| # taz.de -- Funk-Legende Tim Maia: „I am so groovy and I don’t care“ | |
| > Zu Beginn der Siebziger brachte er den Funk nach Brasilien – nun ist das | |
| > Werk des genialischen Künstlers Tim Maia wieder zugänglich. | |
| Bild: Groovy groovy, funky funky: Tim Maia. | |
| Eigentlich müsste Deutschland ihn lieben. Schließlich erfüllt er viele der | |
| Klischees, die hierzulande erfolgreiche Künstler bedienen müssen: die | |
| Fackel, die an beiden Enden brennt, der, der durch die Scheiße gegangen ist | |
| und dem du das anhörst, der liebenswerte Soziopath, der so ganz gesteuert | |
| ist von einer überbordenden Emotionalität. | |
| Wie so oft bei solchen Charakteren gibt es eine ganze Legion von Menschen, | |
| die Tim Maia schlichtweg für unerträglich beziehungsweise einen Arsch | |
| hielten: Toningenieure, Konzertveranstalter, Exfrauen sowieso, aber auch | |
| ganz gewöhnliche Menschen, die seinen Lebensweg zum falschen Zeitpunkt | |
| kreuzten. So waren zum Zeitpunkt seines Todes 1998 nicht weniger als 120 | |
| Gerichtsverfahren anhängig, sowohl gegen ihn wie auch von ihm angestrengt. | |
| „Tim Maia war der freieste Mensch der Welt“, formuliert es sein Biograf | |
| Nelson Motta. „Er tat immer nur das, was er wollte.“ | |
| Es gibt jedoch noch eine dritte Seite: die des kompromisslosen | |
| musikalischen Innovators. Er importierte zu Beginn der siebziger Jahre den | |
| Funk nach Brasilien, ein zu diesem Zeitpunkt dort wenig bekanntes und | |
| überhaupt nicht praktiziertes Genre. Das Land schien jedoch nur darauf | |
| gewartet zu haben. Quasi aus dem Nichts brach ein riesiger Boom los, in | |
| dessen Mittelpunkt er stand. | |
| Und mit der Musik kam auch ein neues Bewusstsein für so etwas wie | |
| „Negritude“ in die brasilianische Gesellschaft. Bis dahin galt gemäß der | |
| offiziellen Propaganda Brasilien als ein fröhlicher Melting Pot, in dem die | |
| Nachkommen von europäischen und asiatischen Einwanderern, versklavten | |
| Afrikanern und indigenen Völkern frei von Rassismus miteinander friedlich | |
| koexistierten. | |
| ## Compilation „Nobody Can Live Forever“ | |
| Mit Tim Maias Funk kamen auch die Botschaften der US-Bürgerrechtsbewegung | |
| nach Brasilien, und auch wenn die Situation in Brasilien nicht mit der in | |
| den USA zu vergleichen war, veränderten sie doch das Selbstverständnis der | |
| schwarzen Bevölkerung Brasiliens für immer. Die Compilation [1][„Nobody Can | |
| Live Forever“], die auf David Byrnes Label Luaka Bop als vierter Teil in | |
| der Reihe „World Psychedelic Classics“ veröffentlicht wird, gibt jetzt | |
| endlich – nach einem langen Kampf um die Veröffentlichungsrechte – dem | |
| internationalen Publikum einen Überblick über das Schaffen des | |
| brasilianischen Paradiesvogels. | |
| Je nach Quelle wurde Sebastião Rodrigues Maia 1934, 1940 oder 1942 geboren. | |
| Wahrscheinlich ist eines der früheren Jahre, denn bereits Mitte der | |
| fünfziger Jahre war das 18. von 19 Geschwistern äußerst aktiv in der | |
| Musikszene Rio de Janeiros, wo er unter anderem mit den späteren Megastars | |
| Jorge Ben und Roberto Carlos herumhing und Musik machte. | |
| Ende der fünfziger Jahre brach er in die USA auf und lebte einige Jahre in | |
| New York. Zu einer Zeit, da mit der Bossa Nova zum ersten Mal | |
| brasilianische Musik die Welt eroberte, interessierte er sich | |
| ausschließlich für die Musik seiner Wahlheimat, sang Soul und R&B in einer | |
| Band namens The Ideals und hatte keine Pläne zurückzukehren. 1964 wurde Tim | |
| Maia jedoch wegen Marihuanabesitzes verhaftet und nach einem kurzen | |
| Gefängnisaufenthalt in die Heimat zurückgeschickt. | |
| Rio wartete nicht gerade auf einen Soulsänger, der ausschließlich auf | |
| Englisch singen wollte. So dauerte es bis Ende der sechziger Jahre, bis er | |
| endlich seine ersten Songs veröffentlichen konnte und durch einen Hit im | |
| Duett mit Elis Regina 1970 schließlich erste Berühmtheit erlangte. | |
| ## Mehr Gottesdienst als Konzert | |
| Mit der Veröffentlichung seines Debütalbums im selben Jahr explodierte | |
| allerdings seine Popularität, seine vier ersten Alben warfen rund ein | |
| Dutzend Megahits ab, seine oft stundenlangen Liveshows glichen eher | |
| Gottesdiensten als herkömmlichen Konzerten, in Ekstase huldigten seine Fans | |
| Botschaften wie „Fuck politics! Let’s make love and party!“ Oder: „Brot… | |
| father, mother, sister – everybody is the same!“ Oder: „I am so groovy now | |
| and I don’t care.“ | |
| Dann hielt allerdings tatsächlich die Religion Einzug: 1975 wurde er | |
| Mitglied des bizarren UFO-Kults Cultura Racional. Zwei Jahre und zwei Alben | |
| lang schwor der bis dato polytoxikomane Maia dem Alkohol, den Drogen und | |
| womöglich sogar dem Sex ab, wartete auf die Ankunft von UFOs, die die | |
| Rechtgläubigen auf den einstigen Heimatplaneten zurücktransportieren würden | |
| – und sang auch nur noch genau darüber. | |
| Als er herausfand, dass das Sektenoberhaupt selbst es mit den Geboten nicht | |
| besonders genau nahm, schwor er der ganzen Sache schnell wieder ab und nahm | |
| dann auch die zwei auf eigenem Label herausgebrachten Alben „Racional“ und | |
| „Racional Vol. 2“ vom Markt und verfügte, dass sie nie wieder | |
| veröffentlicht werden dürften. | |
| ## „World Psychedelic Classics“ | |
| Luaka Bop gelang es nun, immerhin einige Titel aus diesen beiden Alben für | |
| „Nobody Can Live Forever“ zu lizensieren – was durchaus dankenswert ist, | |
| denn musikalisch hatte sich bei ihm nichts geändert und man könnte fast | |
| sagen, dass er im erleuchteten Zustand besser denn je groovte. Dass das | |
| Album jetzt unter dem Dach der Reihe „World Psychedelic Classics“ | |
| erscheint, hat übrigens durchaus seine Berechtigung. | |
| Da ist einerseits die seltsame Fuzzbox-Gitarre, die in vielen Titeln an | |
| prominenter Stelle vor sich hingniedelt. Da ist aber auch der Gesamtsound, | |
| der sich signifikant von seinen US-Vorbildern unterscheidet: Maias Funk ist | |
| süßer und weicher, meist eher downtempo und mit höhenlastig | |
| durchschrabbelnden Akustikgitarren. Man kann spekulieren, womöglich bekamen | |
| die beteiligten Musiker und Tontechniker einen fetten, harten | |
| Street-Funk-Sound nicht hin, vielleicht hatte Maia auch einfach andere | |
| Vorstellungen. | |
| ## Mehr Bass und Wumms | |
| Das Remastering auf dieser neu veröffentlichten Compilation versucht mit | |
| zusätzlichem Bass und Wumms den etwas dünnen Sound der | |
| Originalveröffentlichungen zeitgemäß aufzufetten. Dennoch ist diese Musik | |
| nicht unbedingt etwas für Rare-Groove-Hardliner und auch Bossa- und | |
| MPB-Fans könnten zunächst irritiert sein. | |
| In Brasilien nahm Tim Maias Beliebtheit durch das Sektenabenteuer übrigens | |
| keinen Schaden, im Gegenteil: Sehr erfolgreich ritt er ab Ende der | |
| Siebziger auf der Discowelle, später nahm er sogar Bossa-Nova-Klassiker | |
| auf. Künstlerisch war das alles dann aber nicht mehr so aufregend und so | |
| blendet sich „Nobody Can Live Forever“ auch Mitte der Achtziger aus Maias | |
| Karriere aus. Die lief noch erfolgreich weiter bis zum März 1998, als er | |
| bei einem Konzert in Niteroi eine Herzattacke erlitt, an der er eine Woche | |
| später starb. 55-jährig oder auch 63-jährig, je nach Quelle. | |
| ## | |
| 7 Jan 2013 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.youtube.com/watch?v=jqnlsmQnYLg | |
| ## AUTOREN | |
| Detlef Diederichsen | |
| ## TAGS | |
| Brasilien | |
| Funk | |
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