | |
zu Tür zu gehen und Versammlungen zu organisieren. Sie können ja auch | |
überall in den USA anrufen.“ | |
In South Carolina hören wir dasselbe von Melissa Watson, einer schwarzen | |
Lehrerin, die Mitglied der Demokratischen Partei ist: „Der Präsident hat | |
eine Milliarde Dollar zur Verfügung. Das ist zwar viel Geld, aber doch eine | |
begrenzte Summe. Und wir wissen, dass wir kaum eine Chance haben, in South | |
Carolina zu gewinnen. […] Deshalb hat Obama beschlossen, sich auf die | |
Staaten zu konzentrieren, wo es einen echten Wettbewerb gibt. Es sind nur | |
zehn oder elf Staaten, um die sich die Kandidaten wirklich streiten.“ | |
Zu diesen „Swing States“ gehören Ohio, das schon 21 Besuche des | |
demokratischen Präsidentschaftstandems (und 22 von Romney und Ryan) | |
verzeichnen konnte, Iowa (hier steht es 17 zu 13), Florida, North Carolina | |
und Nevada. Allein in diesen Staaten wurden zwischen dem 10. April und dem | |
4. September 2012 praktisch alle 605 996 Wahlkampfspots ausgestrahlt, die | |
die Kandidaten (oder ihre Unterstützer) bestellt hatten – zur großen Freude | |
der Fernsehsender: In einem Jahr ist der Preis für einen 30-Sekunden-Spot | |
in Charlotte, North Carolina, um 44 Prozent, in Las Vegas, Nevada, um 34 | |
Prozent gestiegen.(3) | |
## | |
Das US-Wahlverfahren (indirekte Wahl in einem einzigen Durchgang) fördert | |
nicht nur das Zweiparteiensystem, es verleiht den einzelnen Wählerstimmen | |
auch ein unterschiedliches Gewicht: Ein Votum in einem „Safe State“ (wo | |
eine der beiden Parteien eine sichere Mehrheit hat) fällt weniger ins | |
Gewicht als eines in einem „Swing State“ (wo mal die eine, mal die andere | |
Partei gewinnt). Der Süden der USA gehörte – als Hochburg der Demokraten – | |
fast ein Jahrhundert lang zur ersten Kategorie,(4) bis er Anfang der 1970er | |
Jahre an die Republikaner fiel: Vor Obama ist es nur den aus dem Süden | |
stammenden Demokraten Jimmy Carter und Bill Clinton gelungen, sich in | |
Staaten der einstigen Konföderierten durchzusetzen. | |
Seit 2008 haben die Demokraten ihre Wahlkampfaktivitäten in South Carolina | |
eingestellt, in North Carolina dagegen setzen sie sie fort – obwohl die | |
beiden Staaten bislang ähnlich gewählt hatten. Bei einer Reise durch die | |
Gegend kann man die Gründe dafür schnell erkennen. Während man in North | |
Carolina durch ausgedehnte Vorortsiedlungen fährt, die vor zehn oder | |
zwanzig Jahren entstanden sind, ist South Carolina immer noch sehr ländlich | |
geprägt. Hier leben die Menschen immer noch von der traditionellen Textil-, | |
Automobil- und Chemieindustrie und der Landwirtschaft (Tabak und Geflügel). | |
Dagegen vermögen im Vorort Old Stone Crossing im Osten von Charlotte, weder | |
die gewundenen Straßen noch die „alten Steine“ der Häuser über den | |
Neubaucharakter der Siedlung hinwegzutäuschen. Sie wurde auf brachliegenden | |
Feldern zwischen Autobahnen und Gewerbegebieten hochgezogen und ist mit der | |
Innenstadt über ein Wirrwarr von Highways, kleinen Alleen und | |
menschenleeren Straßen verbunden. Nachts ist hier kaum ein Licht zu sehen – | |
es gibt kein Geschäft, keine öffentlichen Plätze. Dutzende solcher mehr | |
oder weniger stattlichen „Stadtviertel“ – Hampshire Hills, Highland Creed, | |
Beverly Crest, McAlpine Woods – wurden auf ähnliche Weise aus der Erde | |
gestampft. „North Carolina, das ist ein mit Wohnsiedlungen bebautes | |
Maisfeld“, sagt uns ein Einheimischer. | |
Beim demokratischen Parteitag Anfang September in Charlotte fand | |
Exgouverneur Jim Hunt allerdings schönere Worte für die Entwicklung in | |
seinem Bundesstaat: „Sie haben die Wolkenkratzer gesehen und alles, was | |
Charlotte zu bieten hat“, rief er in die Menge. „Vielleicht haben Sie auch | |
schon von unserem Research Triangle Park(5) gehört. Vielleicht haben sich | |
Ihre Kinder an einer unserer Universitäten beworben. Wir sind stolz darauf, | |
das alles in North Carolina erreicht zu haben. Vor 50 Jahren war das hier | |
noch ein armer, ländlicher Staat mit Rassentrennung. Aber Anfang der 1960er | |
Jahre hatten wir einen Gouverneur namens Terry Sanford. Er hat mit | |
Unternehmern, Politikern und Lehrern zusammengearbeitet, um unsere | |
großartigen Fakultäten, unsere 58 Community Colleges(6) und unsere | |
öffentlichen Schulen aufzubauen. Das Ergebnis sind die hoch qualifizierten | |
Leute und die blühende Wirtschaft, die Sie heute hier bewundern können.“ | |
## Zehn Kirchen für 3 000 Leute | |
In North Carolina befinden sich in der Tat 3 der 30 besten US-Universitäten | |
sowie 14 der 500 größten Unternehmen des Landes. Seit dem Boom der 1990er | |
Jahre hat sich auch die Bevölkerung verdoppelt. Aufgrund dieser | |
demografischen Entwicklung sah Obama 2008 eine Chance, den Republikanern | |
den Bundesstaat streitig zu machen: Mit einer Armee freiwilliger | |
Wahlkampfhelfer mobilisierte er die neu Zugezogenen, darunter viele | |
Studenten, junge Leute, hochqualifizierte Fachkräfte und Angehörige von | |
Minderheiten, die zumeist für ihn stimmten. So konnte er seinen Rivalen | |
McCain, der unter den weniger gut ausgebildeten Weißen und in ländlichen | |
Gebieten viele Unterstützer hatte, mit hauchdünnem Vorsprung schlagen. | |
Die Gegensätze trafen hart aufeinander: In Mecklenburg County, zu dem die | |
wirtschaftlich dynamische Stadt Charlotte gehört und wo knapp 51 Prozent | |
Weiße (ohne Hispanics) leben, wurde Obama mit 62 Prozent der Stimmen | |
gewählt. Im Nachbarcounty Gaston (75 Prozent weiße Bevölkerung und ein 20 | |
Prozent niedrigeres durchschnittliches Haushaltseinkommen) konnte John | |
McCain die Abstimmung mit ähnlichen Werten für sich entscheiden. | |
Der Bundesstaat Georgia ähnelt in seiner sozialen und wirtschaftlichen | |
Struktur eher Gaston als Mecklenburg County. Dasselbe gilt für Alabama, | |
South Carolina, Mississippi und Arkansas: Hier haben die Demokraten kaum | |
eine Chance. „Abgesehen von der Hauptstadt Atlanta ist dies ein armer, | |
ländlicher, religiöser Staat“, rechtfertigt Demokrat Mitchell aus Georgia | |
die wiederholten Wahlniederlagen seiner Partei. „Die Leute hier sind sehr | |
konservativ: Wir sind hier mitten im Bible Belt.“ | |
Die Gegend hat ihren Namen nicht umsonst. Allein Georgia mit seinen 10 | |
Millionen Einwohnern zählt mehr als 12.000 Kirchengemeinden, mit etwa 3,3 | |
Millionen aktiven Mitgliedern. Methodisten, Baptisten, Presbyterianer, | |
Pfingstler, Episkopale – in den Dörfern gibt es kaum ein für die | |
Allgemeinheit nutzbares Gebäude, aber jede Menge Kirchen. | |
Allein in Darien mit seinen 2000 Bewohnern gibt es zehn Kirchen. Die | |
meisten kämpfen gegen „die Sünde“ – Abtreibung, Empfängnisverhütung, | |
Homosexualität und Glücksspiel – und spielen zugleich eine wichtige Rolle | |
im öffentlichen Leben: Sie verteilen Lebensmittel an Bedürftige, kümmern | |
sich um Alte und organisieren Nachhilfeunterricht für Schulkinder. Und dank | |
der Spendenbereitschaft und der Hilfe vieler Ehrenamtlicher tun sie das zu | |
äußerst niedrigen Preisen. | |
## | |
In den Südstaaten geht religiöser Eifer manchmal mit einer Abneigung gegen | |
den Staat einher. So herrscht allgemein die Vorstellung, kirchliche | |
Wohlfahrtseinrichtungen seien besser als staatliche Stellen geeignet, | |
soziale Probleme zu lösen. „Der private Sektor ist viel effizienter: Da | |
probieren ganz viele Menschen die unterschiedlichsten Lösungen aus, und die | |
beste setzt sich durch. Der Staat kann per definitionem so nicht handeln: | |
Er konzipiert eine Lösung, die er dann allen vorschreibt. In den USA hat es | |
nie so viele Arme gegeben wie nach dem Beginn von Präsident Johnsons ’Krieg | |
gegen die Armut‘.(7) Ich als Konservativer meine, die Kirche sollte bei der | |
Sozialhilfe die wichtigste Rolle spielen. Sie ist am nächsten an den | |
Bedürftigen dran, weiß, was ihnen fehlt, und kann eine Interaktion zwischen | |
Helfer und Empfänger schaffen: Sie nimmt den Einzelnen in die Pflicht“, | |
erklärte Matt Arnolds, ein Delegierter aus North Carolina beim Parteitag | |
der Republikaner in Tampa, Florida. | |
Ein paar Meter entfernt steht Ed Rynders, Abgeordneter im | |
Repräsentantenhaus von Georgia, in dunkelblauem Anzug mit roter Krawatte | |
und eingefrorenem Lächeln. Auch er ist fest überzeugt, dass die Armen in | |
die Verantwortung genommen werden müssen. Wenn er so etwas hört wie | |
„Sozialhilfe in Anspruch nehmen“, geht er in die Luft. „Sozialhilfe schaf… | |
Abhängigkeit!“, sagt er mit Nachdruck. Dann folgt der alte Spruch vom Fisch | |
und der Angel – man solle lieber das Angeln lernen, als darauf zu warten, | |
dass einem jeden Tag jemand einen Fisch bringt –, um die Vorzüge der | |
christlichen Nächstenliebe herauszustreichen: „Die einzige moralische | |
Verpflichtung des Staates besteht darin, für diejenigen zu sorgen, die dazu | |
selbst nicht in der Lage sind, wie körperlich oder geistig schwer | |
Behinderte, kleine Kinder oder sehr Alte.“ Wenn der Staat aber Menschen | |
helfe, „die für ihr Handeln selbst verantwortlich“ seien, dann verleitete | |
er sie dazu, nicht mehr zu arbeiten: „Um die sollen sich Kirchen, | |
gemeinschaftliche Initiativen und karitative Organisationen kümmern“, sagt | |
er zum Schluss. | |
In Downtown Tampa, einem der ärmsten Viertel der Stadt fünf Autobahnmeilen | |
vom Geschäftsviertel entfernt, praktiziert zwischen einer Tankstelle und | |
einem Trödelladen die First Church of God alltägliche Nächstenliebe. Pastor | |
Larry Mobley und Linda Burcham, die in der Gemeindearbeit besonders | |
engagiert ist, verteilen jeden Mittwoch Lebensmittelpakete. Alles | |
funktioniert wie bei einer staatlichen Behörde: Von 11 bis 15 Uhr kommen | |
etwa hundert Menschen – Schwarze, Weiße und Hispanics, Junge und Alte –, | |
ziehen eine Marke, füllen ein Formular aus (Name, Vorname, Adresse, Anzahl | |
der Haushaltsmitglieder und so weiter) und warten dann in einem modernen, | |
klimatisierten Raum, manchmal mehrere Stunden. Wenn die Pakete nicht für | |
alle reichen, müssen die zuletzt Gekommenen mit leeren Händen gehen. | |
Die anderen können Fruchtsaft im Tetrapak, Kuchen, Tomaten, eingeschweißte | |
Wurst und Weißbrot mit nach Hause nehmen – das Ergebnis des wöchentlichen | |
Einkaufs von zehn Freiwilligen, die mit den Spenden der Gemeindemitglieder | |
in den Läden der Umgebung abgelaufene Lebensmittel zu extrem niedrigen | |
Preisen besorgen. | |
Liana Kelley kommt regelmäßig hierher. Die 63-Jährige, die aus Kuba stammt, | |
hat sich ihr Leben lang um ihre Kinder gekümmert und sich vor drei Jahren | |
von ihrem irischstämmigen Mann scheiden lassen. Danach hatte sie kein Geld | |
mehr und ist nach Downtown Tampa gezogen. „Die 377 Dollar Sozialhilfe im | |
Monat haben kaum für meine Miete, den Strom und das Kabelfernsehen | |
gereicht“, erzählt sie. „Da bin ich zum Pfandleiher in unserem Viertel | |
gegangen und habe meinen Schmuck und meine Wertsachen verpfändet. | |
Irgendwann haben sie mir dann einen Job angeboten.“ | |
Seit 18 Monaten steht Liana Kelley, mit einem Tuch über den Schultern zum | |
Schutz gegen die Sonne, in der brütenden Hitze Floridas auf dem Bürgersteig | |
des Busch Boulevard und hält den Vorbeifahrenden ein Schild hin, auf dem | |
„Cash for Gold“ steht. Als lebendes Werbeplakat verdient sie 7 Dollar pro | |
Stunde. „Sie rufen mich an, wenn sie mich brauchen, und dann komme ich. | |
Leider fällt das manchmal genau in die Zeit der Lebensmittelverteilung. | |
Dann arbeite ich drei Stunden und verdiene 21 Dollar, verliere aber das | |
Paket, und das ist doppelt so viel wert!“ | |
Am 6. November wird Kelley für Barack Obama stimmen. Vielleicht hat sie das | |
Urteil des republikanischen Kandidaten Romney über sich und Millionen | |
anderer Menschen in einer ähnlichen Lage gehört: 47 Prozent der Amerikaner | |
seien „zu abhängig“ vom Staat, um eine andere Partei als die Demokraten zu | |
wählen. | |
Fußnoten: | |
(1) Zitiert nach Ari Berman, „How the GOP is resegregating the South“, in: | |
"The Nation, New York, 31. Januar 2012. US-Bürger müssen bei einem Zensus | |
ihre ethnische Zugehörigkeit nach Kategorien angeben, die von Mal zu Mal | |
verschieden sein können. 2010 galten als „Schwarze“ oder „Afroamerikaner… | |
Menschen, die „ihre Herkunft auf eine oder mehrere Gruppen schwarzer Rasse | |
aus Afrika zurückführen“; die „Weißen“ – die noch in „Hispanics“… | |
hispanische Weiße“ aufgeteilt werden – sind demnach Menschen, die „ihre | |
Herkunft auf die Völker Europas, des Mittleren Ostens oder Nordafrikas | |
zurückführen“. | |
(2) Jonathan Martin, „Obama’s problems in the South“, "Politico, | |
Washington, 2. August 2012. | |
(3) Amy Scatz und Suzanne Vranica, „Swing-state stations are election | |
winners“, "The Wall Street Journal, 9. September 2012. | |
(4) Ausnahmen sind die republikanischen Präsidentschaftskandidaten Hayes | |
(1876), Harding (1920) und vor allem Hoover (1928). | |
(5) Dieses Hightech-Industriegebiet wurde 1959 errichtet, um dem „Old | |
South“ neuen Schwung zu verleihen. | |
(6) Siehe Dominique Godrèche, „Obamas Volkshochschulen“, in:" Le Monde | |
diplomatique, September 2010. | |
(7) Im Rahmen des 1964 vom demokratischen Präsidenten Lyndon B. Johnson | |
begonnenen „Kriegs gegen die Armut“ wurden mehrere Sozialhilfeprogramme | |
verabschiedet wie etwa die Gesundheitsversorgung über Medicare und | |
Medicaid. | |
Aus dem Französischen von Sabine Jainski | |
[1][Le Monde diplomatique] vom 12.10.2012 | |
4 Nov 2012 | |
## LINKS | |
[1] http://www.monde-diplomatique.de | |
## AUTOREN | |
Benoît Breville | |
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