# taz.de -- Schnecken und ihre Häuser: Tierische Nomaden | |
> Es gibt Tiere, die ihr Haus mit sich herumtragen. Aber sind das | |
> Immobilien? Oder ist alles ein Missverständnis, weil der Mensch Tiere | |
> benennt, aber nicht versteht? | |
Bild: In ihr Haus kann sich diese Weinberg-Schnecke bei widrigen Bedingungen zu… | |
Der Mensch, der nach Walter Benjamin der Herrscher der Natur ist, weil er | |
der Benennende ist, derjenige, der den Dingen Namen gibt, schreibt den | |
Schnecken vor allem Langsamkeit zu. Langsam ziehen sie sich mit ihrem | |
muskulösen Fuß über einer selbst erzeugten Schleimspur an einem Schilfrohr, | |
einer Mauer weiter in Richtung Versteck oder zum Futter. | |
Langsam können sie sein, heißt es in der für Kausalitäten empfänglichen | |
Sprache der Biologen, weil ihnen ihr Futter nicht wegläuft. Pflanzen, Aas | |
oder festgewachsene Tiere fliehen nicht vor ihren Räubern. Und vor Feinden | |
müssten sich Schnecken kaum fürchten, weil sie sich in ihr Gehäuse | |
zurückziehen können. | |
Letzteres ist eine Behauptung, die man kaum noch glauben kann, wenn man | |
einmal einer Schneckenweihe, einem Greifvogel, beim Aufhebeln von | |
Schneckenhäusern zugesehen hat. Die Schneckenweihe hat sich in den | |
Mangrovenwäldern und Flusssümpfen Costa Ricas und Panamas auf den Verzehr | |
von Wassergehäuseschnecken spezialisiert. | |
Außerdem tragen nicht alle Schnecken ein Gehäuse, manche bleiben nackt. | |
Aber trotz dieser Unsicherheiten ist es eine Tatsache, dass es Schnecken | |
gibt, die Gehäuse tragen, die sie selbst aus ihren Stoffwechselprodukten | |
hervorbringen – es sind tierische Nomaden. In ihre Häuser können sie sich | |
bei widrigen Bedingungen zurückziehen und sich etwa vor Austrocknung | |
schützen. | |
## Schneckenhäuser bleiben selten lange unbewohnt | |
Schnecken werden durch ihre Häuser nicht an der Mobilität gehindert: | |
Schneckenhäuser sind keine Immobilien, und diesen Unterschied sollte man im | |
Auge behalten. Denn auch wenn der weiche Schneckenkörper im Haus gestorben | |
ist, bleiben die so immobil gewordenen Gehäuse nur dann bewegungslos, wenn | |
sie in einer naturkundlichen Sammlung oder auf einem privaten Kamin | |
verstauben. | |
An Land oder im Meer bleiben Schneckenhäuser selten lange unbewohnt. Es | |
gibt mit den Einsiedlerkrebsen eine große Gruppe mit maritimen und | |
landlebenden Formen, die auf die Schneckenhäuser angewiesen ist, um ihren | |
weichen und dadurch ungeschützten Hinterleib zu umhüllen. | |
Zur Immobilität sind die Krebse aber auch dann nicht verdammt, wenn sie ein | |
Schneckenhaus gefunden und für ihren Körper passgerecht bearbeitet haben. | |
Im Gegenteil. Da die Krebse, wenn sie wachsen, größere Schneckenhäuser | |
brauchen, sind sie nachts nicht nur wegen der Futtersuche unterwegs, | |
sondern auch weil sie besser passende Schneckenhäuser suchen. Dabei kann es | |
zu Ereignissen kommen, die ihren Namen absurd erscheinen lassen. | |
Einsiedlerkrebse hatte man sie genannt, weil man glaubte, sie lebten als | |
Einzelgänger. Dass dem nicht so ist, haben jetzt Biologen der Universität | |
von Kalifornien in Berkeley in der aktuellen Ausgabe des Fachblatts Current | |
Biology berichtet. An den Stränden Costa Ricas versammeln sich | |
Einsiedlerkrebse in großen Gruppen zu – wie es bis jetzt aussieht – keinem | |
anderen Zweck, als ihre Häuser in der richtigen Größe auszutauschen. | |
## Die Gemeine Pantoffelschnecke | |
Biologen sehen darin eine Form des Sozialverhaltens, die für allein lebende | |
Tiere ungewöhnlich ist, wie sie schreiben. Man kann daraus aber auch auf | |
ein generelles Problem der Sprache schließen, mit der man es nicht schafft, | |
dem Leben der Schnecken und Krebse gerecht zu werden. | |
Dass die Sprache das Wesen der Tiere nicht erfasst, lässt sich auch am Fall | |
der Gemeinen Pantoffelschnecke, Crepidula fornicata, zeigen. Die | |
ursprünglich an den Küsten der USA und Mexikos vorkommende marine | |
Gehäuseschnecke wurde um 1870 nach Europa eingeschleppt und ist hier | |
seither weit verbreitet. | |
Pantoffelschnecken bilden am Boden schlammiger Gewässer regelrechte | |
Schneckenstapel. Dabei sitzen bis zu sechzehn Tiere aufeinander, die | |
größeren unten und die kleineren oben. Die oben sind die Männchen und die | |
unten die Weibchen, während sich in der Mitte Tiere befinden, die gerade im | |
Übergang vom männlichen zum weiblichen Tier begriffen sind. | |
## Befruchtung von oben nach unten | |
Die Befruchtung der Weibchen findet von oben nach unten statt. Das | |
funktioniert, weil der Penis der kleinen Männchen länger als ihr Körper ist | |
und ohne Probleme über ein paar Männchen und die „neutralen“ Tiere in der | |
Mitte hinweg die Weibchen unten erreichen kann. Was aber wie ein geordneter | |
Geschlechterstapel aussieht, ist bei näherem Hinsehen in Bewegung, nicht | |
nur zwischen den Geschlechtern, sondern auch innerhalb eines gerade | |
betrachteten Geschlechts. | |
Das Gründungstier, das das Fundament auf felsigem Grund legt, wird mit dem | |
Gründungsakt automatisch ein Weibchen. Irgendwie ist es dann in der Lage, | |
Schneckenlarven anzuziehen, die sich auf ihm niederlassen und zu Männchen | |
werden. Werden die kleineren Männchen größer, wandeln sie sich langsam über | |
ein neutrales Stadium in Weibchen um. | |
Dieses als sequentieller Hermaphroditismus bezeichnete Phänomen verweist | |
außer auf die Wandelbarkeit des Sexes noch auf eine andere, in der Natur | |
oft zu beobachtende Tatsache: Die Weibchen sind bei vielen Tieren – anders | |
als bei Menschen – größer als die Männchen. Das ist männlichen Menschen | |
nicht immer geheuer, wie man am Namen der Crepidula fornicata sehen kann. | |
Der wissenschaftliche Name der Pantoffelschnecke stammt von Carl von Linné. | |
Das lateinische fornix, das „Bogen“ bedeutet, wählte Linné, um auf den | |
gewölbten Umriss der Schale zu verweisen. Das Wort konnotiert aber auch mit | |
dem sexuellen Geschehen im Schneckenstapel. | |
Wie der Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould herausfand, stellt fornix auch | |
eine Beziehung zwischen Gewölben und Sexualität her: „[…] weil die Römer… | |
den unterirdischen Teilen großer Gebäude gewölbtes Mauerwerk verwendeten | |
und weil die Armen wie die Prostituierten Roms in diesen unterirdischen | |
Gewölben lebten […], bezeichneten frühchristliche Autoren mit dem Verb | |
fornicari den Besuch von Bordellen“, schreibt er. | |
Crepidula fornicata imitieren aber mitnichten ein Bordell, vielmehr | |
existieren sie mit ihrem wandelbaren Geschlecht in einer Realität, von der | |
Menschen bisher nur träumen können. Man sollte also, kann man schließen, | |
die Tiere nicht mit den Namen verwechseln, die sie sich nicht selbst | |
gegeben haben. | |
22 Dec 2012 | |
## AUTOREN | |
Cord Riechelmann | |
## TAGS | |
Tiere | |
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