| # taz.de -- Stadtführungen: „Es geht darum, mal genau hinzusehen“ | |
| > Um die Erkundung des „Roten Weddings“ ging es bei der Gründung von | |
| > StattReisen vor 30 Jahren. Im Unterschied zum gängigen Touristenprogramm | |
| > gehe man mehr in den Alltag der Stadt hinein, sagt Geschäftsführer Jörg | |
| > Zintgraf. Und zwar zu Fuß. | |
| Bild: Viele Touristen wollen andere als die üblichen Orte sehen. | |
| taz: Herr Zintgraf, wie viele verschiedene Bedeutungen hat das „Statt“ im | |
| Namen Ihrer Firma? | |
| Jörg Zintgraf: Mindestens drei. Also zum einen: Statt in die weite Welt zu | |
| reisen, kann man auch die eigene Stadt erkunden. Berlin hat an unbekannten | |
| Ecken interessante Stellen, anhand deren man die Geschichte und auch die | |
| Brüche erfahren kann. Das können alte Straßenschilder, Wohnhäuser oder ein | |
| Fabrikgebäude sein. Im „Statt“ steht eben auch eine kritische Komponente, | |
| nämlich die, nicht das Landläufige zu zeigen, sondern unter die Oberfläche | |
| zu gucken, differenziert zu schauen. Und schließlich: Statt mit dem Bus | |
| durch die Stadt zu fahren, gehen wir zu Fuß. | |
| Was ist daran effektiver? | |
| Es geht uns ja eben darum, mal genau hinzusehen, auch auf scheinbar | |
| Unbedeutendes zu achten. Bewusst durch die Stadt zu laufen. Der Gedanke von | |
| Nachhaltigkeit und Entschleunigung ist da durchaus mit drin. | |
| Sind manche Kunden enttäuscht, weil die große Sightseeing-Tour ausbleibt? | |
| Nein. Diejenigen, die unser Konzept noch nicht kennen, sind meistens nach | |
| kurzer Zeit davon überzeugt. | |
| Wie ist StattReisen damals bei der Gründung vor 30 Jahren angenommen | |
| worden? | |
| Die Gründer von StattReisen sind kritisch bis ablehnend beäugt worden. Die | |
| wollten ja damals den „Roten Wedding“ wieder erkunden, und vor dem | |
| Hintergrund der Städtebaupolitik – einer radikalen Abrisspolitik – war man | |
| nicht so erfreut über diese Leute, die sich das mal alles genauer | |
| angeschaut haben. Von Anfang an waren wir die Kritiker, die Alternativen. | |
| Was irgendwie auch stimmt, im Sinne einer Auseinandersetzung mit dem, was | |
| in der Stadt stattfindet. Dieser Nimbus ist teilweise bis heute geblieben. | |
| Sie sprechen von Nachhaltigkeit und Sozialverträglichkeit Ihrer Führungen. | |
| Was meinen Sie damit? | |
| Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel: In Prenzlauer Berg etwa, da sind wir schon | |
| recht früh in den 90ern hingegangen, weil die Entwicklung des Stadtteils so | |
| spannend war. Dann kamen auch andere Reiseveranstalter. Oft wird aber nicht | |
| mehr auf die Bedürfnisse der Bewohner geachtet. Da haben wir eine kritische | |
| Position zu: Toll ist, wenn viele Besucher in die Stadt kommen. | |
| Problematisch wird es dann, wenn die Stadt nur noch Kulisse für Touristen | |
| ist und die Bewohner dann die Statisten sind. Uns ist es wichtig, in | |
| Kontakt mit den Leuten zu bleiben. | |
| Denken Sie, Mitte ist heute nur noch Kulisse? | |
| Wenn wir mit Mitte das historische Zentrum meinen, ist es dort nicht so | |
| problematisch. Da ballt sich zwar alles an Touristen, aber da geht man | |
| nicht der Bevölkerung auf den Keks. Das findet eher in den Kiezen statt. | |
| Prenzlauer Berg, Kreuzberg, Friedrichshain. Da muss man gucken, wie man | |
| damit umgeht. Ehemaligen Wohnraum als Appartements zu vermieten sehen wir | |
| als problematisch an, weil damit ein Verdrängungsprozess einhergeht. Und | |
| wir gucken, inwieweit wir mitverantwortlich sind. Wenn wir irgendwo | |
| reingehen, wollen wir das mit den Berlinern gemeinsam machen. | |
| In gewisser Weise verstehen Sie also das Touristen-Bashing? | |
| Wir malen nicht schwarz-weiß. Der Tourismus bringt Geld in die Stadt. Die | |
| Frage ist nur, wo fließt es lang, wer hat was davon – und wo profitieren | |
| die Berliner auch davon. Daher mögen wir es gerne, wenn Berliner bei | |
| unseren Touren dabei sind. Im Moment ist es bei unseren Rundgängen etwa | |
| fifty-fifty zwischen Einheimischen und Auswärtigen. Wir wollen, dass beide | |
| Gruppen miteinander diskutieren. | |
| Gibt es da auch mal Zoff? | |
| Nein, eigentlich nicht. Konflikte haben wir selten. Unterschiedliche | |
| Meinungen sicher, aber das soll ja auch so sein. Das ist uns wichtig, dass | |
| verschiedene Positionen gleichberechtigt nebeneinanderstehen. | |
| Was wird diskutiert? | |
| Mit dem Thema Gentrifizierung haben wir gerade ein sehr heißes Thema. | |
| Gibt es bei StattReisen ein spezielles Angebot, das die | |
| Verdrängungsprozesse beleuchtet? | |
| Nein, das eben nicht. Wir haben mit monothematischen Touren schlechte | |
| Erfahrungen gemacht. Wir sprechen es dort an, wo es sich als Thema | |
| aufdrängt. | |
| Was unterscheidet Sie noch von den gängigen Touristenprogrammen? | |
| Ich denke, wir gehen mehr in den Alltag rein, und der spielt sich nicht | |
| Unter den Linden oder am Potsdamer Platz ab. Kiezspaziergänge etwa sind | |
| zentraler Bestandteil unseres Angebots, ob in Marzahn oder Kreuzberg. | |
| Seit wann gingen die StattReisen-Touren über den eigenen Kiez, den Wedding, | |
| hinaus? | |
| Das passierte sehr schnell nach der Gründung. Wir haben in den 80ern den | |
| Rundgang „Grenzgänge – grenzenlos“ entwickelt, den wir auch heute noch im | |
| Programm haben. Nur funktioniert der heute anders. Damals ging er direkt an | |
| der Mauer entlang und thematisierte 300 Jahre Stadtgeschichte, weit bis | |
| nach Preußen zurück. Als die Mauer gefallen war, änderte sich das Konzept. | |
| Interessant war natürlich von dem Zeitpunkt an zu schauen, wie der | |
| Vereinigungsprozess vorangeht. Heute ist „Grenzgänge – grenzenlos“ eine | |
| Führung, bei der wir mit Audioguides arbeiten und Tondokumente einspielen, | |
| wie etwa die Presslufthämmer, die am Brandenburger Tor eingesetzt wurden, | |
| um die Mauer zu bauen. | |
| Ist Ihr Unternehmen sehr expandiert nach der Wende? | |
| Wir haben enormen Zulauf bekommen. Der Fall der Mauer war für unsere eigene | |
| Entwicklung ein sehr einschneidendes Ereignis. Plötzlich lag uns das | |
| historische Zentrum im Ostteil der Stadt zu Füßen, das heißt, wir konnten | |
| auch dort Führungen machen. Zuvor haben wir das zum Teil undercovermäßig | |
| gemacht, mit Schulklassen in den Osten zu gehen. Die bestehenden Kontakte | |
| haben wir nach der Wende genutzt. Nun wurden wir ein Ost-West-Unternehmen | |
| mit Mitarbeitern aus dem Osten und dem Westen. | |
| Wie gewichtig ist die Rolle der zwei Diktaturen, die Berlin erlebt hat, in | |
| Ihren Touren? | |
| Sehr gewichtig. Wir haben etwa einen Rundgang durchs Olympiastadion dabei | |
| oder „Faschismus – Ermächtigung einer Stadt“. Im Sinne unseres Konzepts | |
| soll dabei aber auch immer Sozial- und Alltagsgeschichte erzählt werden. | |
| Gerade in diesem Jahr wird ja an das Jahr 1933 erinnert, das greifen wir | |
| natürlich auch auf. Berlin lässt sich nicht ohne diese einschneidenden | |
| Epochen verstehen. | |
| Gibt es spezifische kulturgeschichtliche Rundgänge? | |
| Literarische Spaziergänge sind ein weiterer wichtiger Zweig bei uns. Das | |
| fing mal an mit der Führung „Mit Franz Biberkopf durch den wilden Osten“. | |
| Diese Touren funktionieren so, dass wir zum Beispiel an die | |
| Romanschauplätze gehen. Wenn man etwa schaut, wie Döblin den Alexanderplatz | |
| dargestellt hat, dann ging es uns hier auch um das Nichtsichtbare. Neben | |
| dem, was wir sahen, achteten wir auch auf den Wind oder die Geräusche. | |
| Die Sinne spielen bei Ihren Führungen eine große Rolle? | |
| Stadtführungen sind etwas sehr Sinnliches. Das macht die Qualität einer | |
| Stadtführung aus. Sonst kann man auch mit einem Buch durch die Stadt gehen. | |
| Eine zu 100 Prozent vorgeplante Tour gibt es nicht? | |
| Es gibt schon vorgeplante Touren. Die Dramaturgie steht fest. Aber dann | |
| kommt die Persönlichkeit des Rundgangleiters. Jeder von ihnen hat seine | |
| unterschiedlichen Wahrnehmungen und stellt andere Aspekte in den | |
| Vordergrund. Und dann kommen die Interessen der Gruppe dazu. So kann es | |
| schon sein, dass man das Konzept durchbricht und dass der Rundgang ganz | |
| anders wird als zunächst gedacht. | |
| 29 May 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Jens Uthoff | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Klimawandel | |
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