| # taz.de -- Premiere Staatsoper Berlin: Tristan ohne Wagner | |
| > Katie Mitchell hat für die Staatsoper Berlin „Le Vin herbé“ von Frank | |
| > Martin neu inszeniert. Es ist postdramatisches Theater lebender Bilder | |
| > mit Gesang. | |
| Bild: Szene aus „Le vin herbé“ mit Stephanie Atanasov, Anna Prohaska, Kath… | |
| Es ist dunkel. Irgendein Krieg hat das Haus zerstört. Wahrscheinlich war es | |
| ein Theater. Ein rußgeschwärztes Stuckportal vorne, hinten hängen verbeulte | |
| Eisenleitern am Mauerwerk aus Backstein. Ein Feuerwehrschlauch ist zu | |
| sehen, immer noch aufgerollt und bereit für den Notfall eines zivilen | |
| Brandes. In der Ecke stehen auf zerbrochenen Beinen die Reste eines | |
| Flügels. | |
| Ein Feuer in einem Blechkübel wärmt sechs Frauen und sechs Männer. Sie | |
| reihen sich auf an der Rampe in tadellosen Sonntagskleidern und mit Hüten | |
| aus der Mitte des letzten Jahrhunderts. Daher muss es wohl der Zweite | |
| Weltkrieg gewesen sein, der diese Bühne angerichtet hat. | |
| Lizzie Clachan hat sie für Katie Mitchell gebaut, die diesmal auf die | |
| Livevideos verzichtet hat, für die sie berühmt ist. Das ist sehr klug, denn | |
| die paradoxe Distanz simultaner Nahaufnahmen der handelnden Figuren auf | |
| Bildschirmen ist hier im Stück selbst eingebaut. Frank Martin hat es | |
| tatsächlich in der Zeit des Zweiten Weltkriegs geschrieben, der um seine | |
| wohlbehütete Heimatstadt Genf herum getobt hat. Es entstand auf Bitte eines | |
| befreundeten Musikers, der ein neues Stück für sein Vokalensemble von 12 | |
| Solisten brauchte. | |
| 1942 ist es in Zürich uraufgeführt worden. Die Entstehungsgeschichte | |
| erklärt die seltsame Besetzung von zwölf Singstimmen, die nur von sieben | |
| Streichinstrumenten und einem Klavier begleitet werden. Sie hat den 1890 | |
| geborenen Komponisten aber weit darüber hinaus zu einem Werk inspiriert, | |
| von dem er bis zuletzt (er starb 1974 in Holland) sagte, es sei sein erstes | |
| wirklich eigenes gewesen. | |
| ## Wie Romanfiguren über sich selbst erzählen | |
| Das ist es bis heute geblieben. Ein Unikat in jeder Hinsicht, dramaturgisch | |
| ebenso wie musikalisch. Martin übernahm drei Kapitel des 1900 erschienen | |
| Romans „Tristan et Iseut“ von Joseph Bédier, der verschiedene Fassungen der | |
| mittelalterlichen Tristan-Legende in stark stilisierter Prosa nacherzählt. | |
| Die epische Form des Textes erzwang eine epische Konzeption der Musik. | |
| „Le Vin herbé“ enthält keine Rollen im üblichen Sinne, die psychologische | |
| Gestaltung und dramatische Konflikte möglich machen. Alle Figuren – und es | |
| sind einige mehr als bei Wagner – treten nur dann aus dem Ensemble heraus, | |
| wenn sie über sich selbst erzählen in der Art und Weise, in der | |
| Romanfiguren nun mal über ihre Handlungen, Gedanken und Gefühle zu | |
| berichten pflegen. | |
| Weil sie aber nicht sprechen, sondern singen, entsteht daraus ein Stück | |
| Musik, das in faszinierender Weise über fast zwei Stunden Spieldauer hinweg | |
| die Balance hält zwischen Theater und Konzert. Silbe für Silbe deklamieren | |
| Sänger und Sängerinnen ihre Prosa in weit ausholenden, ausdrucksvollen | |
| Melodien, getragen von ebenso einfachen wie raffiniert mit modalen | |
| Harmonien und Chromatik spielenden Instrumentalsätzen. | |
| ## Keine Simulation | |
| Ein durch und durch originelles Meisterwerk der Moderne, das wahrscheinlich | |
| nur deswegen so selten auf der Bühne zu sehen ist, weil Martin selbst große | |
| Zweifel hatte, ob es sich dafür eigne. Er hatte es „weltliches Oratorium | |
| genannt. Katie Mitchell führt überzeugend vor, warum es das nicht ist. Es | |
| ist vielmehr so absolutes Theater wie es absolute Musik ist, nur eben | |
| postdramatisches Theater – so wie die Musik postwagnerianisch ist. | |
| Die sechs Frauen und sechs Männer auf der Bühne spielen keine Rollen. Sie | |
| inszenieren Bilder. Wir sehen ihnen dabei zu. Das allein ist das Theater, | |
| keine Einfühlung, keine Simulation. Stumm breitet einer der Männer ein weiß | |
| gewaschenes Tischtuch auf einem Tisch aus. „Alt 5 | Iseut mère“ setzt sich | |
| daran, dann auch „Sopran 3 | Branghien“. Der Liebestrank wird gebraut, und | |
| so geht es immer weiter den ganzen Roman hindurch, bis am Ende „Tenor 2 | | |
| Tristan“ und „Sopran 2 | Iseut blonde“ tot sind und die zwölf Stimmen zum | |
| „Chor“ vereint den geradezu brechtischen Epilog anstimmen, diese Geschichte | |
| möge Trost spenden gegen „Verdruss und „Qual der Liebe“. Das tut sie sog… | |
| Katie Mitchells live inszenierte Bilder erzeugen gelassene Ruhe. Manchmal | |
| sind sie surreal, oder ironisch verspielt, etwa wenn einer der Männer mit | |
| einem Brett wedelt, damit der Lufthauch Isoldes Haar auf der Schifffahrt in | |
| die Bretagne zum Schwingen bringt. Oft stellen sie Gruppenfotos aus einem | |
| Familienalbum nach, sogar der Geschlechtsakt kann offen gezeigt werden: | |
| „Tenor 2“ und „Sopran 2“ bringen sich dazu in Unterwäsche sitzend in | |
| Stellung. Die anderen schauen zu – sie haben ja auch das Bett aufgebaut. | |
| Im Orchestergraben davor hat Franck Ollu ein leichtes Spiel. Er darf | |
| Mitglieder der Staatskapelle dirigieren, die diesen Martin so edel und fein | |
| geschliffen klingen lassen wie ein Schweizer Uhrwerk. Im Ensemble oben | |
| singen unter anderen Anna Prohaska und Katharina Kammerloher. Das ist dann | |
| eben der Berliner Luxus. Die eine soll bei der Premiere erkältet gewesen | |
| sein. Aber davon war nichts zu hören. | |
| 28 May 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Niklaus Hablützel | |
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| Staatsoper Berlin | |
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| Neue Musik | |
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