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# taz.de -- Flüchtlinge in Berlin: "Lichtenberg ist weltoffen"
> Flüchtlinge sind im Bezirk willkommen, sagt Bürgermeister Andreas Geisel
> (SPD). Aber auch die CDU-regierten Bezirke müssten Verantwortung
> übernehmen, fordert er.
Bild: Flüchtlinge protestieren gegen ihre Behandlung am Brandenburger Tor.
taz: Herr Geisel, Sie sind seit einem Jahr Bezirksbürgermeister von
Lichtenberg. Wie weit oben stand das Thema Asylbewerber auf Ihrer
politischen Agenda, als Sie das Amt übernommen hatten?
Andreas Geisel: Im Wahlkampf und in den ersten Wochen spielte das gar keine
Rolle. Rein theoretisch war mir immer klar, dass Lichtenberg gegenüber
Asylbewerbern Verantwortung übernehmen muss.
Und wie sieht das heute aus?
Heute ist es eines der drängendsten Probleme, die wir angehen müssen. Neben
der Unterbringung und der Werbung um Akzeptanz bei den Nachbarn sind die
Durchsetzung der Schulpflicht und die gesundheitliche Versorgung offene
Baustellen.
Die Opposition im Abgeordnetenhaus wirft Sozialsenator Mario Czaja (CDU)
vor, sich nicht rechtzeitig um die Unterbringung der Neuankömmlinge
gekümmert zu haben. Im Frühjahr und Sommer habe er nichts getan, und jetzt
würden an den Bezirken vorbei Notunterkünfte mit schlechten Standards
eröffnet. Teilen Sie die Kritik?
Jein. Da ich selbst den steilen Anstieg der Asylbewerberzahlen nicht
vorhergesehen habe, kann ich nicht sagen, Herrn Czaja hätte das sehen
müssen. Aber ich bin überrascht, wie schlecht die Stadt, die in den 90er
Jahren viel mehr Flüchtlinge unproblematisch versorgt hat, mit der
Situation umgeht. Schon im Frühsommer habe ich im Rat der Bürgermeister
eine gleichmäßige Verteilung der Asylbewerber auf die Stadt angemahnt.
Damals hatten wir in Lichtenberg lediglich 400 Flüchtlinge in Wohnheimen,
heute sind es fast 1.200. Meine Kollegen haben sich das freundlich
angehört. Praktische Konsequenzen hatte es nicht.
Tatsächlich beherbergt Lichtenberg berlinweit die meisten Asylbewerber. Mit
welchen Problemen werden Sie da konfrontiert?
Die Befürchtungen vieler Anwohner, dass die Kriminalität im Umfeld der
Heime ansteigen würde, etwa Wohnungseinbrüche und Autodiebstähle, haben
sich als unsinnig herausgestellt. Der Anstieg der Kriminalität ist laut
Polizei gleich null. Uns bewegen ganz andere Probleme: Wie schaffen wir es,
alle Asylbewerberkinder zur Schule zu schicken? Wie kriegen wir die
gesundheitliche Versorgung in Griff? Lichtenberg beherbergt Berlins einzige
Tbc-Stelle. Vom Gesetz her wären wir verpflichtet, alle Heimbewohner
innerhalb von drei Tagen auf Tbc zu untersuchen, damit sich die Krankheit
nicht auf Mitbewohner übertragen kann. Aber gegenwärtig haben wir
Wartezeiten von vier Wochen. Die Gesundheitsstaatssekretärin kennt das
Problem seit neun Monaten und tut nichts. Darum hat unser Bezirksamt
beschlossen, in Vorleistung zu gehen und der Tbc-Stelle aus unserem Ressort
mehr Personal zu gewähren. Zuständig wäre das Land, aber wir nehmen
Verantwortung wahr.
Lichtenberg steht im Ruf, ein Problem mit Fremdenfeindlichkeit zu haben.
Hat es da Vorfälle gegeben?
Überhaupt keine. Dieser Ruf ist auch falsch. Lichtenberg ist weltoffen und
tolerant. Es gibt natürlich dummes Gequatsche, auch in meiner
Bürgersprechstunde. Dem begegnen wir mit Offenheit und Transparenz. Im
Umfeld der Heime haben wir Anwohnerbeiräte installiert. Wir sind im
Gespräch mit Heimbetreibern, mit Anwohnervertretern und
Wohnungsbaugesellschaften, um die Nachbarn zu erreichen. Mit Erfolg.
In den Heimen leben viele Menschen mit unterschiedlichen Nationalitäten
unter einem Dach zusammen. Gibt es interne Probleme?
Klar staut sich manchmal Frust an. Gerade weil Asylbewerber nicht arbeiten
dürfen und darum den ganzen Tag zu Hause rumsitzen. Auch weil einige Heime
überbelegt sind und den Bewohnern damit eine Privatsphäre fehlt. In einem
Heim in Hohenschönhausen wohnen 398 Menschen. Es war ursprünglich auf 150
Bewohner ausgelegt und wurde auf 350 aufgestockt.
Reinickendorfs Baustadtrat Martin Lambert (CDU) wird in der Berliner
Morgenpost mit der Behauptung zitiert, in einem allgemeinen Wohngebiet sei
eine Gemeinschaftsunterkunft baurechtlich unzulässig, weil die Nachbarn
sich durch Lärm und Müll belästigt fühlten. Daraus würde folgen, dass
Asylbewerberheime nur auf Industriebrachen oder in den Wald gehören. Ist
das eine Vision für Berlin?
Diese Interpretation des Baugesetzbuchs hat Herr Lambert exklusiv. Wohnen
ist selbstverständlich in allgemeinen Wohngebieten zulässig. Wir in
Lichtenberg haben überhaupt keine Probleme mit Lärm und Dreck neben
Asylheimen. Da muss Reinickendorf diese Probleme angehen, statt
populistische Sprüche zu klopfen. Flüchtlingen gegenüber, die aus
Krisengebieten kommen und oft nur ihr nacktes Leben retten konnten, haben
wir die Verpflichtung, sie menschenwürdig unterzubringen. In Wohngebieten
und nicht auf Industriebrachen.
Wo wünschen Sie sich mehr Unterstützung vom Senat?
Er muss auf die beiden CDU-Bezirke Reinickendorf und Steglitz-Zehlendorf
einwirken, Asylsuchende aufzunehmen. Wir brauchen eine gerechte Verteilung
in Berlin. Es kann nicht sein, dass vielerorts Asylbewerber nicht zur
Schule gehen, weil die Schulen in Wohnnähe überfüllt sind, während es
andernorts freie Kapazitäten gibt.
Familien aus Afghanistan fliehen nach Berlin, weil ihre Töchter dort nicht
zur Schule gehen dürfen. Wenn sie das Pech haben, in Berlin in einer
Notunterkunft zu landen, dürfen sie hier auch nicht zur Schule gehen. Was
muss Berlin tun, um diese unwürdige Situation zu ändern?
Die Bewohner der Lichtenberger Notaufnahme gehen zur Schule. Wir hatten
keine Kapazität im eigenen Bezirk, haben aber eine Kooperation mit Pankow
getroffen. Der Bezirk beginnt auf der anderen Straßenseite. In einigen
Bezirken fehlt der politische Wille. Aber etwa in Nord-Neukölln sind die
Schulen so stark überlastet, dass die osteuropäischen Roma nur auf
Wartelisten kommen. Auf der anderen Seite diskutiert Mitte über die
Schließung nicht benötigter Schulstandorte. Hier muss der Senat steuernd
eingreifen und etwa Schulbusse einführen. Wir haben Schulpflicht. Wegen
steigender Einwohnerzahlen braucht Berlin auch Schulneubauten, unser Bezirk
allein braucht sieben neue Grundschulen. Aber das ist ein langfristiges
Vorhaben und nützt in der aktuellen Situation nichts.
8 Nov 2012
## AUTOREN
Marina Mai
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