| # taz.de -- Japan: Begegnungen der dritten Art | |
| > Kein Land, sondern ein eigener Planet. Dabei finden die Japaner Ausländer | |
| > mindestens so merkwürdig wie wir sie. | |
| Bild: Schräges, auch bei der Kunstmesse in Tokio. | |
| Ich habe Japanisch studiert und immer wieder für ein paar Monate in Japan | |
| gelebt, unter anderem bei einer Gastfamilie in Fukushima. Sie waren | |
| Tabakbauern. Im Haus von Familie Satô lebte auch die 90-jährige Großmutter. | |
| Sie war von der jahrelangen Arbeit auf den Feldern ganz krumm und stützte | |
| sich mit den Händen immer auf dem Boden ab. Sie lief quasi auf allen | |
| vieren. | |
| Als ich beim Essen auf dem Boden saß, berührte sie unter gemurmelten | |
| Entschuldigungen meine Füße und tastete die Zehen ab. Ich wusste nicht, was | |
| ich sagen sollte. Offenbar fand sie irgendwann, was sie gesucht hatte, | |
| lächelte und sagte, alles sei in Ordnung. Zurück in Tokio erzählte ich | |
| meiner Freundin Megumi davon, die das zwar genauso komisch fand wie ich, | |
| sich aber erinnern konnte, dass man früher geglaubt hatte, Ausländer hätten | |
| nur vier Zehen. | |
| Das kam so: Traditionelle japanische Socken haben eine Extrakammer für den | |
| großen Zeh, damit man sie auch in den Geta, den japanischen Flipflops, | |
| tragen kann. Bei den Socken der „Langnasen“ fehlt diese Extrakammer. | |
| Deswegen dachten Japaner früher, Ausländern fehle der große Zeh. | |
| ## Kein Platz für die Heizung | |
| Willkommen in Japan. Immer wenn ich denke, jetzt habe ich Land und Leute | |
| endlich verstanden, passiert irgendetwas, das mir zeigt: Ich habe keine | |
| Ahnung. So ging es mir auch, als ich mir mit einer Mitbewohnerin eine | |
| winzige Wohnung in Sôka teilte, einem Unistädtchen eine Stunde nördlich von | |
| Tokio. Auf den 30 Quadratmetern war leider kein Platz für eine Heizung | |
| gewesen. Monatelang haben wir in Skiunterwäsche unter drei Decken | |
| geschlafen, bis es Frühling wurde. In Japan baut man für den unerträglich | |
| schwülen Sommer: Alte Häuser stehen auf Stützen, Fenster sind prinzipiell | |
| nicht dicht, überall gibt es Ritzen, durch die kühle Luft strömt. | |
| Natürlich hat jeder Haushalt eine Klimaanlage. Im Sommer haben wir dann | |
| gemerkt, dass wir nicht nur keine Heizung, sondern auch keine Klimaanlage | |
| haben. Das fanden nun unsere japanischen Freunde empörend. Keine | |
| Klimaanlage in Japan zu haben ist so undenkbar, wie in Deutschland keine | |
| Heizung zu haben. | |
| ## Begehrtes Blond | |
| Bei mehr als einer Gelegenheit habe ich mich gefragt, wie Japan zu einer | |
| der führendsten Industrienationen aufsteigen konnte. Beim Waschen zum | |
| Beispiel. Die Waschmaschine in unserem Apartment sah aus wie ein | |
| überdimensionierter Legostein. Man öffnete den Deckel und warf die Wäsche | |
| in eine Art Nudelsieb. Das war die Trommel. Dann musste man kaltes Wasser | |
| vom Hahn direkt in die Trommel laufen lassen, Waschpulver darüberstreuen, | |
| mit dem man besser keinen Hautkontakt haben sollte, und dann die | |
| integrierte Eieruhr auf 15 Minuten stellen. Danach waren meine Jeans fünf | |
| Zentimeter länger. | |
| Japaner finden uns gaijin seltsam. Naseputzen in der Öffentlichkeit ist nur | |
| eine Sache, die sie wirklich ekelig finden. Aber irgendwie sollte man | |
| glauben, dass Japaner fast 150 Jahre nach der Meiji-Restauration an unseren | |
| Anblick gewöhnt sind. In Tokio mag das stimmen. Aber Sôka ist nicht Tokio. | |
| Man fällt als Ausländer auf, vor allem als 1,73 Meter große, blonde | |
| Mitteleuropäerin. Ältere Damen blieben auf der Straße stehen, um meine | |
| „goldenen“ Haare zu streicheln. Dann stand ich da wie ein Golden Retriever | |
| und ließ mir von winzigen japanischen Omis über den Kopf streicheln. Dass | |
| passierte so oft, dass ich mir ernsthaft überlegt hatte, ein Schild um den | |
| Hals zu hängen: „Einmal streicheln 100 Yen“. | |
| Als ich dann zum Friseur gehen wollte, um meine goldenen Haare | |
| abzuschneiden, erschrak der Friseur bei meinem Anblick so sehr, dass er die | |
| Hand vor den Mund hielt und mir seine Assistentin auf Englisch radebrechend | |
| klarmachte, dass dies ein japanischer Friseur sei und da Japaner ganz | |
| besondere, dicke Haare hätten, könne man mich leider nicht bedienen. | |
| ## Viel Geld, wenig Arbeit | |
| Immerhin beschaffte mir mein Exotenstatus einen Nebenjob in einer | |
| japanischen Baufirma mitten in Tokio. Auf dem Oktoberfest der Deutschen | |
| Botschaft verschüttete ich mein Bier aus Versehen auf Herrn Kawaguchi. Der | |
| bat mir daraufhin einen Job an – er suchte jemanden, der Glasbausteine in | |
| Deutschland bestellen und Broschüren übersetzen könne. Vier Monate lang | |
| pendelte ich zweimal die Woche in die Baufirma, wo ich viel Geld für wenig | |
| Arbeit erhielt, was mir bei den hohen Lebenshaltungskosten sehr gelegen | |
| kam. | |
| Dafür nahm ich die Firmenuniform in Kauf, bestehend aus weißer Bluse, | |
| grauem Rock und grauer Weste, in er ich aussah wie eine DDR-Grenzbeamtin. | |
| Das gefiel dem Abteilungsleiter des Overseas Purchase Department. Er war | |
| passionierter Künstler und fertigte den ganzen Tag lang Skizzen seiner | |
| Mitarbeiter an oder googelte Katzenbilder, seine zweite Leidenschaft. Ich | |
| merkte schnell: Allen Mitarbeitern war sehr langweilig, und ich war da, um | |
| sie zu unterhalten. Die Baubranche war am Boden, und es gab schlichtweg | |
| keine Aufträge. Daher wurden kleinste Aufgaben mit viel Eifer und großer | |
| Ernsthaftigkeit angegangen. | |
| Ich bat eine Kollegin um einen Anspitzer. Sie hatte keinen, und binnen | |
| Minuten war die ganze Abteilung auf der Suche. Als ich anbot, im | |
| Schreibwarenladen um die Ecke einen zu kaufen, war die Stimmung im Eimer. | |
| Betretenes Schweigen und die tadelnde Bemerkung meiner Kollegin, dass das | |
| doch nicht ginge. | |
| ## Singende Ampeln | |
| Tokio. Ampeln, die bei Grün „When the Saints go marching in“ spielen, | |
| U-Bahnen, in die behandschuhte Männer immer noch mehr Menschen | |
| hineinquetschen, und Misosuppe mit Lachs-Sashimi zum Frühstück. Die ganze | |
| Stadt scheint einzig und allein der Unterhaltung zu dienen. Überall blinkt | |
| es, flackern Neonreklamen. Mädchen sprechen, als würden sie ausschließlich | |
| Helium atmen. Eine Stadt, die mich oft in den Wahnsinn trieb, die mich aber | |
| auch süchtig machte. | |
| 2011 wollte ich meine Freunde aus Studentenzeiten besuchen. Dann passierte | |
| das Jahrhundert-Erdbeben mit Tsunami und Atom-GAU. Meine Freundin Megumi | |
| hat mittlerweile ein Kind, lebt in Tokio und ist verunsichert: „Unsere | |
| Geigerzähler zeigen hohe Werte, aber die Regierung sagt, alles sei sicher. | |
| Ich weiß nicht, was ich glauben soll.“ | |
| Ich habe versucht, meine Gastfamilie aus Fukushima zu finden. Von der | |
| Bezirksregierung habe ich erfahren, dass es in der Region keine Toten gab, | |
| die Familie aber auch nicht mehr in dem Dorf lebe. Wurden sie evakuiert? | |
| Angeblich hat die Regierung dazu aufgerufen, Obst und Gemüse aus Fukushima | |
| zu kaufen, um die örtlichen Bauern zu unterstützen. Das Schlimmste, was ich | |
| mir vorstelle, ist, dass Familie Satô noch immer auf den Feldern sitzt und | |
| Tabakblätter rollt. | |
| Japan. Ich werde das Land wohl wirklich nie verstehen. | |
| 25 May 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Simone Lankhorst | |
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