# taz.de -- Neuer Roman von David Albahari: Von der Schönheit der Zwangsjacke | |
> Der Serbe David Albahari ist ein Meister der Verwirrung. In seinem neuen | |
> rätselhaften Roman „Der Bruder“ nimmt er die Leser mit auf einen | |
> grotesken Höllenritt. | |
Bild: Antisemitismus kennt keine Grenzen, er fühlt sich in Serbien genauso an … | |
Dass es so kommen würde, hatte Filip bereits geahnt, als der Briefträger an | |
seiner Tür im Belgrader Vorort Zemun klingelte. Der Brief, den er | |
entgegennimmt, erschüttert seine Existenz. „Auch jetzt noch wisse er nicht, | |
sagte Filip, warum er nicht protestierte, warum er nicht energisch seine | |
Unterschrift verweigerte und erklärte, der Brief sei auf keinen Fall für | |
ihn bestimmt.“ So erinnert sich der Protagonist im neuen Roman des | |
serbisch-kanadischen Schriftstellers David Albahari, „Der Bruder“. Die | |
ganze Geschichte erfährt man indes von einem namenlosen Ich-Erzähler, der | |
Filips eruptiven Monolog wiedergibt. | |
Statt ihn abzulehnen, nimmt Filip den Brief also an, trägt ihn stundenlang | |
wie ein rohes Ei durch die Wohnung. Der Absender: Filips Bruder Robert, von | |
dem er bis dato nichts ahnte. Im Gegenteil. Glaubt man dem Protagonisten, | |
so gründet dessen ganzes Sein auf der traumatischen Erfahrung, nach dem Tod | |
der Schwester geschwisterlos gewesen zu sein. Darüber schrieb er sein Buch | |
„Das Leben des Verlierers“. | |
Sogleich fühlt sich Filip von dem unbekannten Bruder um sein Leben | |
betrogen. „Jetzt sehe es so aus, sagte Filip, als habe er ein falsches | |
Leben gelebt und ein falsches Buch geschrieben, und zwar nicht nur das | |
eine: Fast alles, was er bislang geschrieben habe, gründe auf der Tatsache | |
des frühen Verlustes, auf einer Tatsache, die keine war“, gibt ihn der | |
Erzähler wieder. Langsam und knirschend läuft ein fatales Räderwerk an, das | |
Albaharis Romanen eigen ist. | |
David Albahari wurde 1948 in Peć, heute Kosovo, geboren und wuchs in Zemun | |
bei Belgrad auf. Dort spielt auch „Der Bruder“ – genauso wie viele andere | |
seiner 13 Romane. Der neue Roman ist recht kurz. In atemlosem Konjunktiv | |
galoppiert „Der Bruder“ voran. Ganz hervorragend haben Mirjana und Klaus | |
Wittmann die verschachtelten und mehrfach gebrochenen Sätze ins Deutsche | |
übertragen. | |
Filip ist ein geschiedener Mann mittleren Alters, trockener Alkoholiker, | |
lebt einsam in der Wohnung der verstorbenen Eltern. Fast zwanghaft setzt er | |
alles mit allem in Verbindung, verliert sich beinahe autistisch im | |
Kleinsten. Immer wieder lesen wir die kleinen Lügen, mit denen Filip seine | |
Welt in Ordnung hält, wie er sich selbst – stets gespiegelt durch den | |
Erzähler – die Worte so mühsam im Mund herumdreht, als wären es | |
Wackersteine. Mit dem Gestus der selbstgerechten Empörung greift er der | |
Geschichte voraus und säht böse Vorahnungen: „Um es gleich zu sagen, sagte | |
Filip, er habe keine Entschuldigung dafür, dass er nicht sofort zu mir | |
gekommen sei.“ | |
## Treffpunkt im Niemandsland | |
Robert, so steht es im Brief, möchte seinen Bruder im Gasthaus „Brioni“ | |
treffen. Das „Brioni“ in Zemun gibt es tatsächlich: Ein Relikt vergangener | |
Zeiten, im Niemandsland zwischen Dorfkneipe und urbanem Männertreff. Kurz: | |
ein Ort, von dem Kriege ausgehen. Auch Filip hat dort die Kriegszeit der | |
90er Jahre saufend und sauren Schnaps in die schmuddelige Kloschüssel | |
erbrechend verbracht. Das Gasthaus, nunmehr lichtdurchflutet und mit | |
fremdsprachiger Speisekarte, ist der perfekte Startpunkt einer Tragödie. | |
„Wäre das ’Brioni‘ wie früher gewesen, sagte Filip, wäre vielleicht ni… | |
passiert, aber nun, so verändert, regte es zu weiteren Veränderungen an, | |
und die Kette der Veränderungen riss nicht mehr ab“, menetekelt Filip. | |
Tatsächlich erscheint Robert im „Brioni“. Er erzählt folgende Geschichte: | |
Die Eltern, beide bei den Studentenprotesten 1968 aktiv, hätten ihn aus | |
Angst vor Repressionen für ein Diamantencollier verkauft. Er wuchs, als | |
Jude erzogen, in Argentinien auf. | |
Filip ist hin- und hergerissen zwischen hilfloser Liebe und rasender | |
Eifersucht. Beinahe slapstickhaft geraten die Versuche der Männer, sich am | |
Gasthaustisch nahe zu kommen. Einmal lässt sich Filip von Roberts Hass auf | |
die von ihm vergötterten Eltern mitreißen, zerfetzt die mitgebrachten | |
Familienfotos: „Sein ganzes Leben, sagte er, lag dort in den Fetzen von | |
Schwarzweiß- und Farbfotos, die niemand mehr hätte zusammenfügen können, | |
vor allem, nachdem Robert zwei Handvoll Schnipsel in die Luft geworfen | |
hatte und, während diese auf ihre Köpfe und Schultern herunterrieselten | |
oder auf den Boden fielen, ausrief: ’Schnee, Schnee!‘“ | |
Schließlich verschwindet Robert auf der Toilette und kehrt als Alisa, in | |
Minirock und Higheels, zurück. Dann fallen die homophoben Kneipenbesucher | |
über Robert/Alisa her. Verstört schaut Filip zu. Statt zu helfen, genehmigt | |
er sich einen, bereits zu Beginn des Romans ersehnten Saft: „einen frisch | |
gepressten Zitronensaft, der in einer solchen Kneipe natürlich nicht | |
angeboten werde, weswegen er die ganze Zeit mit Wollust an kühlen | |
Zitronensaft denken werde, an den Zuckerwirbel im Glas und an die | |
Zitronenkerne, die sich im Zuckerkosmos wie Planeten drehen“. Die | |
Geschichte von Kain und Abel? Ganz bestimmt. Die Metapher vom Brudermord | |
allerdings steht wie keine zweite für den jugoslawischen Bürgerkrieg. | |
## Schönheit des Irrsinns | |
Albaharis Bücher mäandern ganz eigenwillig, mal absatzlos voranpreschend, | |
mal die gleiche Szene in immer neuen Varianten zerreibend. Allzu gern lässt | |
man sich von der Schönheit des Irrsinns, den Albahari wie eine Zwangsjacke | |
eng um seine Protagonisten zurrt, einlullen. Und am Ende des Buches steht | |
man vor dem Nichts: Dass man sich in die emotionale Komplizenschaft mit | |
einem mörderischen Kleingeist begeben hat, ist schier unverzeihlich. „Die | |
Verwandlung, die meine Charaktere durchmachen, soll dem Leser eine Warnung | |
sein, denn ihm könnte dasselbe passieren“, erklärt Albahari gegenüber der | |
taz. „Ein kleiner Moment der Unaufmerksamkeit genügt, und man ist von der | |
Welt des Guten hinübergetreten in eine voller Vorurteile und Übel.“ | |
Die Erfahrung von Ausgrenzung, die in „Der Bruder“ in der symbolischen | |
Auslöschung des in ein kaum modernisiertes Serbien zurückgekehrten Bruders | |
gipfelt, erinnert an Albaharis Geschichte. Ausgerechnet 1991, während der | |
Bürgerkrieg tobte, war er der Vorsitzende der jüdischen Gemeinden | |
Jugoslawiens. Albahari war mitverantwortlich für die Evakuierung Tausender | |
Menschen aus dem Kessel von Sarajevo. Die so erzwungene Positionierung als | |
jüdischer Serbe trieb ihn 1994 nach Kanada. Entfliehen konnte er den | |
Zuschreibungen aber nicht. | |
„Antisemitismus kennt keine Grenzen, er fühlt sich in Serbien genauso an | |
wie in Kanada“, sagt Albahari. Die Bücher, die so entstanden, handeln von | |
Identitätskonflikten, von Verfolgung und Exil. In „Götz und Meier“ | |
fiktionalisierte er anhand von Archivmaterial die Geschichte zweier | |
SS-Männer im besetzten Serbien – ein Meilenstein auch in der Aufarbeitung | |
der Schoah. Mit „Die Ohrfeige“, einem albtraumhaften Belgrad-Roman zwischen | |
postmoderner Schnitzeljagd und antisemitischem Wahn, setzte Albahari sich | |
2007 auch in Deutschland durch. Ob dieses Schreckensbild das reale Belgrad | |
zeigt? Ja, das glaube er, meint Albahari. „Genauso wie ich glaube, dass | |
alles, was ich mir ausgedacht habe, Wirklichkeit ist.“ | |
„Der Bruder“ ist 2008 auf Serbokroatisch erschienen, zwischenzeitlich hat | |
Albahari zwei weitere Romane („Die Tochter“, „Kontrolni Punkt“) nachgel… | |
Auf deren schnelle Übersetzung kann man nur hoffen. In dieser Woche ist | |
David Albahari in Deutschland auf Lesetour. | |
David Albahari: „Der Bruder“. Aus dem Serbischen übersetzt von Mirjana und | |
Klaus Wittmann. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2012, 170 S., 19,90 | |
Euro; Lesungen: 20.11., 19.30 Uhr Bonner Kunstverein; 21.11., 19.30 Uhr, | |
Stadtbücherei Esslingen; 22.11., 19 Uhr, Gasteig München. | |
18 Nov 2012 | |
## AUTOREN | |
Sonja Vogel | |
## TAGS | |
Serbien | |
Jugoslawien-Krieg | |
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