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# taz.de -- Bibliotheksbesuch (III): Vom Feind zum Vorbild
> Lesen lernen von den Dänen: die Büchereizentrale Schleswig-Holstein als
> Erfolgsmodell.
Bild: Schleswig-Holsteins erste mobile Bibliothek: der Bücherbus von 1962. Nun…
Die Serie „Lesen und lesen lassen“ beschreibt Bibliothekszustände in
Norddeutschland. Büchereien demokratisieren das Wissen – aber gibt ihnen
die Wissensgesellschaft die dafür notwendigen Mittel? Strengen sie sich
selbst genug an, um aktuelle Kommunikationsräume zu bleiben? Ist nicht
sowieso schon alles im Netz? Eine Antwortsuche vor Ort in acht Stationen.
Das fortschrittlichste Bibliotheksgesetz der Republik ist bald in
Schleswig-Holstein zu finden. Zumindest, wenn es nach Anke Spoorendonk
geht. Seit Kurzem ist sie Landesministerin für Justiz und Kultur und kann
nun umsetzen, was sie aus der Opposition heraus forderte: Die gesetzliche
Definition der Bibliotheksfinanzierung als Pflichtaufgabe. Bisher ist sie
freiwillige Leistung der Kommunen – und hat im Zweifel das Nachsehen.
Spoorendonk ist die erste Angehörige der dänischen Minderheit mit
Ministeramt. Ihr Südschleswigscher Wählerverband regiert gemeinsam mit
Rot-Grün. Wenn unsere Großväter das geahnt hätten, wäre ihnen vor Entsetzen
wohl die Pickelhaube vom Kopf gerutscht. Und das Buch aus der Hand.
Paradoxerweise profitiert gerade Spoorendonk vom nationalistischen
Revanchismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Er ist der
ideologische Nährboden des massiven Bücherei-Ausbaus in Schleswig. Nach
verlorenen Volksabstimmungen zur Staatszugehörigkeit der Grenzgebiete
setzte das Deutsche Reich nach 1919 alles daran, die geistige Oberhoheit zu
behaupten. Die Dänen ließen sich nicht lumpen – und beschlossen 1920 die
generelle Abschaffung der Bibliotheksgebühren.
Ein „produktiver Revanchismus“, mit Auswirkungen bis heute? „So ist es
tatsächlich“, sagt Heinz-Jürgen Lorenzen. Er muss es wissen: Sein
Schleswig-Holsteinischer Büchereiverein geht auf die „Zentrale für
Nordmark-Büchereien“ zurück, die 1921 im Zuge der „kulturellen
Grenzlandarbeit“ entstand. Heute gibt das Land, ganz ohne nationalen Furor,
10,68 Euro pro Kopf für Bibliotheken aus. Das liegt nur unwesentlich über
dem Bundesschnitt. Doch dieses Geld wird, rechnet Lorenzen vor, „um 25
Prozent effektiver“ ausgegeben.
Lorenzen rechnet gern: Die Personalkosten pro Ausleihe lägen bundesweit bei
1,41 Euro, in Schleswig-Holstein seien es 34 Cent weniger. Hintergrund ist
die historisch gewachsene Zentralstruktur: Lorenzens Mitarbeiter beliefern
163 Häuser, beraten und sorgen für ökonomische Synergien. Und sie schicken
13 Busse über Land, bepackt mit Büchern, Bibliothekaren und Bestellzetteln.
2.021 Haltestellen bieten Anschluss an die Medienbestände des Landes, bis
hin zum wissenschaftlichen Leihverkehr.
Als die Fahrbüchereien 1962 eingeführt wurden, erzählt Lorenzen, musste
sein Vorgänger auf England als Vorbild verweisen. Dass die Dänen solche
Busse längst hatten, sei seinerzeit keine geeignete Referenz gewesen. Heute
wirken Lorenzen und Alice Feddersen wie ein Herz und eine Seele, wenn sie
in der Rendsburger Zentrale zusammensitzen: Feddersen leitet die
Centralbibliothek Sydslesvig, ist also Lorenzens Pendant für die dänische
Minderheit. Besser gesagt: sein Vorbild. Denn im Vergleich mit Dänemark
wirken selbst die Schleswig-Holsteiner Spitzenwerte spirrelig. Der
nördliche Nachbar investiert das Dreifache in seine Bibliotheken.
Wenn Feddersen die dänischen Standards darstellt, klingt das für deutsche
Ohren wie eine Geschichte aus „Alice im Wunderland“. Die damit beginnt,
dass der Bibliothekszugang immer noch kostenlos ist, ebenso das Internet.
Dann streift Feddersen die in Deutschland so strittige Frage gelegentlicher
Sonntagsöffnungen: „Das ist bei uns seit 20 Jahren selbstverständlich“,
erzählt sie lächelnd – jeden Sonntag. Dann kam die Ausdehnung der
Öffnungszeiten auf 22 Uhr. Derzeitiges Happy End ist die Einrichtung der
Rund-um-die-Uhr-Büchereien, deren Türen jeder per Ausweis öffnen kann.
Wo bleibt das Böse im Leseland-Märchen: Gibt es keinen Vandalismus, wenn
die Nutzer allein im Haus sind? „Doch“, sagt Feddersen. Zwei Fälle seien
ihr bekannt. In fünf Jahren.
Die „offene Bibliothek“ basiert auf einer Mischung aus Videoüberwachung und
sozialem Vertrauen. Selbst nach mehreren personalfreien Feiertagen finden
die Mitarbeiter in aller Regel ein aufgeräumtes Haus vor. Lorenzen nennt
einen weiteren Unterschied zu Deutschland: „Die Dänen kämpfen um die
letzten 20 Prozent der Bevölkerung, die die Bibliotheken noch nicht nutzen.
Wir um die ersten.“ Bislang mit einstelligem Erfolg: Nur 9,8 Prozent der
Deutschen haben einen Bibliotheksausweis.
Die Dänen sind ein Segen für Schleswig-Holstein. Der Kulturkampf ist
Vergangenheit, aber auch Minderheitenrechte taugen als Messlatte für
kulturelle Standards. Und als Gegenmodell zur Dumping-Dynamik des in Mode
gekommenen „Benchmarking“: dem Wettlauf der Länder um die jeweils
niedrigsten Ausgaben pro „Produktgruppe“.
Lorenzens Bundesland hebt die Quote. Der statistische
Durchschnitts-Schleswig-Holsteiner entleiht 6,1 Bücher pro Jahr, bundesweit
sind es anderthalb weniger. Seit 1983 leitet Lorenzen die Zentralstelle,
doch er hat auch ein Vorleben als Physiker. Wie sieht er die Zukunft der
physischen Bestände der Bibliotheken? In 15 Jahren werden sie mehr
elektronische als materielle Medien besitzen, vermutet Lorenzen. Das wäre
eine rasante Entwicklung: Derzeit sind unter den 400.000 Titeln des
Landes-Zentralkatalogs nur 8.000 elektronische Einheiten. Können sie
irgendwann die Bücherbusse ersetzen? „Mittelfristig“, meint Lorenzen,
fahren wohl weniger.
Was ihn mehr beschäftigt, ist die Unterversorgung der Kreise Nordfriesland
und Schleswig-Flensburg. Dass sie sich aus dem Busnetz ausklinkten, kostete
zwei Fahrzeuge. Lorenzens Statistik lehrt: Deren frühere Nutzer tauchen
nicht mehr auf. Auch nicht in der Online-Ausleihe.
Lorenzen hat über Molekül-Bewegungen promoviert, danach habe er „was
Anständiges“ machen wollen: Bibliotheksarbeit. Er ist ein unaufgeregter
Mann, jemand, der viel lächelt und bedächtig formuliert. Und doch auch
zornig werden kann. Etwa, wenn er vom „beispiellosen Bücherei-Sterben“ in
Mecklenburg-Vorpommern spricht. Und davon, dass laut Umfragen 42,8 Prozent
der Bürger Bibliotheken nutzen, wenn sie gut erreichbar sind. Minus 9,8 –
siehe oben – ergibt das ein ungenutztes Potenzial von 33 Prozent. Für
Lorenzen ist das unverzeihlich.
„Es wäre das Normalste der Welt, wenn wir eine Pilgerstätte wären“, sagt…
gelassen. Doch das ist nicht so. Das Bibliotheksgesetz, glaubt Lorenzen,
könnte das ändern: Neben dem strukturellen Bestandsschutz für die
Bibliotheken enthält es zukunftsträchtige Details, etwa ein
Pflichtexemplar-Recht auf elektronische Medien. Dieses Gesetz, hofft
Lorenzen, entfaltet „Signalwirkung“. Es wäre ein Nachbarschaftsgeschenk.
## Nächste Folge: Lesen im ewigen Eis - die Bibliothek des
Alfred-Wegener-Instituts
21 Dec 2012
## AUTOREN
Henning Bleyl
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