# taz.de -- Avantgarde in der Provinz: Freunde der Klarheit | |
> Der Celler Architekt Otto Haesler und der hannoversche Künstler Kurt | |
> Schwitters waren Erneuerer auf ihren Gebieten. | |
Bild: Viele winzige Wohnungen: die Celler Siedlung "Blumenlägerfeld" im Jahr 1… | |
HANNOVER taz | Hannover wurde – man mag es heute kaum glauben – in den | |
1920er-Jahren dank der treibenden Kraft von Kurt Schwitters zu einem | |
aktiven Kunstzentrum in Europa. Künstler wie Wassily Kandinsky, Theo von | |
Doesburg oder Marcel Duchamp weilten in der Stadt und nahmen an Kongressen | |
oder Festen teil, die Schwitters organisierte. | |
Aber nicht nur Hannover war ein Ort der ästhetischen Neuerungen. Im rund 40 | |
Kilometer entfernten Celle entstanden in den 1920er-Jahren die auch | |
international beachteten Schlüsselwerke des Siedlungs- und Wohnbaus der | |
Weimarer Republik: Dort baute der Architekt Otto Haesler ab 1923 die | |
Siedlung „Italienischer Garten“, ab 1925 die Siedlung „Georgsgarten“ un… | |
1930 die Kleinstwohnungssiedlung „Blumenlägerfeld“. | |
Kurt Schwitters in Hannover und Otto Haesler in Celle wussten nicht nur | |
voneinander, sie waren miteinander befreundet und arbeiteten sogar | |
zusammen. Dieser Zusammenarbeit sowie dem architektonischen und | |
künstlerischen Schaffen der beiden widmet die Architektenkammer | |
Niedersachsen derzeit eine Ausstellung. | |
Was ihre Charaktere betrifft, waren Schwitters und Haesler höchst | |
unterschiedlich. Schwitters wirkte als Literat und begnadeter Unterhalter | |
auf seinen Merz-Abenden. Bildnerisches und Grafisches, Selbstversuche in | |
der Architektur seiner zahlreichen Merzbauten, kritische Prosa und | |
Produktwerbung wurden stetig zu neuen Mischformen einer vitalen | |
Produktivität verflochten. In bourgeoises Milieu 1887 geboren, avancierte | |
Kurt Schwitters zum Bürgerschreck Hannovers. | |
Otto Haesler dagegen wurde 1880 in bescheidenen Verhältnissen in München | |
geboren, er kam nach der Baugewerkschule und einer Maurerlehre 1906 ins | |
niedersächsische Celle. Da er die Zeit noch nicht reif empfand für einen | |
eigenen Ausdruck in der Architektur, knüpfte er in seinen frühen | |
Realisierungen an die „letzte gute Bauepoche“ an, wie er rückblickend | |
sagte, die Zeit um 1800. | |
Nach dem Ersten Weltkrieg und seinen sozialen Verwüstungen fand Haesler | |
dann zu seiner charakteristischen Architekturhaltung: systematisch in der | |
Problemanalyse, sozial programmiert, unter Einsatz industrialisierter | |
Bautechnik. | |
Die Bergmannssiedlung „Maria Glück“, die er 1920 mit knappen | |
Materialressourcen zu bauen hatte, ist geradezu prototypisch: Haesler | |
verwandte die Konstruktionen ausgedienter Trockenschuppen einer | |
stillgelegten Ziegelei, ließ sie umsetzen und zu Wohnhäusern ausbauen – | |
„schnell, billig und ansprechend“, so Haeslers Einschätzung. | |
Die Kleinstwohnsiedlung „Blumenlägerfeld“ war dann die Antwort auf die | |
bedrückende Wohnungsnot im Deutschen Reich – 1927 waren über eine Million | |
Haushalte ohne eigenes Quartier – und ist die wohl stringenteste Anlage | |
Haeslers. Zwei je gut 220 Meter lange parallele Wohnzeilen wurden in | |
Stahlskelettbauweise errichtet, eine Konstruktion, die Haesler zuvor in | |
einer Siedlung in Kassel erprobt hatte und in Celle optimierte. | |
Die Orientierung der Zeilen ermöglichte die konsequente Ost-West-Besonnung | |
der Innenräume. Die verbindende nördliche Querzeile aus sieben | |
Reihenhäusern, der sogenannte „Lungenflügel“, war Tuberkulose-gefährdeten | |
Familien vorbehalten. Ihre Wohn- und Schlafräume orientierten sich nach | |
Süden, mit vorgelagerter Sonnenterrasse sowie Balkon im Obergeschoss. Die | |
umschlossene Grundstücksfläche enthielt Mietergärten zur Selbstversorgung, | |
Heiz-, Wasch- und Badehaus wurden gemeinsam genutzt. | |
Radikaler und preiswerter ging es damals wohl kaum, die Miete der kleinsten | |
Wohnung betrug 12 Reichsmark. Habitus und winzige Größen dieser Wohnungen | |
für das Existenzminimum wurden allerdings selbst in der Fachwelt polemisch | |
aufgenommen. Es kursierte der Witz, beim Nachttopf sei aus Platzgründen der | |
Henkel nach innen gelegt. | |
Kurt Schwitters schrieb im Hannoverschen Tageblatt im August 1928 über die | |
neue Architektur in Celle, dass „zwischen Hamburg, Frankfurt am Main und | |
Berlin Haesler der einzige Architekt ist, der konsequent den rationellen | |
internationalen Baustil schafft. Das aber bedeutet viel (...). Haesler | |
(...) kommt zu erstaunlich neuen Resultaten.“ | |
Im Jahr 1929 begann die Zusammenarbeit zwischen Haesler und Schwitters. | |
Otto Haesler hatte für seine Wohnungen einfache und preiswerte Möbel | |
entworfen – ein runder Klapptisch, ein Hocker, ein Liegestuhl | |
beispielsweise –, und versuchte, sie über seine Firma „Celler Volks-Möbel… | |
zu vermarkten. | |
Bereits 1924 hatte Kurt Schwitters aus Begeisterung zu Gedrucktem die | |
Werbeagentur „Merz-Werbe Hannover“ ins Leben gerufen. Nun gestaltete er den | |
Verkaufsprospekt für Otto Haesler: eine Loseblatt-Sammlung mit sparsamer | |
Textinformation, großen Abbildungen und reduzierter rot-schwarzer Grafik. | |
Der Umschlag aus lindgrünem Karton erinnerte an eine biedere Umlaufmappe | |
deutscher Bürokratie – hätte der Textrapport des Titelblattes die Vermutung | |
nicht sofort konterkariert. Die Bauausstellung zu Haeslers Bauten in der | |
Karlsruher Dammerstock-Siedlung im selben Jahr manifestierte die Symbiose. | |
Siedlungsstruktur und Bauformen waren maßgeblich von Haesler geprägt, | |
Drucksachen, Beschilderungen und Katalog von Schwitters in kongenialer | |
Klarheit empfunden. | |
Das Jahr 1933 bedeutete das Ende beider Schaffen. Schwitters emigrierte, | |
erst nach Norwegen, dann nach England, wo er 1948 verstarb. Haesler zog | |
sich nach Schleswig-Holstein zurück und begann nach 1945 seine zweite | |
Architektenkarriere in der DDR, verstarb dort 1962, hochgeehrt. Kurt | |
Schwitters Werk ist kunsthistorisch gesichert, Otto Haeslers Nachlass in | |
Celle dagegen ist gefährdet. | |
3 Apr 2013 | |
## AUTOREN | |
Bettina Maria Brosowsky | |
## TAGS | |
Moderne Kunst | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Aufbruch in die Kunst-Moderne: Das wunderbare Revonnah | |
Als Hannover Avantgarde-Heimat war: Das Sprengel Museum macht sich an eine | |
so umfassende wie gelungene Aufarbeitung. |