# taz.de -- Johann Gottfried Seume: Das Brack der Blindlinge | |
> Seume steht für Freiheit und Gerechtigkeit. Sein herrschaftsfreier Blick | |
> auf die Gesellschaft machte ihn auch für manche 68er zum Aufklärer. | |
Bild: In Leipzig ging Seume zur Schule, hier studierte er und schrieb er – Au… | |
„Seumes ’Spaziergang‘ ist ein unerträgliches Zeug voll Arroganz, | |
Gemeinheit, Großtun im Nichts; ein eitler Mensch, der etwas sein will, ein | |
grober Bengel …“, schreibt die Superintendentengattin Caroline Herder 1803 | |
aus dem dörflichen Weimar. | |
Der grobe Bengel Johann Gottfried Seume verstand sich natürlich als | |
„Ketzer“. In seinem letzten Lebensjahrzehnt sprach er aus, was die immer | |
„schweigende Mehrheit“ nicht konnte oder wollte. Als Napoleon aus Rache für | |
die unsäglichen „Koalitionskriege“ gegen die Republik Frankreich und | |
schließlich aus Großmannssucht schon halb Europa bedrückte, schrieb Seume | |
seine journalistischen Texte. | |
Sie wurden zensiert, verstümmelt oder nach seinem Tod veröffentlicht. | |
Man hat Seume als skurrilen „Wanderer“ entschärft. Erst die 68er haben | |
Qualität und Brisanz seiner Texte wiederentdeckt, etwa zur gleichen Zeit | |
wie DDR-Verlage und Wissenschaftler. | |
Der Bauernsohn Seume hatte Leipzig als seinen Lebensmittelpunkt. Hier ging | |
er zur Schule, studierte und schrieb er. Die geistig lebendige und offene | |
Universitäts-, Buch- und Handelsstadt war seit Jahrhunderten ein | |
Umschlagplatz europäischer Ideen. Die Stadt hat ihn geprägt wie vor und | |
nach ihm die Philosophen Leibniz, Thomasius, Fichte, Nietzsche etwa, oder | |
Schriftsteller von Gottsched, Goethe, Schiller bis Jean Paul und Christoph | |
Hein. Von hier aus ging Seume auf Reisen und kam immer wieder zurück. | |
## Begegnung auf Augenhöhe | |
Der gebildete Bauernsohn Seume sah die Welt aus der Perspektive jener, die | |
alle Werte schaffen und dafür alle Lasten tragen mussten. Den Lenkern und | |
Machern, die ihm nicht das Wasser reichen konnten, begegnete er auf | |
Augenhöhe. Daher kommen die im Gegensatz zu den üblichen Italienberichten, | |
etwa von Goethe, so andersartigen Reisebeschreibungen. | |
Johann Gottfried Seume war „Wanderer“ vor allem, weil er kein Geld hatte. | |
Fast ganz Europa ging zu seiner Zeit zu Fuß, auch finanzschwache | |
Intellektuelle. Pferd oder Wagen konnte man sich kaum leisten. Vor allem | |
wurde der Reisende selbst bestaunt: ein Sonderling, ein Abenteurer, der in | |
politisch schwieriger Zeit zu Fuß nach Sizilien reist. Die Stiefelsohlen | |
hat er sich dabei durchgelaufen. Seume berichtet in einer lockeren, | |
unterhaltsamen Sprache voll Witz und voller Zorn über den Alltag, die | |
einfachen Leute und die unmenschlichen Zustände in Europa, wenn er etwa die | |
große Armut der sizilianischen Landbevölkerung sieht und die Verschwendung | |
der Großgrundbesitzer, „Pfaffen“ und Adligen dagegenhält. | |
Seume passte scheinbar nicht in seine Zeit. Der Germanist und Alt-68er Jörg | |
Drews nannte ihn einen Spätaufklärer. „Wir wollen an Dokumenten arbeiten, | |
daß wir nicht zur Zeit gehören; damit uns wenigstens nicht die Nachwelt zu | |
dem Brack der Blindlinge und Kriechlinge zählt …“, schreibt Seume. Die | |
„Nachwelt“, das waren zum Beispiel Georg Büchner und Ludwig Börne, Hoffma… | |
von Fallersleben und Georg Herwegh, die Vormärz-Aufmüpfigen wie auch die | |
1848er Revolutionäre. Nichts mit Gerechtigkeit und Republik. | |
Das Kaiserreich kam und die diversen geschichtsträchtigen 9. November in | |
der deutschen Geschichte. Bis zur „friedlichen“ Implosion der DDR, wo es | |
letztlich auch um Ehrlichkeit und Gerechtigkeit, Vernunft und Teilhabe | |
ging. Seumes Kritik am Zustand der Gesellschaft kommt uns merkwürdig | |
bekannt vor: Gerechtigkeit ist einer seiner Grundbegriffe, und Freiheit. | |
Sein Freiheitsbegriff ist allerdings nicht jener verwaschene auch unserer | |
Zeit. Für Seume ist es immer Freiheit wovon, wofür, für wen. Frei sein | |
fängt im Kopf an. Und das hat zu tun mit Bildung, nicht zu verwechseln mit | |
bloßem Wissen. | |
Seumes Schriften gilt es wiederzuentdecken. Als frühen Reisereporter, als | |
politischen Querdenker, als einen Weltbürger und großen Humanist. | |
Der Auto ist Literaturhistoriker und Vorstandsmitglied der | |
[1][Seume-Gesellschaft] | |
3 Feb 2013 | |
## LINKS | |
[1] http://www.seume-gesellschaft.de/ | |
## AUTOREN | |
Otto Werner Förster | |
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