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# taz.de -- Bibliotheksbesuch Serie Teil II: Risse im Bildungsfundament
> Schwerin erprobt, was passiert, wenn die Bücher weg sind: Aus statischen
> Gründen wurde der größte Teil der Hauptstadt-Bibliothek gesperrt.
Bild: Gähnend leere Gänge, traurige Hinweisschilder: in der Schweriner Stadtb…
Dass Bücher schwer sind, weiß jeder Umzugshelfer. In Schwerin sind sie
sogar zu schwer für ihre eigene Bibliothek: Weil die Zentralbücherei der
mecklenburg-vorpommerschen Landeshauptstadt unter dem Gewicht ihrer Inhalte
zusammen zu brechen drohte, ist sie seit Mai teilgesperrt.
Nach dem Anruf des Statikers musste es plötzlich ganz schnell gehen,
erinnert sich Heidrun Hamann. Der Direktorin scheint der Schock noch immer
in den Knochen zu sitzen. „Gefahr im Verzug“, sagten die Fachleute. „Für
uns kam das überraschend“, meint Hamann. Schon seit den 1990ern seien die
Mängel in der Bausubstanz der früheren Klavierfabrik bekannt gewesen, doch
Umzugspläne scheiterten an fehlenden Finanzen und
Nachnutzungs-Konzepten.Also hieß es : Arbeiten, bis der Statiker kommt.
Gähnend leere Gänge führen nun zu Räumen, deren bisherige Aufgabe nur die
vielen Dübellöcher verraten. Zwischen den Regalschatten behaupten traurige
Schilder, hier sei „Literatur für Kinder der 2. bis 4. Klasse“ zu finden.
Über den Resten einer Leseecke steht „Vorschulliteratur“. Große Teile des
fünfgeschossigen, verschachtelten Gebäudes sind ausgeräumt, immerhin ist
das prunkvolle Vorderhaus noch nutzbar. Nur, dass dort jetzt überall
Pressholzplatten die Durchgänge abriegeln. Kafka könnte sich hier heimisch
fühlen.
„Das tat auch körperlich weh“, sagt Hamann über den überhasteten Auszug.
Zwei Drittel des Bestandes wanderten von heute auf morgen ins Magazin.
Teile der Belletristik, die komplette Sachliteratur, der gesamte
Präsenzbestand und alles Fremdsprachige. „Wir haben überlegt, was
heutzutage am ehesten durchs Internet ersetzt werden könnte“, sagt Hamann.
Seit 20 Jahren leitet sie die Bibliothek. Nun greift sie manchmal unbedacht
ins Leere, wenn sie im ehemaligen Lesesaal, in dem unter anderem die Kinder
ein provisorisches Plätzchen gefunden haben, in die ehemalige Lexikon-Ecke
läuft.
Immerhin: Hamanns Rest-Refugium ist eine eindrucksvolle, im Empire-Stil
gehaltene Halle – ein früherer Konzertsaal. Hier wurden auch Klaviere,
Flügel und Flugzeugteile gefertigt, Werktätige verköstigt und NS-Lieder
geschmettert. Leider ließen die Nazis auch ihren Niederdeutschen Beobachter
hier drucken: Die schweren Maschinen erschütterten die Bausubstanz.
Seit der Reduzierung von 1.900 auf 500 Quadratmeter sind die Entleihungen
um fast ein Viertel zurück gegangen. Vor allem die Schüler bleiben weg. Und
die Erwachsenen? „Viele sind sehr wütend, weil man ihnen ihre Bibliothek
weggenommen hat“, sagt die Direktorin. Eine Bürgerinitiative sammelt
Unterschriften, ein Förderverein ist in Gründung. Andererseits sei sie
überrascht, sagt Hamann: darüber, „wie viele es hinnehmen“.
Ist die Schweriner Teilschließung Sonderfall oder Symptom? Ein
bedauerliches, baubedingtes Einzelereignis – oder sinnfällige Zuspitzung
der Situation im ganzen Land? Von 170 Bibliotheken in
Mecklenburg-Vorpommern wurden in den in den vergangenen zehn Jahren 80
geschlossen. Fast die Hälfte der noch Bestehenden sind OLPs,
„One-Person-Libraries“. Vernetzung und Fortbildung sind unter diesen
Umständen illusorisch, was auch angesichts des hohen Altersdurchschnitts
der verbliebenen MitarbeiterInnen fatal ist.
Genau 90 Cent pro Jahr und Bürger erübrigen die Kommunen in
Mecklenburg-Vorpommern für Neuerwerbungen ihrer Bibliotheken. Im
benachbarten Schleswig-Holstein ist es fast das Doppelte.
Eine „Bibliothekswüste“ drohe in den ländlichen Bereichen, sagt der
zuständige Fachverband. Aber können nicht gerade dort Online-Angebote die
Lücken füllen? Vielleicht – wenn der Anteil der Bibliotheken mit
Online-Katalog nicht bei 15 Prozent läge. E-Learning? Bieten nur elf
Prozent. Was nicht überrascht: Nur jede vierte Bibliothek im Land hat
überhaupt eine Website. Ebenso wenige bieten einen öffentlichen
Internet-Zugang. So gilt in M-V die schlichte Gleichung: 40 Prozent weniger
Bibliotheken bedeuten auch 40 Prozent weniger Nutzer.
In der Landeshauptstadt Schwerin ist die Kultur Chefinnensache. Angelika
Gramkow, für die Linkspartei Oberbürgermeisterin und Kulturdezernentin,
zitiert gern Hermann Hesse: „Ein Haus ohne Bücher ist arm, auch wenn schöne
Teppiche seinen Boden schmücken.“ In ihrer Stadtbibliothek fehlt beides.
Gramkow regiert mit wechselnden Mehrheiten, entsprechend unübersichtlich
ist die Gemengelage von mehr oder weniger gut gemeinten Vorschlägen und
Vorstellungen zur Zukunft der Stadtbibliothek.
SPD und Grüne halten eine Angliederung an die ungleich größere
Landesbibliothek für sinnvoll. Die aber hat ein anderes Aufgabenspektrum –
und liegt in einer Gegend ohne Publikumsverkehr. Die Linkspartei will einen
Neubau. Die Bibliothek solle sich auf Virtuelles fokussieren, meint
wiederum die FDP – was raummäßig ungemein günstig wäre.
Die Folge der divergierenden Szenarien: Noch immer ist kein Beschluss
gefasst. „Wir sehnen eine schnelle Lösung herbei“, sagt Hamann. Und fügt
vorsichtig hinzu: „Ich will keine Schuldzuweisungen treffen.“ Angesichts
der vielen Akteure, von der die Zukunft des Hauses abhängt, wäre das auch
unklug. Hamann favorisiert einen mit fünf Millionen Euro veranschlagten
Neubau des Hinterhauses. Der wäre frühestens 2018 bezugsfertig.
Welcher Plan „I“ – wie Interimslösung – liegt in der Schublade? „Noch
keiner“, sagt Hamann. Und: „Wir sehen kein Licht im Tunnel.“ Vor wenigen
Tagen beschloss der Finanzausschuss eine Kürzung des Bibliotheks-Etats um
zehn Prozent.
Nächste Folge: Von den Dänen lesen lernen - die Büchereizentrale
Schleswig-Holstein als Erfolgsmodell
18 Dec 2012
## AUTOREN
Henning Bleyl
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