# taz.de -- Im englischen Rochdale: Besuch im kooperativen Herzen | |
> Hier wurden die ersten Kooperativen gegründet. Sie sollten während der | |
> Industrialisierung Menschen vor Armut und unsicherer Arbeit schützen. | |
Bild: Türschild in der Kooperativen Stadt Rochdale. | |
Wir nähern uns einem kleinen zweistöckigen roten Backsteinhaus. „Hier sind | |
wir am Schrein!“, sagt Tim Nuttal, 60, Rochdaler Chef für Tourismus. Er | |
erzählt, wie Japaner ihn baten, einen Teil der Abdeckplane, die das | |
Pioneer’s Museum während dessen Restaurierung bedeckten, zu öffnen, damit | |
sie den roten Backstein berühren konnten. Mit großen Buchstaben ist auf | |
dessen Außenwand „Delicious Co-op Tea“, mit einer Teetasse, gemalt. Hier | |
stand einst der erste kooperative Laden der Welt. | |
Gleich am Eingang steht eine Rekonstruktion, wie es 1844 aussah: Ein Brett | |
auf zwei Fässern war die improvisierte Verkaufstheke. Obendrauf ein | |
Riesenstück Butter, ein Zuckerhut, Säcke mit Mehl und Haferflocken, einige | |
Kerzen und eine Waage. Viele mussten damals mit verpfuschtem Essen leben. | |
Dazu kam, dass beim Wiegen oft mit falschen Gewichten betrogen wurde. Dem | |
wollte die Kooperative ein Ende bereiten. Im weiteren Teil des Museums wird | |
die Geschichte der 28 „Rochdaler gleichberechtigten Pioniere“ erzählt. | |
## Das ehemalige Zentrum der Wollweberei | |
Rochdale liegt am Fluss Roch und in der Nähe von vielen Bächen, die aus den | |
Bergen der Pennines kommen. Das fließende Wasser konnte Wasserräder | |
antreiben. So wurde Rochdale Zentrum der Wollweberei. Als gegen 1800 die | |
Dampfmaschinenwerke kamen, wurde die Produktion auf Baumwolle umgestellt. | |
Wir besuchen ein Maschinenhaus. In ihm verbirgt sich die größte noch | |
funktionierende Dampfmaschine. Einst trieb sie 120.000 Spindeln an. Nebenan | |
steht das Gebäude von Sun Chemicals, Rochdales heutiger industrieller | |
Nachlass. Hier werden heute 95 Prozent der britischen Zeitungstinte | |
hergestellt. | |
Wir fahren weiter und erreichen den Stausee Hollingworth, der einst zur | |
Bewässerung des örtlichen Kanals gebaut wurde. Für Arbeiter im 19. | |
Jahrhundert war diese Idylle der einzige erreichbare Ort der Erholung. Mit | |
dem Auto fahren wir über den Damm eine kleine gewundene Straße hoch, hinein | |
in eine begraste hüglige Landschaft mit kleinen Häusern aus dem 18. | |
Jahrhundert. | |
Am Ende des Weges steht ein zweistöckiges graues Backsteinhaus mit | |
Wasserrad an einem Bach. Das Haus hat schmale, länglich und eng | |
aneinandergereihte Fenster in den oberen Stockwerken, ein typisches | |
Weberhaus für mehrere Familien aus der Zeit kurz vor der Industriellen | |
Revolution. Die Arbeit wurde oben verrichtet, die Familien lebten unten. | |
Doch mit der Industrialisierung mussten diese Weber in Großfabriken wie | |
Ellenroad schuften. | |
## Die kooperativen Grundprinzipien | |
Es war die Unzufriedenheit mit den neuen Arbeitsbedingungen, die zu | |
zahlreichen Aufständen und Protestbündnissen in Rochdale und im | |
benachbarten Manchester führten. Unter den Gruppierungen fanden sich die | |
Chartistenbewegung, religiöse Vereinigungen wie auch erste kurzlebige | |
Versuche kooperativer Gemeinschaften. Der erste kooperative Kongress | |
beschloss 1831, dass „Kooperation Menschen vor Armut, Kriminalität und | |
schlecht bezahlter und unsicherer Arbeit“ schützen solle. | |
Dreizehn Jahre später entstand die Rochdaler Kooperative mit definierten | |
Grundprinzipien, bekannt als Law First. Hier sollte nicht nur qualitative | |
Ware verkauft werden, sondern im Mittelpunkt sollte die Erziehung stehen. | |
Vom Erwerb sollten alle Mitglieder profitieren. Das Modell war ausgereift, | |
es war erfolgreich und breitete sich rasch aus. | |
Aus den anfänglichen 28 Mitgliedern waren bereits 1860 3.450 geworden, | |
darunter viele Frauen. Drei Jahre später wurde in Manchester die The | |
Co-operative Wholsale Society (CWS) gegründet. Heute heißt sie The | |
Co-operative Group, mit kooperativen Banken, Versicherungen, Supermärkten | |
und dem größten nationalen Bestattungsdienst. | |
## Erlösung der industriellen Klassen | |
Auf dem Rückweg von Hollingworth machen wir beim Harehill-Park Rast. In | |
dessen Mitte steht ein gotisch-klassischer, aus rosa und grauem Granit | |
geschlagener Trinkbrunnen, gespendet von der Textilfabrik CWS, die auch | |
heute noch, wie viele andere Fabrikgebäude in der Region, verlassen am | |
Rande des Parks steht. | |
Auf dem Brunnen ist der Spruch des frühen Mitglieds der Rochdaler Koop, J. | |
T. W. Michell, eingemeißelt: „Kooperation ist die größte, nobelste Kraft in | |
der Erlösung der industriellen Klassen.“ Im Park treffen wir den | |
71-jährigen Malcolm McCormich. Er arbeitete in den Textilfabriken. „Ganze | |
Straßenabschnitte waren hier einst Kooperativen, die im Gegensatz zu | |
heutigen Geschäften den Menschen halfen“, erinnert er sich. | |
Wer durch die Straßen Rochdales fährt, kann sie überall entdecken. Sie | |
hatten im Obergeschoss Leseräume, die der Bildung dienten. Heute dienen die | |
ehemaligen kooperativen Häuser beispielsweise als Wettbüro. Viele Menschen | |
aus anderen Regionen zogen einst nach Rochdale. Im 19. Jahrhundert waren es | |
vor allen Iren, später kamen Polen, Ukrainer sowie schließlich Migranten | |
aus Pakistan und Bangladesch. | |
## Die kooperative Idee lebt | |
Wir übernachten in der Vier-Sterne-Pension Moss Lodge, die einst die | |
Residenz eines Textilfabrikbesitzers war. Die heutige Besitzerin hat das | |
Haus modern-viktorianisch restauriert. Am nächsten Morgen besuchen wir die | |
Gräber der Rochdaler Pioniere. Eine Attraktion für internationale Besucher. | |
Nicht weit vom Friedhof liegt ein altes Einkaufszentrum mit Autoparkplatz. | |
Die Apotheke und der Supermarkt dort gehören zur Co-operative Group. Ich | |
frage die Supermarktangestellte, Jane Flynn, was sie von ihrer Arbeit hier | |
hält. Sie sagt, dass sie stolz sei, hier zu arbeiten, denn sie käme selbst, | |
genau wie die kooperative Idee, aus Rochdale. | |
In einem modernen Bürokomplex hat die nationale Gesundheitsabteilung der | |
Co-op-Gruppe ihren Sitz. So bleibt sie der Pionierstadt verbunden. Vor | |
kurzem durften Rochdaler Sozialmieter wählen, ob sie ihre Wohnungen in eine | |
Kooperative verwandeln wollten. Sie stimmten mit Ja. Damit sind Rochdales | |
Sozialwohnungen die monumentalsten kooperativen Monumente der Stadt, denn | |
zu ihnen gehören riesige 16-stöckige Häuser aus den 60er Jahren. Auch die | |
Bahnhofsuhr ist ein ehemaliges Geschenk der Co-operative Group. Sie wird | |
auch weiterhin ticken. | |
4 May 2013 | |
## AUTOREN | |
Daniel Zylbersztajn | |
Daniel Zylberstajn | |
## TAGS | |
England | |
Großbritannien | |
Pakistan | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Nahostkonflikt in Großbritannien: Die Gaza-Nachwahl | |
Im nordenglischen Rochdale wird ein neuer Parlamentsabgeordneter gewählt. | |
Linkspopulist George Galloway punktet mit einem Anti-Israel-Wahlkampf. | |
Tourismuseinbruch in Pakistan: Pakistans Lieblingstouristen | |
Pakistan ist vielen Touristen zu gefährlich: 2015 kamen nur 5.634 Menschen | |
ins Land. Zwei Deutsche trauten sich und werden als Helden gefeiert. |