| # taz.de -- Kolumne Lustobjekte: Zu Hause bei den Vollkornärschen | |
| > Vor fünfzehn Jahren war Öko nicht schick, sondern ein Schimpfwort. Und | |
| > alles was angesagt war, verboten – Levi's zum Beispiel. Eine | |
| > Abschiedskolumne. | |
| Bild: Die Autorin in jungen Jahren – ohne Levi's-Jeans, aber dafür mit fesch… | |
| Nora wohnte zwanzig Sekunden von uns entfernt (wenn man rannte und kein | |
| Auto kam, wir hatten die Zeit gestoppt). Ich war unglaublich gern bei ihr, | |
| denn dort war alles ganz anders als in meiner Familie. Schon der Geruch in | |
| der Wohnung unterschied sich elementar von dem in unserer. Bei ihr roch es | |
| nach Weichspüler, Tupperware und Gummibärchen. Bei uns roch es nach Öko. | |
| Zweimal im Jahr wurde mir die Kluft zwischen uns besonders schmerzlich | |
| bewusst. Immer dann, wenn der neue Otto-Katalog erschien. Wie Monopoly | |
| brachte er die ganze Familie zusammen. Oma, Opa, Vater, Mutter, Kind: Otto | |
| fanden alle gut. | |
| Nur meine Eltern nicht. Sie weigerten sich, einem Unternehmen Geld in den | |
| Rachen zu werfen, das Arbeiter ausbeutet (Mittelamerika! China! | |
| Indonesien!), von denen manche sogar Kinder sind (Indien!), außerdem stünde | |
| die schlechte Qualität der Kleider in keinem Verhältnis zu den überteuerten | |
| Preisen. Und chemikalienverseucht sei das ganze Sortiment sowieso. | |
| Blablabla. „Wir sind halt keine Otto-Normalverbraucher“, sagte meine Mutter | |
| jedes Mal. | |
| Nora hingegen war glückliches Mitglied einer Otto-Familie. Sobald der neue | |
| Katalog da war, setzten wir uns mit einer Tüte Chips aufs Sofa und | |
| blätterten stundenlang durch die nach billiger Druckerschwärze riechenden | |
| Seiten. Immer wenn uns etwas besonders gut gefiel, klebten wir Post-its auf | |
| die Seiten (gelb für Nora, rosa für mich) und stellten uns vor, dass all | |
| diese wunderbaren Kleider einmal uns gehören würden, spätestens wenn wir | |
| erwachsen wären und Unmengen an Geld verdienten. Also ungefähr tausend Mark | |
| im Monat. | |
| Noch besser als die Anziehsachen waren die Seiten ganz hinten, zwischen | |
| Elektrogeräten und Haushaltswaren. Dagegen war die Bravo ein Witz. Was es | |
| dort alles gab! Bilder von Frauen, die statt einer Unterhose eine | |
| Perlenkette trugen. Love-Rings. Spanische Liebestropfen. Nippel-Hütchen mit | |
| Fransenquasten. Dildos. Gleitmitt… Nippel-Hütchen mit Fransenquasten? Was | |
| zum Teufel?! Wir ahnten, dass wir noch viel lernen mussten. | |
| ## Hass Natur | |
| Der Otto-Katalog der Ökos hieß Hess Natur. Die einzigen Anspielungen auf | |
| Sex waren Salatsäcke aus handgepflückter Baumwolle und mundgeblasene | |
| Christbaumkugeln. Heimlich nannte ich ihn Hass Natur. Meine Mutter | |
| schwärmte von den „super Basics“. | |
| „Basics“, das hörte sich an wie „Levi’s“. Doch das „Basic“ entpu… | |
| nur als einfarbiges, formloses T-Shirt. Aus Bouretteseide, wie meine Mutter | |
| schnell hinzufügte. Aber wen interessierte schon hervorragende Qualität? Es | |
| waren die Neunziger! Da musste ein Kleidungsstück nur eine von drei | |
| Bedingungen erfüllen: 1. neonfarben. 2. 100 Prozent Polyester. 3. Ein gut | |
| sichtbares Label. Das Bouretteseide-Basic hatte nichts davon. | |
| Dabei musste ich meine Eltern dringend davon überzeugen, dass ich | |
| rechtzeitig zur Schuldisco eine Levi’s-Jeans brauchte. „HUNDERTZWANZIG Mark | |
| für eine Jeans?“ Meine Mutter ließ die Gabel sinken. „Du könntest dein | |
| Taschengeld sparen und dir selbst eine kaufen“, sagte mein Vater. „So in | |
| einem Jahr.“ Sie kauten und grinsten. Vollkornärsche. Ein Jahr! Das sind, | |
| in Teenagerzeit gerechnet, mindestens fünf. „Wenn mal irgendjemand auf die | |
| Idee kommt, sich ein Loch in die Hose zu schneiden und den Arsch blau | |
| anzumalen, laufen am nächsten Tag garantiert alle so rum“, sagte meine | |
| Mutter. „Das heißt noch lange nicht, dass es deshalb cool ist.“ Gott, wenn | |
| es so einfach gewesen wäre, hätte ich mir den Hintern in Regenbogenfarben | |
| bepinselt. | |
| ## Weiße T-Shirts im Schwarzlicht | |
| Am Tag der Schuldisco sahen die Jungs entweder aus, als seien sie gerade | |
| auf dem Weg zur Loveparade oder ins HipHop-Tonstudio. Die Mädchen trugen | |
| Levi’s und tief ausgeschnittene Oberteile. Ich trug eine Jeans (No Name) | |
| und ein sackartiges T-Shirt (Hess Natur). Aber immerhin war es weiß. Das | |
| war wichtig wegen des Schwarzlichts. So konnte Jakob, der mit einer Cola am | |
| Rand der Tanzfläche stand, meine ausgetüftelte Choreografie bewundern. | |
| Als die ersten Takte von „Wish You Were Here“ aus den Lautsprechern | |
| wummerten, sah ich aus den Augenwinkeln, wie Jakob sich in meine Richtung | |
| bewegte. Kurz bevor er mich erreicht hatte, machte er eine Drehung nach | |
| links und forderte Ellen zum Tanzen auf. Autsch. Ich rutschte an der Wand | |
| entlang auf den Boden. Ein paar Minuten hatte ich schwerste Depressionen, | |
| dann stolperte jemand über meine Füße. | |
| „Huch“, sagte Anna. „Ich hatte dich gar nicht gesehen.“ – „Da bist … | |
| die Einzige“, sagte ich und deutete mit dem Kopf auf das eng umschlungene | |
| Paar. Anna hockte sich neben mich und zupfte an meinem T-Shirt. „Wolltest | |
| du nicht was Weißes anziehen?“ – „Hab ich doch.“ – „Du leuchtest a… | |
| nicht.“ Ach so? Unverschämtheit! | |
| Zu Hause rannte ich die Treppe rauf, wo meine Mutter im Bad stand und Zähne | |
| putzte. Ich klärte sie darüber auf, dass ihr Ökofimmel meine erste | |
| potenzielle Beziehung bereits im Keim erstickt hatte. „Oh.“ Sie war | |
| irritiert. Was T-Shirts mittlerweile alles leisten mussten. „Wetten, dass | |
| diese doofe Bouretteseide schuld ist?“ War sie nicht. Wie sich nach | |
| ausführlicher Recherche (mein Vater kam ins Bad) herausstellte, lag es an | |
| den Waschnüssen, die offenbar genauso naturtrüb waren wie der Apfelsaft in | |
| unserem Kühlschrank. Und das Hirn meiner Eltern. | |
| Als ich später auf meinem kratzigen Kopfkissen lag, erwog ich kurz, noch | |
| einmal aufzustehen und meine Mutter zu überreden, endlich mal Weichspüler | |
| zu kaufen, so wie es alle anderen normalen Menschen auch tun. Dann fiel mir | |
| ein, was Nora einmal gesagt hatte: Bei ihnen zu Hause sei zwar alles | |
| kuschelweich, aber sich mit unseren Handtüchern abzutrocknen, sei besser | |
| als jede Massage. | |
| 13 Apr 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Franziska Seyboldt | |
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