| # taz.de -- Neues Buch mit Foucaults Vorlesungen: Denken an einer Scharnierstel… | |
| > „Über den Willen zum Wissen“ versammelt Vorlesungen aus den Jahren | |
| > 1970/71. Sie ermöglichen es, Michel Foucaults Denkprozess mitzuerleben. | |
| Bild: Michel Foucault. | |
| Von Foucault gibt es zwei Bücher, die die „Wissensgier“, wie Nietzsche | |
| einst sagte, im Titel führen: „Der Wille zum Wissen“ aus dem Jahre 1976 und | |
| nun – aus dem Nachlass – ein Werk mit dem Titel „Über den Willen zum | |
| Wissen“. „Der Wille zum Wissen“, ein längst zum Klassiker gewordenes Wer… | |
| hatte seinerzeit die verbreitete These bestritten, dass die bürgerliche | |
| Gesellschaft „sexuell repressiv“ sei und systematisch Triebbefriedigung | |
| durch nützliche Arbeitsanstrengung ersetzen möchte. | |
| Es gelte eher das Gegenteil: ein kapitalismuskonformes Machtdisposititiv, | |
| das von innen her Macht über unsere Körper ausüben möchte, generiere | |
| Diskurse, die zur unablässigen Beschäftigung mit den eigenen Lüsten und zu | |
| deren polymorphen Vervielfältigung anstachelten. | |
| Das nun herausgekommene, fast titelgleiche Buch „Über den Willen zum | |
| Wissen“ publiziert die Vorlesungsfolge, die Foucault 1970/1971 am | |
| prestigeträchtigen Collège de France gehalten hatte. Der Stil ist spröder, | |
| als man es von dem brillanten Schriftsteller gewohnt ist: Der Herausgeber | |
| musste das Buch aus oft nur anformulierten Vorbereitungsnotizen | |
| zusammenstoppeln. Aber der Leser hat so die Gelegenheit, den Denkprozess | |
| Foucaults relativ direkt miterleben zu können. | |
| Foucault befand sich damals an einer Scharnierstelle seiner Entwicklung: In | |
| den Vorlesungen nahm der Übergang von der strukturalistischen „Archäologie�… | |
| (die die immanenten wahrheitsbildenden Regeln von Diskursen untersucht) des | |
| „frühen Foucault“ zur „Genealogie“ seiner mittleren Phase Gestalt an. … | |
| zeichnet sich ab, was dann zum Beispiel im „Wissen zum Willen“ entfaltet | |
| wird: dass Diskurse nicht einfach nur Wissen strukturieren, sondern dabei | |
| Machtpraktiken sind. | |
| ## Philosophisches Kündigungsschreiben | |
| Das Buch beginnt mit einer philosophiegeschichtlichen Erörterung, die | |
| eigentlich, zumindest wenn man Philosophie als „Liebe zur Weisheit“ | |
| versteht, so etwas wie ein Kündigungsschreiben an diese Disziplin ist. | |
| Erkenntnis von Wahrheit, so Foucault, werde nicht von Liebe, sondern eher | |
| von Bösartigkeit beflügelt. | |
| Nicht Freiheit eröffnet ihr einen Raum, sondern Gewalt: die aggressive | |
| Unterwerfung der Erfahrungswelt und der spontanen eigenen Reaktionen. Die | |
| Geschichte der Wahrheit hat nichts mit Rationalisierungsfortschritt zu tun, | |
| sondern mit wechselnden Machtpraktiken, die sich ihre Diskurse schaffen. | |
| Im weiteren Verlauf seiner Vorlesungen identifiziert Foucault die Genese | |
| des okzidentalen Wahrheitsdiskurses in sozialen Praktiken, die sich in der | |
| griechischen Gesellschaft des 7. und 6. vorchristlichen Jahrhunderts | |
| herausgebildet haben. Mit diesem Ausscheren zu historischen Studien | |
| bestätigt er einmal mehr, dass er, wie er einmal schön bemerkt hat, ein | |
| Denker sei, der sich „im Krebsgang, nämlich seitwärts bewege“. | |
| Eine soziale Krise, so Foucaults These, habe zu justiz-, verfassungs- und | |
| sozialgeschichtlichen Transformationen und zu einer Reorganisation von | |
| Machtausübung geführt. Dabei habe sich die Konfiguration des Menschen zum | |
| „reinen“ Erkenntnissubjekt und die Auffassung von Wahrheit als Erkenntnis | |
| der Ordnung der Welt herausgebildet. | |
| Es ist unverkennbar, dass Foucault die ältere Auffassung von Wahrheit, wie | |
| er sie in Homers Beschreibungen von Gerichtsprozessen vorfindet, erregender | |
| findet. Wahrheit war für die archaischen Krieger anders als für späteren | |
| zivilisierten Stadtstaatler kein „unter das Joch“ des Beweises gebrachter | |
| konstatierter Tatbestand, sondern ein „Ereignis“, das als strafender Blitz | |
| am Himmel aufleuchten konnte. | |
| ## Die nackte Wahrheit | |
| Indem in der vorplatonischen Welt bei Rechtshändeln noch nicht umsichtig | |
| untersucht, sondern beherzt geschworen wurde, war es das eigene Sein und | |
| nicht der Sachverhalt, dem die Aura des Nacktseins zugeteilt werden kann: | |
| Nicht die Wahrheit wurde durch die neutralen Zeugen „enthüllt“, sondern �… | |
| schutzloser Nacktheit“ setzte der den Schwur wagende Beschuldigte sich dem | |
| Risiko einer Reaktion der Götter aus. | |
| Das Adjektiv „wahr“ sei kein Prädikat, das man auf das Wort „Wahrheit“ | |
| anwenden könne, ist die These, die Foucault in seiner „Morphologie des | |
| Willens zum Wissen“ vertritt. Man könnte freilich nachfragen: Wie verhält | |
| es sich mit dem Wahrheitswert dieser Aussage? Sollte sie die Wahrheit über | |
| die Wahrheit enthalten, dann gäbe es paradoxerweise zumindestens in diesem | |
| Falle so etwas wie eine wahre Wahrheit. | |
| ## ■ Michel Foucault: „Über den Willen zum Wissen. Vorlesungen am Collège | |
| de France 1970/71“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, 394 Seiten, 42,95 Euro | |
| 8 May 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Christof Forderer | |
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